Der deutsche Rechtsanwalt Martin Selmayr (48) ist der Mann, der den Luxemburger Jean-Claude Juncker ermutigt hat, 2014 für die Europäische Volkspartei Spitzenkandidat für die Präsidentschaft der Kommission zu werden. Juncker wollte Präsident des Europäischen Rates werden, weil er die Präsidentschaft der Kommission als zu belastend empfand. Aber Selmayr überredete Juncker, sich zu bewerben, indem er ihm versicherte, die meiste Arbeit zu erledigen. So geschah es. Juncker wurde Kommissionspräsident.
Am 1. März 2018 wurde Selmayr Nachfolger des Holländers Alexander Italianer als Generalsekretär, dem Chef von rund 30.000 Kommissionsbeamten. Selmayr war für diesen Job nicht qualifiziert, denn um Generalsekretär zu werden, muss jemand zuerst Vize-Generalsekretär gewesen sein. Am 21. Februar 2018 wurde Selmayr binnen einer Stunde von Juncker befördert zum Vize-Generalsekretär und dann Generalsekretär – mit Unterstützung der anderen 27 EU-Kommissare. Dies führte zu erstaunlichen Reaktionen und Ärger in der ganzen EU über die Machenschaften des Juncker-Selmayr-Tandems.
Die plötzliche Beförderung bestand aus Missmanagement in vier Punkten, urteilte die irische Ombudsman Emily O’Reilly am 4. September 2018. Dennoch durfte Selmayr bleiben. Das Buch schien geschlossen, sicherlich, weil Juncker am 1. November 2019 abreist und sein Nachfolger zweifellos den mächtigen Selmayr loswerden will. Mit der Veröffentlichung des erfahrenen französischen Journalisten Jean Quatremer über den Selbstmord von Pignataro kann das als Selmayr-Gate bekannt gewordene Sequel eine Fortsetzung erhalten.
Pignataro wurde 2016 von Selmayr ernannt. Sie war für Human Ressources in der Rechtsabteilung der Kommission verantwortlich und unter anderem dafür, transparente und rechtlich korrekte Ernennungen innerhalb der Kommission sicherzustellen. Pignataro soll Selmayr angeblich erklärt haben, seine Ernennung sei unzulässig, aber sie werde es zum Schutz der Kommission passieren lassen. Recherchen zufolge hätte Pignataro dem Bürgerbeauftragten letztendlich alle Informationen über die Ernennung von Selmayr zur Verfügung gestellt. Pignataros Nachfolger ist ein Deutscher, der laut Libération Selmayr treu ergeben ist. Dieser Deutsche wird der erste sein, der Zugriff auf die Dateien von Pignataro erhält.
Die EU-Kommission beschwert sich über die Veröffentlichung in Libération. „Die Behauptungen in diesem Artikel sind nicht akzeptabel (…)“, sagt die Kommission in einer ausführlichen Presseerklärung, in der Punkt für Punkt Passagen behandelt werden, die ihrer Meinung nach nicht korrekt sind. Es ist ein persönliches Drama, schreibt die Kommission, und Selmayr und Pignataro hätten sich nur zweimal getroffen.