Ein wachsendes Problem für Deutschland besteht darin, dass die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock nicht zwischen Parteitagsrede und einer Rede als deutsche Außenministerin beispielsweise in Riga oder vor der UNO zu unterscheiden vermag. Und da die Welt eben kein Grüner Parteitag ist, kommen Deutschland Baerbocks Reden doppelt teuer zu stehen, zum einen im Wortsinne, denn jede ihrer Reden kostet Deutschland Millionen an Euro, zum anderen isoliert jede ihrer Reden Deutschland zunehmend in der außenpolitischen Arena. Und was sie nicht allein schafft, dass vollendet Robert Habeck mit dem Atomausstieg, auch wenn er momentan etwas reserviert und streckt, denn auch die Grünen müssen sich letztlich nach der Decke strecken. Sie tun das aber in unnachahmlicher Weise, indem sie ständig die Decke beschimpfen, dass sie die Decke ist und keine Daune. Zu Recht hat sich Baerbock auf dem Parteitag Kritik anhören müssen, weil sie sich doch spät, für eine „feministische Außenpolitik“ obendrein zu spät zum Kampf der mutigen Frauen im Iran geäußert hat. Doch schon Claudia Roth hat ja dokumentiert, dass die Grünen zum Kopftuch, freundlich formuliert, ein ambivalentes Verhältnis besitzen.
Es ist leichter, ein Spiegelei an die Wand zu nageln, als die Position der deutschen Außenministerin in dieser Frage wiederzugeben. Versuchen wir es dennoch. Baerbock sagte: „In unserem Grundsatzprogramm steht im ersten Satz: Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit. Das ist unser Maßstab.“ Deshalb sei auch klar: „Es gibt keine Waffenlieferungen an Saudi-Arabien, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.“ Also alles klar, es gibt keine Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Allerdings hatte die Bundesregierung vor kurzem in Zusammenarbeit mit Großbritannien, mit Italien und Spanien eine Ausnahme vom Exportstopp für Ausrüstung an Saudi-Arabien ermöglicht. Also gibt es sie doch. Ja, aber doch nicht direkt, d.h. die deutschen Waffenlieferungen gehen dann über Großbritannien, Italien und Spanien nach Saudi-Arabien, weil die Bundesregierung nicht direkt, aber immerhin indirekt Waffen an Saudi-Arabien liefert, in ein Land, „wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.“
Glaubt Annalena Baerbock, glauben die Delegierten der Grünen wirklich, dass es für den Einsatz der Munition und der Waffen für die Machthaber in Riad einen Unterschied macht, ob die letzte Versandadresse in Deutschland, Großbritannien, Italien oder Spanien liegt? Doch Fakten waren schon immer hinterlistige Anschläge des Klassenfeindes, des Volksfeindes, des Schwurblers, des Rechten, denn jetzt zückt Baerbock das stärkste aller grünen Argumente, sie fordert Verständnis und Mitleid mit der weisen Führung der Partei ein, denn es sei für Robert Habeck extrem schwierig gewesen, die Genehmigung zum Export zu erteilen, geradezu traumatisierend, möchte man annehmen. Und schließlich bräuchten wir die „europäische Rüstungskooperation“. So gesehen eine feine Sache, die „europäische Rüstungskooperation“, prinzipiell würde sie nach diesem Muster auch erlauben, Waffen an die Taliban oder nach Nordkorea zu schicken. Okay, soweit wird es nicht kommen. Denn aus Nordkorea wollen wir ja auch kein Erdöl, auch nicht nachdem Rosneft in Deutschland unter Treuhandverwaltung gestellt wurde. Hätte die Außenministerin ruhig erwähnen können.
Baerbock behauptet lieber, dass wahrscheinlich für den großen, finsteren Verschwörer Migration das nächste Thema sei, mit dem er die Gesellschaft spalten wolle. Und anscheinend hat er sogar Erfolg, denn vor kurzem hat sogar Nancy Faeser eher widerwillig zwar einen Flüchtlingsgipfel veranstalten müssen, weil der Migrationsdruck, der den von 2015 übersteigen könnte, sich unbewältigbar erhöht. „Es ist nicht gegeben, dass man im Winter Flüchtlinge gegen den Krieg in der Ukraine ausspielen muss.“ Was sie damit sagen wollte, wird allerdings für immer ihr Geheimnis bleiben, denn wie kann man Flüchtlinge gegen den Krieg ausspielen und was heißt in diesem Zusammenhang „gegeben“? Heißt das, dass Nancy Faeser solche Gipfel künftig zu unterlassen und die CDU die Befehle der Grünen widerspruchslos entgegenzunehmen habe?
