Tichys Einblick
Bericht aus der Hauptstadt:

Friedrich Wilhelm, Außerirdische – und dazwischen Ricarda Lang

Um die Schrift an der Kuppel des Berliner Schlosses tobt ein Kulturkampf. Natürlich geht es nicht nur um Bibelverse. Sondern darum, dass den Wohlmeinenden partout keine Gegenbotschaft einfällt. Obwohl sie ganz dringend eine bräuchten

IMAGO/Olaf Schuelke

Um die Kuppel des wiederaufgebauten Berliner Schlosses zieht sich eine Inschrift, die sich von unten nicht entziffern lässt. Egal aus welcher Perspektive, von den goldenen Buchstaben auf blauem Grund lassen sich immer nur wenige erkennen, und nirgends die vollständigen beiden Sätze. Wer wissen will, was dort oben steht, muss nachschlagen: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Den programmatischen Text, der aus zwei Bibelzitaten besteht, suchte der tief religiöse preußische König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1854 aus. Zusammen mit dem Kuppelkreuz stand das Schriftband für seine Überzeugung, dass sich seine Position als Herrscher direkt von Gott ableitet. Mit diesem Argument lehnte er bekanntlich eine Verfassung ab; das „Stück Papier“, wie er sich ausdrückte, mache aus einem Herrscher nur noch eine Fiktion.

Als direkte Aufforderung zum Beugen des Knies wird heute kaum noch jemand den Sinnspruch verstehen. Auch die preußische Verfassungsfrage, die das Königreich lange beschäftigte, kann heute als beigelegt gelten.

Merkwürdigerweise entfalten diese zwei von einem preußischen König ausgesuchten Widmungssätze, die wie gesagt sowieso kein Schlossbesucher vom Vorplatz aus lesen kann, im Jahr 2022 eine beachtliche Wirkung. Das blau-goldene Schriftband beschäftigt eine große Allianz von Kulturfunktionären, Journalisten und Amtsträgern wie die Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die meint, dass man die Sätze nicht unkommentiert und eigentlich überhaupt nicht dort oben stehen lassen sollte. Ihr sei es „schleierhaft, wie man so eine Kuppelinschrift machen kann“, erklärte Roth in einem Tagesspiegel-Interview Anfang 2022: „Und dann setzt man auch noch ein Kreuz obendrauf als Beleg der großen Weltoffenheit. Also, da will ich ran.“

Die einfache Antwort auf Roths Beschwerde würde lauten: Die Inschrift steht auf der Kuppel des wiederaufgebauten Schlosses, weil sie schon an dem originalen Schloss stand, das 1950 auf Befehl Walter Ulbrichts gesprengt wurde, und weil der Bundestag vor längerer Zeit mit Zweidrittelmehrheit den historischen Wiederaufbau zumindest der Fassade beschlossen hatte. Das Kreuz wiederum sitzt ebenfalls aus historischen Gründen auf der Kuppel, erstens, weil sich direkt darunter die Schlosskapelle befand, außerdem, weil es zum preußischen Herrschergedanken gehörte, dass eben nicht die Krone oder der Adler den höchsten Punkt des Herrschersitzes markieren sollten, sondern ein universelles Symbol, das noch über den monarchischen Zeichen steht. Ganz nebenbei, das Christentum ist mit Sicherheit offener für die Welt, als Claudia Roth es je war.

Eine einfache Antwort auf die Kulturstaatsministerin genügt aber deshalb nicht, weil es sich erstens nicht um ein exklusives Leiden Roths handelt. Und auch nicht allein um einen antireligiösen Reflex, angereichert mit intellektuellen Versatzstücken aus der abgehängten Provinz Berlin Mitte. Der Generaldirektor des Humboldt Forums Hartmut Dorgerloh hält seine Arbeit unter Kreuz und Kuppelspruch für so unzumutbar, dass er sich zusammen mit anderen Mitarbeitern der Einrichtung dafür ausspricht, eine zusätzliche Symbolik an dem Gebäude anbringen zu lassen, die „vielleicht auch neue Antworten“ ergeben und Ideen sprießen lassen soll, „wie wir mit etwas umgehen, was bis heute nicht befriedigt und nicht befriedet“.

