Tichys Einblick
Kein Raum für Schönheit

Von der „Coolness“ Neuköllns zur Faszination der Verwahrlosung

Neukölln, ein "cooler neighbourhood"? Wie konnte es dazu kommen, dass solche völlig lächerlichen Werturteile nicht mit Gelächter qualifiziert werden? Es fehlt an Menschen, die in ihrem Alltag über bloße Effizienz hinaus auch der Schönheit einen Raum zugestehen. Stattdessen werden unsere Städte zu Orten hygienischer und ästhetischer Verwahrlosung.

IMAGO/Ralf Pollack

Das bekannte „Timeout-Magazin“ hat Neukölln in die Liste der „40 coolest neighbourhoods in the world“ aufgenommen. Nun ist „cool“ bekannterweise ein ziemlich dehnbarer Begriff und mag je nach Betrachter von den Elendsvierteln Cubas über Belle Delphines Badewasser und frittierte Marsriegel bis hin zu überteuerten Louis Vuitton-Taschen so ziemlich alles bezeichnen. Aber dennoch: Dass ein ebenso verschandeltes wie abgewracktes und überfremdetes Stadtviertel nun als besonders „cool“ gilt, nur weil einige linksgrüne Hipsters und gelangweilte it-Girls ihre Abenteuerlust und/oder gratismutige Multikulturalität dadurch demonstrieren wollen, dass sie in irgendwelchen Plattenläden überteuerte und zerkratzte Vinyl-Aufnahmen erstehen und am Straßenrand Pfefferminz-Tee trinken, hat schon ein gewisses politisch-korrektes Geschmäckle: „Nachtigall, ick hör Dir Propaganda machen.“

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass solche offensichtlich völlig lächerlichen ästhetischen Werturteile nicht mit homerischem Gelächter qualifiziert werden, sondern im Gegenteil den weltweit anerkannten Mythos von der failed-state Bundeshauptstadt Berlin als einer „hippen“ und „jugendlichen“ Stadt noch befördern, frei nach der Devise: „fair is foul, foul is fair“? Und wieso kann Verfall mit „Coolness“ und „Coolness“ mit besonderer Sehenswürdigkeit verwechselt werden?

Das Streben nach Schönheit war einstmals ein alltäglicher Teil des Lebens und untrennbar von der Verehrung des Wahren und Guten. Bis ins kleinste Dorf herrschte der Wunsch, ohne jeden äußeren Zwang geduldig und über Generationen hinweg Arbeitskraft und Liebe in gewaltige, meist sakrale Bauwerke zu stecken, bei denen der Dienst an der Gottheit, der Wunsch nach einer sinnvollen Betätigung und der Stolz auf die Leistung der eigenen Gemeinschaft untrennbar miteinander verschmolzen. Auch die Eliten verwendeten lange Zeit wahre Vermögen darauf, zahllose Künstler zu fördern und nicht nur die eigenen Paläste zu schmücken, sondern auch ihre Umwelt mit wunderbaren Zeugnissen von Geschmack und Frömmigkeit auszustatten: Wie viele große Familien hinterließen ihren Nachkommen zwar Schuldenberge, der Öffentlichkeit aber unglaubliche Schätze, von denen wir heute noch zehren?

Und was oben galt, galt unten nicht weniger: Wer heute selbst einfachste Bauernhäuser aus der Vergangenheit betrachtet, kann gar nicht anders als zu staunen über die Kraft und Energie, die in die ästhetische Gestaltung und dekorative Ausschmückung alltäglichster Lebensräume investiert wurde.

Und was sehen wir heute? Dass unsere Städte in einer Weise vermüllen, die nicht nur dem Organisationsvermögen der Stadtverwaltungen, sondern auch der Eigeninitiative der Bürger ein bedenkliches Zeugnis ausstellt, wurde schon an anderer Stelle besprochen. Schlimmer noch als die hygienische Verwahrlosung ist die ästhetische, die nicht nur mit Sauberkeit und Logistik zu tun hat: Die Tristesse der Plattenbauten steht derjenigen der mit Blech und Glas bekleideten kantigen Neubauten in nichts nach, die überall und nicht nur in deutschen Städten sprießen und diese mit ihrer Sterilität ersticken; und auch die falsche „Gemütlichkeit“ jener hippen Erdgeschosscafés, wo Bücherwandtapeten, falsche englische Ledersessel und garantiert veganer Kürbiskernkuchen „Authentizität“ suggerieren sollen, kann einen nur mit Grauen erfüllen: Es ist wie die Höllenstrafe jener, die aus den siedenden Kochkesseln flüchten, nur um dann im Eiswasser zu erfrieren.

Kein Wunder, dass selbst Orte wie Neukölln, Moolenbeek oder die Pariser Banlieues immer noch eine Spure „wahrer“ wirken als jene beliebig austauschbaren Ikea-Kulissen spätzivilisatorischer Leere. Eine jede untergehende Kultur suhlt sich daher im Bedürfnis nach Originalität und Exotismus; doch am besten nur dann, wenn man die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten tunlichst vermeiden kann: Schon für die britischen Kolonialtouristen zählte ein Gang durch die Kairoer Altstadt zu den „Must Sees“ der Grand Tour; den Abend genoss man dann aber lieber mit White Tie im sicheren Shepherd‘s beim französischen Sternemenü, wenn man den singenden Eseltreibern auch gelegentlich eine Münze hinunterwarf, um sich ebenso weltmännisch wie großzügig zu fühlen.

