Lange habe ich es vermieden, mich zu diesen Themen öffentlich zu äußeren. Zu Migration und Integration. Nicht weil ich mir dazu keine Gedanken gemacht hätte. Ganz im Gegenteil: Das Überlegen darüber gehört schon beinahe zur Tagesordnung. An der Befasstheit liegt es nicht. Mir fehlt jedoch eigentlich die Expertise; meine Fachthemen sind eher Wirtschaft oder alltägliche Absurditäten der deutschen Gesellschaft.
Jedoch: Eine wachsende Zahl von Ereignissen – oder zumindest die wachsende Berichterstattung darüber – macht Schaudern. Derart, dass ich mich nun wenigstens einmal als Nachdenkender zu Wort melden will.
Droht ein neuer Exodus?
In Paris wurde gerade die 85-jährige Holocaust-Überlebende Mireille Knoll ermordet. Als höchst tatverdächtig gilt ein junger Muslim. Das Motiv hat laut Staatsanwaltschaft antisemitischen Charakter. Robert Ejnes, Exekutivdirektor des Rats der jüdischen Einrichtungen Frankreichs (Crif), spricht dazu gegenüber dem Spiegel von „verlorenen Gebieten der Republik“ – untergegangen in den täglichen Aggressionen arabischstämmiger, antisemitischer Jugendbanden.
„Adieu“ hatte Hilmar Klute eine Seite drei der Süddeutschen Zeitung im Januar überschrieben. Es ging darum, dass inzwischen mehr als 60 Prozent der französischen Juden planen, ihr Heimatland zu verlassen. Weil sie um Leib und Leben fürchten. 60 Prozent. Das klingt fast schon nach Exodus. Unfassbar.
Die Angst der französischen Juden ist begründet. Sie werden immer öfter Ziel von Anfeindungen bis hin zu Gewalttaten – auch solchen mit tödlichem Ausgang. Mireille Knoll war nicht die erste. Letztes Jahr wurde die 66-jährige Jüdin Sarah Halimi misshandelt und aus dem Fenster geworfen.
Antisemitismus auf dem Vormarsch
Islamisch und palästinensisch fundierter Alltagsterrorismus ist in Frankreich inzwischen offenbar gang und gäbe. „Es kommt regelmäßig zu Übergriffen, die für Beunruhigung und Angst in der jüdischen Bevölkerung sorgen“, warnte der Antisemitismusbeauftragte der französischen Regierung zu Beginn des Jahres gegenüber der Welt.
Die Gefahr einer kritischen Masse von muslimischem Fundamentalismus macht mich Bange. Dabei sind mir fundamentale Christen sowie jede andere fundamentale Glaubensauslegung nicht einen Deut weniger zuwider. Andererseits sind mir Fremdheit, Gläubigkeit und andersartige Kultur beim Einzelnen nicht im Geringsten ein Anlass für Befürchtungen. Im Gegenteil, die Buntheit der Welt war und ist für mich eher Chance als Risiko im Fortschritt der menschlichen Geschichte.
Religion und kulturelle Sitten gehen Hand in Hand
Trotz aller Offenheit also verlässt mich aber doch dieser bittere Beigeschmack nicht. Der Anteil an Muslimen in der europäischen Gesellschaft hat mit großer Sicherheit einen kritischen Punkt des allgemein friedlichen Fortbestehens. Ob das nun tatsächlich in der Religion und deren Auslegung begründet ist oder in kulturellen Sitten der religiösen Heimatländer, die definitiv nicht die heutige abendländische Sicht von natürlichen Menschenrechten und demokratischer Souveränität des Einzelnen teilen, erscheint mir unerheblich. Es ist – in der Masse, nicht im Einzelfall – wohl unauflöslich miteinander verwoben.
Was ist das richtige Maß für Migration und Integration?
Wenn man das richtige Maß findet. Das Übermaß deutet sich in den französischen Verhältnissen an, mit fliehenden Juden und zudem einer Bevölkerung, der das entweder aus islamistischen, linksextremen oder neo-nationalsozialistischen Gründen zu 62 Prozent egal ist und von sieben Prozent sogar befürwortet wird. Da wird Michel Houellebecqs Dystopie „Die Unterwerfung“ mit der Zuspitzung der politischen Kräfte in Frankreich auf einerseits nationalradikal und andererseits – und zuletzt erfolgreich – islamistisch-sozialistisch zunehmend weniger unwahrscheinlich.
Nach meinem Empfinden brauchen wir also eine Grenze für die Zuwanderung von Muslimen, ziemlich unabhängig von den Migrationsursachen. Ja, das ist wohl so etwas wie religiöse Sippenhaft. Nicht schön, aber vielleicht sogar ein wichtiger Anstoß für liberale, säkulare oder reformatorische Kräfte unter den Muslimen. In jedem Fall aber der Erhalt einer halbwegs liberalen, säkularen und reformierten Bastion in der Welt.
Zu Deutschland gehört eine offene Diskussion über Obergrenzen
Ich halte es dementsprechend aus einer zutiefst liberalen und moralisch reflektierten Position für unlauter, nicht über Obergrenzen zu diskutieren. Der richtige Grenzwert ist dabei fraglos schwierig zu finden. Aber gerade diese Schwierigkeit fordert zur Diskussion auf. Zu Verschweigen oder das Thema zu vermeiden nützt nichts. Auch das zeigt sich in Frankreich.
Einen Antisemitismusbeauftragten zu berufen, wie im Januar vom Bundestag beschlossen, fällt in diesem Zusammenhang mit großer Wahrscheinlichkeit in die Kategorie folgenloser politischer Aktionismus. Die antragstellenden Parlamentarier von Union, SPD, FDP und Grünen erkennen dabei wohl ganz richtig: „Neu tritt durch Zuwanderung ein verstärkter Antisemitismus aus den Ländern Nordafrikas, dem Nahen und Mittleren Osten hinzu, in denen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit einen besonderen Nährboden haben.“ Trauen sich aber nicht die folgerichtigen Konsequenzen für die Diskussion um die Zuwanderung daraus zu ziehen und beerdigen die Erkenntnis mit einem neuen Beauftragten, der unter Dutzenden seinesgleichen in der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Bedeutung schon einen Tag nach dem Bundestagsbeschluss untergegangen ist.