Für den Bereich des Gegenzaubers könnte er immerhin die reiche Sammlung von Kultgegenständen aus tribalistischen Kulturen im Humboldt Forum befragen. Gewissermaßen als erste Notmaßnahme und antiwilhelminischen Schutzwall brachten die Leiter der einzelnen Bereiche des Humboldt Forums auf der Dachterrasse des Schlosses eine Tafel mit dem Text an, der ausdrückt, dass sie von dem Text oben an der Kuppel nichts und von Religion kaum etwas verstehen: „Alle Institutionen im Humboldt Forum“, heißt es dort, „distanzieren sich ausdrücklich von dem Allgemeingültigkeits- und Herrschaftsanspruch des Christentums.“

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Ohne einen Allgemeingültigkeitsanspruch kommt nun einmal keine Offenbarungsreligion aus. Auch sprechen die Sätze oben an der Kuppel nicht von einem weltlichen Herrschaftsanspruch, sondern von der gegenweltlichen Botschaft des Religionsgründers. Dass sich Kulturfunktionäre vom Kern des Christentums distanzieren, strahlt die gleiche intellektuelle Brillanz aus, als würden sie sich kollektiv gegen die Sixtinische Kapelle oder die Bachkantaten erklären. Und zwar ausdrücklich. Aber möglicherweise greift der Autor hier den Dingen nur vor. Für diesen Fall bittet er ausdrücklich um Vergebung.

Der Abwehrallianz um Roth, Dorgerloh et al. muss irgendwann aufgegangen sein, dass es nicht genügt, Nein zu Friedrich Wilhelm IV. zu sagen, zumal im Jahr 2022, in dem Vertreter des Kulturbereichs nicht mehr mit Gedanken kommunizieren, sondern mit Zeichen. Für diese Zeichensetzung soll nun ein sogenanntes Spruchband auf das Schloss gehievt werden, über das, wie der Name schon sagt, künftig Sprüche mittels LED-Lämpchen laufen, die dem analogen Spruchband des Königs und dem Kuppelkreuz „eine dauerhafte, positive und zeitgemäße Aussage entgegensetzen“. So jedenfalls wünschen es sich die Köpfe der Initiative „Leuchtturm Berlin“.

Und damit entfaltet sich für die Progressisten im Schloss einschließlich der Leuchtturmwärter ein Problem, das sie in seinen Dimensionen möglicherweise noch gar nicht überblicken. Es reicht nämlich weit über das Schloss und sogar über Berlin hinaus. Denn bis jetzt fällt den Wohlgesinnten, die das Juste Milieu so perfekt verkörpern, eben diese dauerhafte, positive und zeitgemäße Aussage nicht ein. Es müsste ja ein Bekenntnis sein, irgendein Credo, das ganz unabhängig von dem damaligen preußischen König zusammenfasst, was der progressive, weltoffene und erwachte Teil der Gesellschaft für gut, wahr und schön hält, woran er selbst glaubt, und wofür er sich notfalls in den Kampf stürzen würde.

Der Ort dafür ist für diese Verkündung schon ganz passend gewählt, nämlich das Schloss in der Hauptstadt, an dessen Traufhöhe sich früher ringsum alle Bauten zu orientieren hatten. Die beteiligten Kulturpolitiker und -funktionäre, Feuilletonredakteure und Aktivisten können wir aus praktischen Gründen zu einer einzigen Idealfigur zusammenfassen, die an einem sonnigen Frühlingstag auf die Dachterrasse des Schlosses tritt, um vor der Öffentlichkeit von Flensburg bis Garmisch eine Grundsatzerklärung darüber abzugeben, was sie eigentlich will – und die in diesem Moment merkt, dass ihr das Redemanuskript fehlt. Ihr fällt auch partout nichts auf die Schnelle ein. Manche Leute träumen so etwas.

