Die Welt ist seit dem Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine nicht mehr dieselbe. Darin sind sich nun plötzlich alle einig, egal ob Konservative, Grüne, Sozialdemokraten oder Liberale. Auch wenn diese Erkenntnis eigentlich nur für den kleinen Erdteil gilt, den man selbst bewohnt: für Europa. Auch Ayaan Hirsi Ali, Islamkritikerin somalischer Herkunft und Ehefrau des Historikers Niall Ferguson, geht von dieser europäischen Zeitenwende aus, wenn sie über die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Westeuropa schreibt.
In ihrer Kolumne für das Meinungsforum Unherd nimmt Ayaan Hirsi die Folgen der russischen Invasion ins Auge und bedenkt einige Tendenzen, die auch unabhängig davon wirksam waren und sind. Im Hintergrund ihrer Überlegungen steht ein geistiger Konflikt, den auch der französische Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour jüngst in einer Wahlkampfrede in Chambéry anklingen ließ: Die freundliche Geschichtsvision eines Francis Fukuyama, wonach der freie Westen auf ein friedliches „Ende der Geschichte“ zusteuere, eine Art ewiges sozialdemokratisches Zeitalter mit vollen Freiheitsrechten, die am Ende noch anwachsen werden, ohne Hunger, ohne Not und vor allem ohne Krieg, ist demnach selbst Geschichte geworden. Zurückgekehrt ist die grimmige Welt eines Samuel Huntington mit ihren letztlich unauflösbaren Zivilisationskonflikten.
Namentlich Europa scheint nach siebenundsiebzig Jahren erneut zu einem gefährlichen Ort geworden zu sein, was niemand mehr – zumal in Deutschland – auf dem Zettel zu haben schien. Das russische Überschreiten der ukrainischen Grenzen hat gezeigt, dass nicht alle Konflikte dieser Welt mit diplomatischen Appellen und Wirtschaftssanktionen zu lösen sind.
Ungetrübtes Fortschrittsbewusstsein erschüttert
Die Balkankriege der Neunzigerjahre hatten das Fortschrittsbewusstsein des Kontinents oder seiner Eliten nicht erschüttern können. Nur hier und da zeigte sich die Brüchigkeit des „ewigen EU- Friedens“, etwa in der Unfähigkeit des Staatenbunds, in seinem „Hinterhof“ – dem Nahen Osten oder Nordafrika – für etwas mehr Ordnung oder, sagen wir besser, für irgendetwas zu sorgen. Das so rücksichtslos-einsame wie trickreiche Auftreten Russlands wirkte nun als Weckruf – vor allem in Deutschland, dessen Politiker vielleicht am wenigsten Realismus von allen besaßen.
Ayaan Hirsi Ali spricht nun nicht so sehr vom inneren Bewusstsein der europäischen Eliten als vielmehr von ihrem Instrumentenkasten, mit dem sie äußeren Krisen begegnen wollen. An dieser Stelle stand in den letzten 77 Jahren eindeutig die „Soft Power“ im Vordergrund – also Handel, Hilfszahlungen und allenfalls die internationale Diplomatie mit ihren Klemmschrauben und Sanktionen. Nun ist Soft Power immerhin eine Möglichkeit, solange man freundschaftliche Beziehungen pflegt (wie die USA und die europäischen Staaten) oder zumindest gemeinsame Interessen hat (wie Europa und seine Handelspartner).
Ayaan Hirsi macht nun darauf aufmerksam, dass man bestimmte Akteure eben nicht mit Soft Power stoppen könne. Und diese Erfahrung konnten die Europäer in den letzten Jahren vor allem in der Migrationspolitik sammeln. Weder ein Tayyip Erdogan noch ein Alexander Lukaschenko noch ein unzufriedener marokkanischer König lassen sich letztlich davon abbringen, die illegale Migration als Waffe und Druckmittel in ihren Beziehungen zum Nachbarn EU einzusetzen. Die EU musste das in einem halben Dutzend Krisen erleben – und hat ihre Lektion trotzdem bis heute nicht gelernt. Grenzschutz ist noch immer nicht die Priorität der EU-Kommission.
Da ist man in den USA (laut Bidens State-of-the-Union-Rede) schon etwas weiter: Zum „Build that wall“-Chor einiger Republikaner versprach der greise Präsident immerhin den Kampf gegen illegale Schlepper und Drogenschmuggler als die eine Seite seiner Grenzpolitik. Dieser Teil dürfte in den kommenden Jahren noch an Bedeutung gewinnen.