Zuvor hatte Grünen-Chef Omid Nouripour festgelegt, dass weitere Waffenlieferungen an die Ukraine „das Gebot der Stunde“ seien, „dass wir so schnell wie möglich helfen“ müssten. Diese Meinung ist legitim, nur ist es nicht legitim, sich zu beschweren, dass er es Leid sei, darüber diskutieren zu müssen, „wo die Waffen herkommen sollen“. Jetzt, wo sie die Herrschaft haben, wird den Grünen die Demokratie „Leid“, denn im Immer-wieder-diskutieren-müssen besteht das Wesen der Demokratie. Wenn Nouripour die AfD als „fünfte Kolonne Moskaus“ bezeichnet, dann weckt das unwillkürlich Erinnerungen daran, dass einst die Bürgerrechtler in der DDR als fünfte Kolonne Bonns oder des Imperialismus bezeichnet wurden. Man könnte auch noch weiter in die Geschichte zurückgehen, es wird nicht besser.
Die Grünen spüren erkennbar ihre Entfernung zur Realität und wollen sie mit Haltung verdrängen. Ihre Behauptungen werden immer plumper, sie reagieren, wie man auf Twitter beobachten kann, immer gereizter. Sie müssen aufpassen, dass ihr Politikverständnis nicht paranoide Züge annimmt, dass sie nicht Volksaufstände halluzinieren, initiiert von dunklen Verschwörern, von Putin, vom Covid-Virus, vom Batterienkobold.
Denn Annalena Baerbock sagte auch: „Natürlich ist das nicht einfach. Natürlich wache ich manchmal nachts auf. Es gab drei Momente, in denen ich eine Schutzweste tragen musste: in der Ukraine, in Mali und letztens im niedersächsischen Wahlkampf.“ So ein Vergleich legt zumindest eine überhöhte Schreckhaftigkeit nahe. Wie blank müssen da die Nerven liegen? Für jemanden, der Regierungsverantwortung trägt, definitiv zu blank. Dass Baerbock nicht von jedem Niedersachsen begeistert gefeiert wurde, erschreckte sie, wie auch die Tatsache, dass in Brandenburg die AfD nach neuesten Umfragen stärkste Partei mit 25 Prozent wäre. Man könnte natürlich auch fragen, was mit Annalena Baerbock los sei, wenn sie in dem Bundesland, aus dem sie stammt, zur Wahlkampfveranstaltung nur mit Schutzweste geht, und in dem Bundesland, in dem sie lebt, die AfD zur stärksten Partei geworden ist. Und wie real ist eigentlich ihre Beurteilung der Lage, wenn sie aufruft: „Lasst uns dorthin gehen, wo der Widerspruch am härtesten ist“. Wie? Mit Schutzwesten? So wie Robert Habeck, der gezeigt habe, wie sich Probleme lösen lassen, indem er im Wahlkampf in Niedersachsen in einer Gaststätte in einer geschlossenen Veranstaltung vor einem handverlesenem Publikum sprach – und seine Anhänger draußen vor der Tür wie beim Public Viewing ihr Idol bewundern durften? Ist es das, was Annalena Baerbock darunter versteht, das „Gespräch zu suchen“?
Der Parteitag in Bonn zeigt die Ferne der Grünen zur Wirklichkeit. Es ist, als habe eine Sekte sich des eigenen Glaubens versichert und versucht, ihn mit der Realität irgendwie in Einklang zu bringen. Die Grünen haben das Dogma der unbefleckten Politik verkündet: selbst Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien sind keine Waffenlieferungen, denn: „Es gibt keine Waffenlieferungen direkt an Saudi-Arabien, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden“ Die Waffen kommen dennoch in Riad an. Welch großes Wunder.