Nun verhält es sich nicht so, dass gar nichts über das bunte Spruchband des Berliner Leuchtturms am Schloss laufen wird. Vorgesehen sind Texte, auf die alle zurückkommen, wenn sie keinen eigenen haben: Auszüge aus dem Grundgesetz und aus der Menschenrechtserklärung. Wobei der Verfassungswortlaut sorgfältig kuratiert werden muss, denn sein erster Teil besteht bekanntlich aus den Grundrechten, die Abwehrrechte gegenüber dem Staat darstellen. Schon dieser Gedanke gilt in vielen Berlin Mitte-Büros heute als subversiv. Ein Bundestagsabgeordneter der SPD meinte vor kurzem in der Impfungsaufdrängungsdebatte, wer körperliche Unversehrtheit beanspruche, zeige ein vulgäres Freiheitsverständnis.

Artikel 20 nennt außerdem das Volk als Referenzpunkt des ganzen Normengebäudes. Da schlagen die Warnglöckchen gleich reihenweise an. Die allgemeinen Menschenrechte wiederum besitzen keine universelle und genaugenommen noch nicht einmal eine berlinweite Gültigkeit. In manchen Vierteln der Hauptstadt kann die Vulgärfreiheit, sich den Partner und das Lebensmodell selbst aussuchen zu wollen, tödlich enden, und eine Sozialsenatorin muss dann wieder lang und breit erklären, dass es sich um ein Problem namens Mann ohne weitere kulturelle Spezifika handelt. Aus diesen und weiteren Gründen eignen sich beide Texte nicht so recht als dauerhafte, positive Aussage, hinter der sich die Spruchbandinitiatoren und Friedrich-Wilhelm-Kritiker bedenkenlos versammeln könnten.

Das tonangebende Milieu steht in dem Moment, in dem es eine positive Aussage über die eigene Gesellschaftsvorstellung präsentieren soll, tonlos da. Und darin liegt natürlich auch eine Botschaft, nur eben keine, die sich für ein LED-Spruchband eignet. Diese Botschaft lautet: In der erwachten, erleuchteten Gesellschaft der planierten Vergangenheit und der technokratisch kontrollierten Gegenwart bleibt das intellektuelle Zentrum leer. Sie besitzt kein Credo, keinen intellektuellen Überschuss, keine Begründung in sich selbst. Sie kann weder sich selbst noch anderen erklären, warum sie überhaupt existiert. Es liegt ein dialektischer Witz darin, dass ein Gesellschaftsmodell, in dem Gruppenidentität als höchstes der Gefühle gilt, vor allem eins nicht besitzt: Identität. In seiner Mitte sitzt ein schwarzes Loch, das nach und nach Vergangenheit und Gegenwart einsaugt, Denkmäler, die gestürzt, Straßennamen, die ausgewechselt, literarische Texte, die auf problematische Stellen gefilzt werden müssen, eine Alltagssprache, die zugunsten eines technokratischen, mit unaussprechbaren Sonderzeichen übersäten Soziolekts verschwinden soll. Wie es der Natur dieser Objekte entspricht, nehmen sie an Gewicht zu, je mehr sie in ihr Inneres ziehen. Aber sie können naturgemäß nichts aus sich hervorbringen.
Da jedes Denksystem eine Bezeichnung braucht, selbst dann, wenn es keinen Kern besitzt (und eigentlich gerade dann), schlägt der Autor hier eine vor: Absentismus.