Auf einmal sieht auch die SPD die Notwendigkeit der Landesverteidigung
In einem früheren Beitrag hat Ayaan Hirsi darauf hingewiesen, dass dem russischen Präsidenten im Westen meist schwache und inkonsequente Figuren gegenüberstehen, die sich einer grünen Ersatzreligion à la Greta Thunberg angeschlossen und darüber die energiepolitischen Realitäten vergessen haben. Zudem habe eine illiberale Gesundheitspolitik die Zustimmungswerte der westlichen Führer gesenkt und für eine Spaltung der Gesellschaften gesorgt. Also Bahn frei für einen weiteren, meist übersehenen Angriff Putins auf die westlichen Gesellschaften? Testet Putin mit seinem Krieg gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine erneut das Durchhaltevermögen der EU? Noch ist es nicht so weit.
Es ist ein alter Vorwurf, den Ayaan Hirsi aufgreift, dass die russische Intervention in Syrien dazu geführt habe, die EU mit Flüchtenden aus dem Land herauszufordern. In dem Land tobte aber ohnedies ein Bürgerkrieg, und die russische Unterstützung für den zeitweise entmachteten Assad führte mittelfristig zu einem Rückgang der Kämpfe. Daneben wird man Russland nicht die Art von Interessenpolitik verwehren können, die auch andere Staaten in der Welt betreiben. Neben diesem Autonomiegedanken kann man die russische Politik vielleicht am besten so verstehen, dass sie gelegentlich darauf abzielt, sich die europäischen Staaten ähnlicher zu machen.
Man betrachte nur die Migrationskrise in Weißrussland. Alexander Lukaschenko gilt als treuer, ja inferiorer Bündnispartner Putins. Trotzdem war Russland an der östlichen Migrationsroute nur insofern beteiligt, als man Flüge über Moskau und mit der staatlichen Fluglinie Aeroflot bereitstellte. Ein Eindringen der nahöstlichen Migranten in die Russische Föderation und über sie nach Westeuropa – etwa über Norwegen – ließ man keineswegs zu. Moskau schützte also seine Grenzen, während die Aktionen Lukaschenkos den Europäern zu empfehlen schienen, dasselbe zu tun.
Fast genauso könnte man – sofern man es nicht zu gewagt findet – den jetzt geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine sehen. Die Konsequenzen für die deutsche Politik liegen jedenfalls offen zutage: Nach jahrzehntelangem Tiefschlaf sind sogar die deutschen Sozialdemokraten durch Moskaus rücksichtsloses Vorgehen aufgewacht und sehen die Notwendigkeit der Landes- und Bündnisverteidigung jetzt besser ein als vor zwei Wochen.
Etwas Ähnliches stellt Ayaan Hirsi auch in der Energiepolitik fest: „Vor vier kurzen Monaten war es undenkbar, in Deutschland eine ernsthafte Diskussion über die Beibehaltung der Kernenergie zu führen.“ Doch heute gibt es einen bayerischen Zeitgeist-Vasallen namens Markus Söder, der die Kernenergie der Versorgung durch Kohlekraftwerke vorziehen will. Sogar der grüne Wirtschaftsminister – oder sein Ministerium – scheint eine „ideologiefreie Prüfung“ von Laufzeitverlängerungen für die deutschen Kraftwerke zu erwägen.
„Massenmigration ist heute zur militärischen Waffe geworden“
Wenn die durchlebte Pandemie erstmals seit dem Weltkrieg Gedanken an wirtschaftliche Unabhängigkeit und Autarkie – vor allem was Medizinprodukte angeht – in den Fokus europäischer Politiken treten ließ, dann stellt sich die Welt nach dem russischen Angriff noch deutlich ungemütlicher dar. Europa und Deutschland wachen auf. Man kann sich nicht mehr auf das preiswerte russische Gas verlassen oder auf das durch die Macht der Vereinigten Staaten gesicherte Erdöl. Die EU-Länder und Deutschland in ihrer Mitte müssen sich selbst um ihre Bedürfnisse kümmern.
Das gilt, wie Ayaan Hirsi in ihrer Kolumne feststellt, auch für die Migrationspolitik, die sie für einen übersehenen Aspekt des Ukraine-Kriegs hält. Die Islamkritikerin ist keine Hardlinerin in dieser Frage. Nach ihr braucht Europa die (legalen) Einwanderer genauso, wie diese die Chancen in den europäischen Ländern brauchen. Doch erinnert sie auch an die unguten Folgen der ungebremsten Massenmigration nach Europa. Für sie geht es hier vor allem um die „Intoleranz gegenüber Immigranten“ und den islamistischen Extremismus, der das Potenzial zum Terrorismus und Gefährdertum in sich trägt. Darüber hinaus hält sie aber fest, dass Massenmigration inzwischen zu einer militärischen Waffe geworden sei.