Freilich: Der Kolonialtourist ebenso wie der Hafer-Macchiato-Trinker vermögen es, nach vollbrachter Expedition mit dem Dampfer nach England oder eben mit dem Uber in das nächste Motel One weiterzuziehen, um am nächsten Morgen das überteuerte Bio-Frühstück genießen zu können; der entsprechend Besichtigte aber, sofern er durch Gentrifizierung nicht allmählich vertrieben wird, hat wohl über die „Coolness“ seines Viertels eine andere Meinung als ein Reiseführer wie das „Timeout Magazin“: Er vermag es nicht, über den „shabby chic“ seiner Straßencafés, die unschlagbaren Preise lokaler Gemüseläden und Kebab-Stände, die Rasierkunst der Straßenbarbiere oder die malerischen Trachten der Nachbarn seines Wohnblocks in Entzücken auszubrechen, sondern hat sich alltäglich mit Armut, Parallelgesellschaften, Clankriminalität und Verwahrlosung herumzuschlagen, während andere wie globale Heuschrecken dem nächsten Modetrend folgen und nach dem „coolen“ Neukölln halt das „aufregende“ Aulnay-sous-Bois erkunden (und die Strecke von Berlin nach Paris sicherlich nicht im E-Auto zurücklegen).

Denn es gibt wohl kaum etwas, das so sehr im Gegensatz zu echter „Nachhaltigkeit“ steht wie der tatsächliche Lebenswandel jener neuen linksgrünen Elite, die vor allem in Deutschland durch ihre Kontrolle über Medien, Politik, Erziehungswesen und NGOs die faktische Kontrolle über die Republik übernommen hat und nicht nur jeglicher ideologischen Ehrlichkeit, sondern auch jedem Sinn für Ästhetik spottet. Muss man hier nur an die Müllberge erinnern, die eine jede „Friday for Future“-Demo hinterläßt? An jene Bilder, welche die wohlstandsverwahrlosten Kids zeigen, wenn sie nach getanem Kampf gegen den globalen Kapitalismus ihr Taschengeld im nächsten Burger King verballern? An den offensichtlichen Hass auf jede echte Ästhetik, die sich daran zeigt, dass die Klimachaoten alles, nur mit Sicherheit keine sogenannte „zeitgenössische“ Kunst zum Objekt ihrer ikonoklastischen Unternehmungen machen? An die ebenso sinnlosen wie absurden Exklusiv-Weltreisen grüner Minister? Daran, dass noch jeder dieser lächerlichen Bürgersteiggemüsegärten, mit denen man die Nachbarschaft zum gemeinschaftlichen Nahrungsanbau anleiten will, mangels jeglicher Pflege auch seitens ihrer Initiatoren nach spätestens 3 Monaten im Unkraut erstickt?

Dass Kunst im traditionellen Sinne durch ihre technische Reproduzierbarkeit früher oder später anachronistisch werden würde, ist seit über 150 Jahren ein Allgemeinplatz; nicht aber, dass auch der ästhetische Sinn des späteuropäischen Menschen von einer solch erschreckenden Verwahrlosung geprägt sein würde. Denn wenn es auch in der Tat wenig Sinn zu machen scheint, ein Vermögen für ein handgefertigtes Möbel oder ein photorealistisches Portrait auszugeben, wenn eine Maschine für einen Bruchteil der Kosten weitgehend identische Stücke herzustellen vermag (bzw. die Präferenz für erstere wohl nur jenen möglich ist, die über entsprechende Finanzen und Überzeugungen verfügen), so leitet sich daraus doch lange noch nicht der notwendige Niedergang eines jeden echten Schönheitsempfindens ab: Dieses hat kausal nichts mit Technologie oder Postmoderne zu tun, sondern vielmehr mit einer seltsamen Mischung aus einem mit Minderwertigkeitsgefühlen verknüpften kulturellen Selbsthass, einer Unfähigkeit zur Verantwortung für das Nächste und nicht nur das Fernste, und einer typisch spätzeitlichen Faszination für alles Kranke und Ungesunde; jene allgegenwärtige morbide „Kultur des Todes“, von der Johannes Paul II. schrieb.

Daher kann aber auch die Lösung dieser Situation nicht von oben verordnet werden, wenn natürlich auch die Bemühungen von Regierungen um eine saubere Umwelt, einen ästhetischen Städtebau oder eine Erziehung zur Liebe für die eigene Kultur keineswegs kleingeredet werden sollen. Denn ultimativ muss die Entscheidung für die Schönheit von unten, nicht von oben kommen: Auch heute fehlt es keiner europäischen Stadt an grandiosen sakralen wie säkularen Zeugnissen unserer Zivilisation, doch liegen Museen, Kathedralen oder Paläste zunehmend wie stumme und tote Fremdkörper inmitten einer Massengesellschaft, deren Leben um sie herum vorbeibrandet, ohne sie als etwas anderes als anachronistische Hindernisse auf der Suche nach dem geraden Weg von Arbeitsplatz über Shopping Mall zum Amüsierviertel zu empfinden.

Es fehlt an Menschen, die in ihrem Alltag über bloße Effizienz hinaus auch der Schönheit einen Raum zugestehen, eine Anstrengung machen, die sich nicht in kalten Zahlen „rechnet“, sondern ihren Wert in ihrer bloßen Ästhetik trägt, auch und gerade in den kleinen Verrichtungen des Hier und Heute. Nur, wenn es wieder normal wird, Schönheit nicht als ein Gut zu empfinden, das irgendwie mit Luxus, Freizeit, Abnormität oder Elitenbildung zu tun hat, oder das man nur dann „verstehen“ kann, wenn man sich durch den Jargon absurder Kunstkritiker kämpft, sondern das jedem unmittelbar zugänglich und intuitiv seelisch verständlich ist und jede einzelne Handlung unseres Lebens begleitet, ritualisiert und sublimiert, besteht auch eine Hoffnung auf einen generellen Sieg über die Kultur des Todes.

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