Die klügeren unter den Ideologen der leeren Mitte wussten schon, warum das Schloss am besten gar nicht wiedererstehen sollte. In der FAZ schrieb Niklas Maak: „Reparierte man hier eine zerstörte Stadt und machte sie wieder lebenswert, indem man den alten Stadtgrundriss, die traditionellen Stadträume wiederauferstehen ließ? Oder möbliert hier eine Generation alter weißer Männer die Stadt nach ihrem Geschmack und verbaut dem vielfältigen jungen Berlin seine Freiräume?“

Dumme Frage, natürlich letzteres. Wobei es Maak wie Dorgerloh und den anderen geht: Er kann nicht die Frage beantworten, womit das junge vielfältige Berlin die Wiese an der Schlossbrücke stattdessen hätte möblieren sollen. Mit einem zweiten Potsdamer Platz? Noch einem Ableger der Volksbühne? Am besten wäre natürlich ein Freiraum gewesen, also die leere Fläche. Mit ihrem Gespür lagen die Gegner von Schloss und alten weißen Männern goldrichtig: Nichts hätte ihre Gesellschaftsvorstellung besser zum Ausdruck gebracht als eine Brache im Zentrum Berlins, ein zweites Tempelhofer Feld im Kleinen. Das entspräche so ziemlich genau dem alten Fremdenführerscherz: Sie sehen, dass Sie nichts sehen.

Die gesamte Schlossaufbauhistorie war eine Geschichte gescheiterter Abwehrkämpfe der eigentlich aufsteigenden Absentisten gegen die eigentlich auf der Verliererstraße marschierenden Rekonstruktivisten, und das auch noch in Berlin, Hauptstadt der Absentistenbewegung. Erst ging es den Freiräumern darum, das ganze Schloss zu verhindern, dann wenigsten das Kreuz, dann wenigstens den Bibelspruch. Ganz zum Schluss, also jetzt, müssen die Distanzierungstafel und das Spruchband als letztes Aufgebot ran.

Die Wohlmeinenden können sich damit trösten, dass der Bundestag heute keine Schlossrekonstruktion mehr beschließen würde. Womit sie zweifellos richtig liegen.

Wenn es überhaupt so etwas wie ein allerdings sehr schwaches Eigenmerkmal der globaloffenen, diversen und erwachten Gesellschaft gibt, dann ihre Verlegenheit vor dem Hergebrachten. Alles, was aus der Vergangenheit spricht, stößt die Wohlmeinenden immer wieder darauf, dass sie zwar kulturell und politisch herrschen, aber nichts zu sagen haben. Wo immer es geht, muss das Hergebrachte deshalb fortgeschafft werden, so wie kürzlich das Domspitzenpaar aus dem offiziellen Stadtlogo von Köln. Oder der traditionelle Kulturkanon an angelsächsischen Universitäten. Mittlerweile auch die Religion selbst. In ihrem Osterinterview erklärte die Präses der Evangelischen Kirche Anna-Nicole Heinrich im Deutschlandfunk ihren Plan, Gläubige, die scharenweise fliehen, vielleicht doch noch mit einer Art Schnuppermitgliedschaft aufzuhalten: „Und auf der anderen Seite müssen wir uns auch neu Gedanken machen, wie erlauben wir Leuten teilzuhaben, die sich nicht so fest binden wollen […] wir sind ja in einer Gesellschaft, da ist feste Bindung nicht mehr so richtig en vogue.“

Idealerweise sollen Begriffe für das Traditionelle überhaupt verschwinden. Vor einiger Zeit veranstaltete das Berliner Maxim-Gorki-Theater in seinem Herbstsalon eine „diskursive Intervention“ unter dem Titel „De-Heimatize Belonging“, der ausdrücken sollte, dass der neuen absentistischen Welt nur angehören kann, wer anderswo erfolgreich entheimatet wurde. Finanziert wurde die Veranstaltung von der Bundeszentrale für politische Bildung, also vom Steuerzahler.