Auch dieser Gedanke fand sich in Éric Zemmours jüngster Rede in Chambéry: Die Realität des Krieges, in dem Grenzen brutal überrannt werden, erinnert tatsächlich an die widerrechtliche Massenmigration, wie man sie zuletzt an der polnischen Grenze oder am griechischen Evros sah und immer wieder auf den Inseln der Ägäis, auf Lampedusa und den Kanaren erleben muss. Ex-Kanzlerin Merkel wirft Ayaan Hirsi eine schwankende Politik vor: Im einen Jahr 2015 habe sie die „wilde Aufnahme“ Hunderttausender „Syrer“ befördert, im folgenden 2016 dann eine sechs Millionen Euro schwere Abmachung mit Tayyip Erdogan geschlossen, um die Tore der EU notdürftig zu verrammeln.
Die Publizistin fordert ein Ende dieser widersprüchlichen Politik. Und die Lösungen liegen laut ihr auf dem Tisch. So hätten Grenzzäune und Grenzmauern ihren Sinn, würden sie doch das organisierte Verbrechen und Menschenschlepper abwehren. Das gilt aber eben nur für die illegale Migration aus anderen Erdteilen, die eben keine Flucht darstellt. Auf sie bezogen lässt sich durchaus mit Ayaan Hirsi sagen: „Ob es uns gefällt oder nicht, Massenmigration ist heute zur militärischen Waffe geworden und sollte als solche behandelt werden.“ Die Konsequenz müsse sein, nicht mehr Innen- und Justizbehörden mit der Migration zu befassen, sondern die Verteidigungsressorts. Der Westen müsse die Migrationspolitik in seine Sicherheitspolitik integrieren.
Zweifellos ist Krieg ein wichtiger Auslöser der echten Fluchtmigration. Wenn man Russland hinter den Aktionen eines Lukaschenko vermuten kann, dann könnte der Kreml die Aufnahmesysteme Westeuropas auch durch Raketenangriffe auf ukrainische Städte testen. Das wäre allerdings der Gipfel des Zynismus. Doch tatsächlich muss man fragen, wie weit wir noch von einem ostslawischen Bürgerkrieg entfernt sind, in dem das Leben des „Brudervolks“ nicht mehr zählt.
Die Migration aus der Ukraine ist anders
Im Falle der Ukraine bemerkt Ayaan Hirsi zu Recht, dass schon der schwelende Konflikt seit 2014 eher eine Binnenmigration innerhalb des Landes in Bewegung setzte. Bei der Flucht in die Nachbarländer und – bisher vereinzelt – nach Deutschland finden die durch den Krieg Vertriebenen zudem oft Unterkunft bei Verwandten und Freunden. Insofern bleiben die von EU-Vertretern gemutmaßten hohen Flüchtlingszahlen abzuwarten, auch in ihrem Einfluss auf die Asylsysteme.
Es gibt bis jetzt keinen Grund, eine Super-Bazooka zu ziehen, wie es Innenministerin Nancy Faeser nun bei Markus Lanz tat, als sie kundgab, dass Deutschland natürlich auch in diesem Fall unbegrenzt aufnahmebereit sein werde. Das sind auch deshalb großtuerische Worte, weil die Hauptlast derzeit Polen und Moldawien tragen. Immerhin sprach die Ministerin einmal zu Recht von einer „humanitären Verpflichtung“, die man in diesem Fall tatsächlich hat. Ja, man muss in diesem Fall „Schutz bieten“, wie Faeser sagt, doch ließ sie erneut den eigentlich notwendigen Zusatz „auf Zeit“ weg. Schutz auf Zeit, bis der Konflikt hoffentlich zu einem Ende kommt und die Ukrainer zurückkehren können, um ihr Land aufzubauen.
Die Flüchtlingsströme aus der Ukraine berühren uns in anderer Art als die illegale Migration an den EU-Außengrenzen. Es handelt sich um echte Flucht vor einem grausamen Krieg. Und: diese Migration wird Europa eher stärken, weil diese Flüchtlinge leicht integrierbar sind und politisch motiviert sind aus der bitteren Erfahrung ihrer Flucht. Man sollte über den erschreckenden Bildern aus der Ukraine aber nicht vergessen, dass die illegale Migration an den Außengrenzen der EU, die eben keine unmittelbare Flucht vor Krieg und Verfolgung ist, munter weitergeht. Sie ist die eigentliche Waffe. Aus Ayaan Hirsi Alis Beitrag kann man – ähnlich wie aus Zemmours Rede – mitnehmen, dass sich der Grenzschutz letztlich nicht trennen lässt von der Verteidigungspolitik, wie auch die Lage in der Ägäis immer wieder lehrt. Ohne eine Überlegenheit der griechischen Marine über die türkische in den eigenen Gewässern wird eine sichere Seegrenze nicht herzustellen sein. Dasselbe galt von der polnisch-weißrussischen Grenze und gilt nun in gewisser Weise von der gesamten Ukraine, in die Moskau den Krieg trug. Nur wenn die Ukrainer in Sicherheit in ihrem Land leben können, wird ein größerer Flüchtlingsstrom aus dem Land abzuwenden sein.