Ein Gespenst geht um in deutschen Landen. In einer merkwürdigen Phase allgemeiner Verunsicherung, Frustration und Orientierungslosigkeit wird immer öfter über einen (vermeintlichen) Ausweg diskutiert: die Auswanderung aus Deutschland.
Mehr denn je kreisen kritische Gespräche in Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreisen um subjektive Unzufriedenheiten und objektive Missstände, die als massive Eingriffe in die persönliche Lebensqualität empfunden werden. Das sei an folgenden zwei Beispielen aus dem ganz normalen Alltag erläutert:
- Bei einem privaten Abendessen kommen zunächst schulische Probleme der ungewöhnlichen Art zur Sprache. Der zehnjährige Sohn der Gastgeber, der gerade erst auf eines der angeblich besten Gymnasien der Stadt gewechselt ist, lässt – wie die meisten seiner Klassenkameraden – auffällige Mängel bei der deutschen Rechtschreibung erkennen. Aus diesem Thema entwickelt sich eine Diskussion über andere staatliche Leistungsbereiche mit erheblichen Schwachstellen. Genannt werden neben der Schulbildung vor allem die innere Sicherheit, die Migrationspolitik, die Enteignung der Sparer durch die Zinspolitik, die öffentliche Gesundheitsversorgung, die marode Verkehrsinfrastruktur, das überlastete Rechtswesen und das leistungsfeindliche Steuersystem. Insbesondere das subjektive Gefühl, zunehmend durch Kriminalität bedroht zu sein, erhitzt die Gemüter. Von allgemeinem Staatsversagen und Kontrollverlust ist die Rede. Zu fortgeschrittener Stunde stellt ein Mediziner die Frage: „Wenn der Staat nicht mehr liefert, wie lange werden sich die Leute dann noch dem Staat verpflichtet fühlen?“ Postwendend folgt der Kommentar eines Jura- Professors: “Wenn ich könnte, würde ich im Ausland neu anfangen.“
- Auf einer Bürgerversammlung stehen zunehmende Probleme mit einigen Bewohnern eines Flüchtlingsheims auf der Tageordnung. Während eine kleine Gruppe um Verständnis für die Eingewöhnungsprobleme der Migranten wirbt, klagt die Mehrheit über steigende Kriminalität und „kulturelle Totalausfälle“. Das von der Bundeskanzlerin geprägte Motto „Wir schaffen das!“ wird mehrfach unter höhnischem Gelächter zitiert. Ein unmittelbarer Nachbar des Heims hält dem lauthals entgegen: „Die schaffen uns!“ Er bezeichnet „die undifferenzierte Willkommens-Politik als völlig unkalkulierbares Risiko“, das jetzt auf dem Rücken der Normalbürger ausgetragen werde. Ein offenbar sehr frustrierter IT-Experte kündigt an, seine schon länger gehegten Auswanderungspläne jetzt realisieren zu wollen, bevor sein neben dem Flüchtlingsheim gelegenes Reihenhaus noch mehr an Wert verliere. Mehrere Versammlungsteilnehmer nicken verständnisvoll. Der zunehmend emotionale Disput lässt erkennen, wie stark sich inzwischen auch ganz normale Leistungsträger wie Beamte, Angestellte und Facharbeiter von „der Politik“ im Stich gelassen fühlen. Nur der Vollständigkeit halber: Rechtsradikale Töne waren auf dieser Veranstaltung erfreulicherweise nicht zu vernehmen. Es sind die wachsende Verbitterung, Wut und Resignation, die betroffen machen.
Im vergangenen Jahr sind 998.000 Menschen aus Deutschland ausgewandert. Ihr Wegzug hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Wohnraumbeschaffung für 2,137 Mio. Zuwanderer überhaupt bewältigt werden konnte. Schon 2011 lebten und arbeiteten laut OECD 3,4 Mio. Deutsche im Ausland. Bereits damals galt die Bundesrepublik als eines der größten Auswanderungsländer. Bei diesem arbeitsmarktpolitischen Aderlass handelt es sich vorrangig um qualifizierte Emigranten. Von den für 2011 gemeldeten 3,4 Mio. Personen hatten 1,4 Mio. Abitur und Berufsausbildung, weitere 1,2 Mio. ein abgeschlossenes Studium. Seitdem dürfte die Zahl der ausgewanderten Leistungsträger und Führungskräfte drastisch gestiegen sein. Für 2016 ist mit einem neuen Abwanderungsrekord zu rechnen.