Was eine Gesellschaft ist und nach dem Willen ihrer führenden Klasse sein will, vermittelt sich nicht nur durch Sprache, sondern auch durch Repräsentationsästhetik. Bei dem Berliner Stadtschloss handelt es sich ohne Frage um einen Repräsentationsbau der preußischen Monarchie. Er stammt aus einer tiefen Vergangenheit, kann aber auch heute noch viel erzählen, weil er über einen reichen ästhetischen Überschuss verfügt. Nur zehn Fahrradminuten davon entfernt soll ein neuzeitlicher Berliner Repräsentationsbau entstehen, die Erweiterung des Kanzleramts, noch beschlossen unter Angela Merkel.

Das Gebäude könnte seinem Entwurf nach auch als AOK-Verwaltungszentrale in Bergisch-Gladbach stehen, es besitzt keinerlei Ortsbezug, keine Besonderheiten, keinen Überschuss, nichts, woran sich der Betrachter zehn Sekunden später noch erinnern würde. Kurzum, es handelt sich um eine Art architekturgewordene Merkel- oder Scholz-Rede. An Geldmangel kann es nicht liegen. Der Bau soll laut Planung 630 Millionen Euro kosten. Er repräsentiert also die Ära der gewesenen Kanzlerin und auch ihres Nachfolgers genauso angemessen wie das Schloss die Zeit der preußischen Kurfürsten und Könige. Es ist nicht ganz leicht, für mehr als eine halbe Milliarde gewissermaßen ein Loch hochkant ans Spreeufer zu stellen. Aber das Architektenkollektiv hat diese Aufgabe wunschgemäß gemeistert.

Als vor einigen Wochen die stellvertretende Parlamentspräsidentin Katrin Göring-Eckardt in ihrem Büro sich zusammen mit zwei Autoren ablichten ließ, um mit ihnen die Pläne für einen noch zu bestallenden Parlamentspoeten zu besprechen, fiel etlichen Betrachtern die enorme Hässlichkeit ihres Arbeitszimmers auf: ein mit klobigem Geschirr vollgeramschter Tisch, eine unverkleidete Decke mit Sprinklern, eine schiefe Zimmerpflanze, im Hintergrund drei in gleichem Abstand gehängte Kritzelzeichnungen.

Auch hier scheidet finanzielle Knappheit als Grund aus. Der Betrieb des Bundestages – eines der größten Parlamente der westlichen Welt – kostet pro Jahr gut eine Milliarde Euro. Eine Vizeparlamentspräsidentin kann aus dem Vollen schöpfen, sie könnte sich aus dem Kunstfonds Werke von der Renaissance bis zur Gegenwart für das Büro bestellen, außerdem noch einen Sachverständigen egal welchen Geschlechts, der oder die ihr zeigt, wie man Bilder vernünftig rahmt und hängt, und wie sich ein Raum im Handumdrehen entrümpeln und vermutlich sogar mit kleinerem Budget als vorher vernünftig einrichten lässt. Das Bemerkenswerte an dem Zimmerpalmen-Saftflaschen-Ambiente ist, dass ihre Nutzerin nicht zu wissen scheint, wie ein nichthäßlicher Raum überhaupt aussehen könnte.

Friedrich Wilhelm IV., den viele Historiker heute als reaktionären und beschränken Frömmler zeichnen, holte schon als Kronprinz neben Alexander von Humboldt auch Karl Friedrich Schinkel in seine Abendgesellschaften. Der Monarch bereiste Italien und die Rheinprovinzen, er zeichnete, entwarf einige Denkmäler, nicht übermäßig originell, aber auch nicht ganz schlecht. Sein Kronprinzenpalais Charlottenhof, das Schinkel für ihn schuf (keine völlige Neuerfindung, sondern eine klassizistische Überarbeitung eines Landhauses), gehört zu den besten klassizistischen Bauten rund um Berlin.

Sicherlich zählt er nicht zu den Klügsten auf dem preußischen Thron; an Friedrich II. reicht sowieso kein anderer aus dem Haus Hohenzollern heran. Aber Friedrich Wilhelm IV. war mit Sicherheit gebildeter, weltgewandter und auch besser angezogen als jeder Politiker in Berlin heute.

Diesen Mangel, die Leerstelle, den ästhetischen Unterdruck muss Göring-Eckardt gespürt haben, denn ihr Versuch, eine Parlamentspoetin oder -poeten zu installieren, entspringt dem vagen Gefühl, dass eine Gesellschaft – auch diese erwachte und diverse – nicht völlig ohne Sinn und Begründung auskommt. Rein formell würde eine Parlamentspoesieperson vermutlich auf angestammte dichterische Formen zurückgreifen und für die Zukunft einen Sammelband hinterlassen. Ästhetisch wäre der Dichter oder die Dichterin in dieser Umgebung und bei dieser Auswahlkommission natürlich nichts anderes als eine Art sprechende Topfpflanze, die sich irgendwie in den Gesamtramsch dieses Bundestages einfügen würde. Aber die Ahnung der Politikerin, dass sich eine Gesellschaft aus einem völlig leergeräumten Zentrum heraus auf Dauer nicht zusammenhalten kann, sollte man anerkennen.

Dem einen oder anderen im Berliner Betrieb fällt also der Mangel an Sinn, Schönheit und tieferer Begründung auf, der wiederum zu einem weiteren springenden Punkt führt, gerade in diesen Tagen, in denen weiter östlich ein Land um seine Existenz kämpft: Eine Gesellschaft ohne Zentrum und ohne Überlieferung will niemand verteidigen. Wenn es wirklich einmal darum gehen sollte, die eigene Haut, skin in the game, zu Markte zu tragen, dann tut das niemand für ein LED-beleuchtetes Spruchband, über das Textversatzstücke aus der allgemeinen Menschenrechtserklärung huschen. Anders als die Absentisten meinen, fühlen sich auch überhaupt nur wenige durch die Bezeichnung ‘Mensch‘ ausreichend angesprochen. Und in der ganzen Welt ist kaum jemand zuhause. Eigentlich niemand. Viele von denen, die jetzt aus zerbombten ukrainischen Städten in den Westen kommen, wissen, wie es ist, tatsächlich entheimatet zu werden. Jedenfalls handelt es sich nicht um eine diskursive Intervention.

Die Ethnologen des Humboldt Forums könnten erklären, was es mit dem Cargo-Kult auf sich hat. Im Zweiten Weltkrieg nutzte die US-Armee mehrere kleine Pazifikinseln als Nachschubbasen; um die Eingeborenen als Helfer zu gewinnen, verteilten die Soldaten großzügig Schokolade, Dosenfleisch und andere Zivilisationsgüter. Nach Kriegsende verschwanden die Flugpisten und damit die Wohltaten. Die Inselbewohner begannen, Rollbahnen, Tower, Radargeräte und Flugzeuge so gut sie konnten aus Bambus nachzubauen, und zwar in Originalgröße, um damit die Flugzeuge und die guten Gaben wieder zu sich zurückzulocken. Man lache nicht zu früh und vor allem nicht an der falschen Stelle. Wenn der Bundespräsident meint, den Zusammenhalt der Gesellschaft dadurch zu fördern, dass er in jeder Rede mehrmals das Wort ‘Zusammenhalt‘ einbauen lässt, bewegt er sich ungefähr auf der gleichen Ebene wie die Insulaner, genauso wie eine Vizeparlamentspräsidentin, die mit der Bestallung eines staatlichen Poeten hofft, wieder etwas in das gesellschaftliche Zentrum zu holen, das über den Tag und die Plenarwoche reicht und irgendwie in die Geschichte eingehen kann. Ein gewisser Witz lässt sich durchaus darin entdecken, dass Steinmeier mit seiner Beschwörungsformel und Göring-Eckardt mit ihrem Poeten unbewusst an Rituale der von ihnen verachteten feudalen Herrscher anknüpfen, und in ihrem magischen Denken an archaische Gesellschaften, denen wir schöne und anregende Objekte verdanken.