Zweifelhaft ist, ob die Politik die Bedeutung dieser Entwicklung für Wirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsmarkt, Steueraufkommen und Demografie sowie die daraus resultierende fatale Eigendynamik erkannt hat. Die von interessierter Seite präsentierte Milchmädchenrechnung, durch die hohe Zuwanderung von über 2,1 Millionen habe es 2015 immer noch einen Migrationsüberschuss von 1,14 Mio. gegeben, lenkt ab von den Realitäten. Der Austausch von jetzt am Arbeitsmarkt fehlenden fast 1 Mio. Emigranten mit überwiegend hohem Kompetenz-Level gegen integrationsbedürftige, meist niedrig qualifizierte Zuwanderer hat unvermeidlich erhebliche Auswirkungen auf Beschäftigung, BIP-Wachstum und Sozialkosten. Statistisch werden sich die Folgen erst in späteren Jahren nachweisen lassen.
Der Ausgang der US-Wahlen sollte eigentlich auch hierzulande als Weckruf bei den Parteien angekommen sein. Ein schlichtes „Weiter so“ wird die Zahl der frustrierten Bürger, die sich nicht mehr vom Staat vertreten fühlen, weiter ansteigen lassen. Die Entfremdungsprozesse verlaufen zunächst unbemerkt und schleichend, bis sie dann in Exzessen wie der Kölner Silvester-Nacht schockierend sichtbar explodieren. Wenn allgemeine Politikverdrossenheit umschlägt in pauschale Verachtung und Ablehnung gegenüber „dem System“, dann gerät das Fundament der Demokratie ins Wanken. Auch bei Staatsbürgern gibt es offenbar das Phänomen der inneren Kündigung. Wer sich politisch heimatlos fühlt, bei dem dürfte sich das Engagement für sein Heimatland in Grenzen halten. Gegenwärtig wird die mentale Abwärtsspirale aus Resignation und Verweigerung durch die politische Klasse eher beschleunigt als gebremst. Mittelfristig droht diese Entwicklung außer Kontrolle zu geraten.
Deutschland braucht einen faktischen und psychologischen Aufbruch zu neuen Ufern. Zunächst muss das Vertrauen in die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit des Landes ohne Rücksicht auf von Political Correctness abgesteckte Tabuzonen wieder hergestellt werden. Dazu gehört vor allem die Rechtssicherheit, dass der Staat vertragliche Verpflichtungen und Gesetze nicht nach Belieben über Bord wirft, wenn die Verfolgung „höherer“ Ziele wie die Masseneinwanderung und die Euro-Rettung dies angeblich erfordert. Multiples Staatsversagen und anhaltende Kontrollverluste können in einer freiheitlich- demokratischen Grundordnung nicht als latenter Dauerzustand geduldet werden. Wir müssen zurück zum geltenden Recht. Das gilt vor allem für die Einhaltung der EU-Verträge von Schengen, Dublin, Maastricht und Lissabon. Und das gilt auch für den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung: Es ist mehr als fatal, wenn sich der Deutsche Bundestag – wie bei der „Euro-Rettung“ mehrfach geschehen – zum willfährigen Akklamationsorgan denaturieren lässt. Mit anderen Worten: Der Staat muss in allen existenziellen Bereichen seine originären Aufgaben erfüllen, er muss wieder liefern. Eine Regierung, die weiterhin überfällige Zukunftsgestaltung mit Ersatzhandlungen auf dem Feld von Betroffenheits-Symbolik verwechselt, sollte sich – frei nach Brecht – ein anderes Volk suchen.
Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.