Etlichen jüngeren Repräsentanten wird es dagegen in Ihrem leeren Zentrum noch nicht einmal mulmig. Ihnen fehlt dort nichts. Im Gegenteil, sie wissen, dass sie überhaupt nur in diesem Vakuum mangels Widerstand so flott vorankommen. Einige Steuerzahler regten sich neulich auf, weil die Grünen-Vorsitzende und Abgeordnete Ricarda Lang ein Filmchen bei TikTok einstellte, das sie zeigt, wie sie auf dem Gang des Abgeordnetengebäudes ihre neuen Kleider vorführt.

In einem anderen Video führt sie eine Art Zappeltanz auf. Manche fragten, ob so etwas zu den Aufgaben einer Politikerin gehört. Nur: Was sollte sie denn stattdessen tun? Reden? Dann doch lieber Modenschau.

Lang hat bewiesen, was sie beweisen wollte: nämlich, dass man es auch bildungsfern an die Staats- und Parteienspitze schaffen kann. Damit ist ihr Projekt abgeschlossen. Karrieren wie ihre gelingen nur in einer Gesellschaft, deren Zentrum leergeräumt ist, der Sinnzusammenhang verschwunden ist, und die deshalb buchstäblich nicht weiß, welche Widmungssprüche sie auf ihre eigenen Bauten schreiben sollte. Um Goya leicht abzuwandeln: Der Mangel an Ästhetik bringt Gespenster hervor.

In einer absentistischen Gesellschaft funktionieren noch die technischen Abläufe; die Energieversorgung, die Herstellung von Waren, der Bargeldumlauf, der Verkehr. Auch die Technik beruht auf dem Überlieferungszusammenhang, den sich allerdings auch die größten Kritiker des Hergebrachten bisher nicht zu zerschneiden wagen. Irgendwie müssen ja die Mittel für einen Kanzleramtsneubau, den Bundestagsbetrieb, die monatlichen 10 012,89 Euro Grunddiät einer Ricarda Lang, die Fördermittel, eine Konferenz zur Entheimatung und vieles andere finanziert werden. Einen Zusammenbruch bestimmter Grundfunktionen hatte Preußen in seiner Geschichte und später auch Deutschland nach Kriegen öfter erlebt. Es gelang auch deshalb, die Schäden wieder zu beseitigen, weil die Zeitgenossen sich noch an etwas anderem festhalten konnten, an einem Sinn, einer Überwölbung, an dem, was Hans-Georg Gadamer Überlieferungszusammenhang nannte. Im Katastrophenfall lässt sich ein kollabiertes Stromnetz leichter wieder flicken als eine endgültig gesprengte Überlieferung. Vor allem können die Mitglieder des tonangebenden Milieus diese Aufgabe nicht an Techniker delegieren.

Sollten Außerirdische in dieser Gegend landen, würden sie zwangsläufig zu einer überlegenen Spezies gehören, denn sonst hätten sie ihre Reise gar nicht unternehmen können. Sie wüssten also über wirtschaftliche Daten und auch das Entstehungsjahr von Gebäuden sofort Bescheid. Ihnen fiele auf, dass der Wohlstand in ihrem Landungsgebiet zwar über Jahrzehnte und Jahrhunderte immer weiter gestiegen war, namentlich die Staatseinnahmen, gleichzeitig aber die Ästhetik öffentlicher Gebäude von einem bestimmten Zeitpunkt an rapide abnimmt und irgendwann fast ganz verschwindet. Sie würden in Berlin vielleicht auf den Schlüterhof des Stadtschlosses zeigen und die Repräsentanten fragen: „Könnt ihr das erklären?“

Sie würden antworten: „Uns ist schleierhaft, wie das überhaupt wieder aufgebaut werden konnte. Aber wir tun schon, was möglich ist. Wir distanzieren uns davon.“

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