Tichys Einblick
Von der Moral der Geschichte

Aufstieg und Niedergang am Beispiel Deutschlands und der Vereinigten Staaten

Aufstieg und Niedergang, Rise and Fall waren und sind die wiederkehrenden Formeln für das Auf und Ab der Geschichte, die eben nicht, wie viele unbewusst denken oder wollen, eine lineare Aufwärtskurve ist.

Aufstieg: Das 19. Jahrhundert gehörte Deutschland, es war die Zeit eines unglaublichen Aufstiegs.

“In 1785 there were 1,225 periodicals published compared with 260 in France. In 1900 Germany had 4,221 newspapers. France roughly 3,000 (and Russia 125). In the early nineteenth century, when England had just four universities, Germany had more than fifty… Germany took the lead in the establishment of scientific societies in the early nineteenth century… and [German] became the leading language of scientific scholarship… In 1900 more books were published annually in German than in any other country in the world. In 1900 illiteracy rates in Germany were 0.5 percent; in Britain they were 1 percent and in France 4 percent.”

1785: 1.225 Zeitschriften in Deutschland, 260 in Frankreich; 1900 in D 4.221 Zeitungen, in F 3.000 und Russland 125. Vier Universitäten in England im frühen 19. Jahrhundert, mehr als 50 in D, Deutsch wurde führende Wissenschaftssprache. 1900 wurden jährlich mehr Bücher in D publiziert als in jedem anderen Land, Analphabetenrate 0,5% in D, 1% in Britannien und 4% in Frankreich.

“Prussia enforced school attendance for children between the ages of seven and fourteen from the 1820s (in Britain children were not compelled to go to school until 1880) and by the 1890s had two-and-a-half times as many university students in proportion to population as did England… illiteracy in the German army was much lower than among Italian or Austro-Hungarian soldiers, 1 in 1,000, as opposed to 330 in 1,000 among Italians, and 68 in 1,000 among Austro-Hungarians.

Schulpflicht für 7-14-Jährige in Preußen, keine Schulpflicht in Britannien bis 1880, in den 1890ern zweieinhalb mal so viele Universitätstudenten in Preußen als in England, Analphabeten in der deutschen Armee 1 von 1.000, 330 in der italienischen und 68 in Österreich-Ungarn.

Niedergang: Seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erleben die Vereinigten Staaten einen rasanten Niedergang.

“Functional illiteracy in North America is epidemic. There are 7 million illiterate Americans. Another 27 million are unable to read well enough to complete a job application, and 30 million can’t read a simple sentence [Daten von 2008]. There are some 50 million who read at a fourth- or fifth-grade level. Nearly a third of the nation’s population is illiterate or barely literate – a figure that is growing by more than 2 million a year. A third of high-school graduates never read another book for the rest of their lives, and neither do 42 percent of college graduates. In 2007, 80 percent of the families in the United States did not buy or read a book. And it is not much better beyond our borders. Canada has an illiterate and semiliterate population estimated at 42 percent of the whole, a proportion that mirrors that of the United States.”

7 Millionen funktionelle Analphabeten in Nordamerika, weitere 27 Millionen unfähig, eine Bewerbung zu schreiben, 30 Millionen können keinen einfachen Satz lesen (2008), 50 Millionen lesen viert- oder fünftklassig. Fast ein Drittel der Nation ist ungebildet oder kaum, die Zahl wächst jährlich um 2 Millionen. Ein Drittel der Hihg-School-Abgänger liest nie wieder ein Buch – 42% der College-Abgänger auch nicht. 80% der Familien kaufen und lesen keine Bücher. Kanada ist ähnlich.

Aufstieg:

„Had a historian of any nationality published an intellectual history of modern Germany at the end of 1932, it would have been very largely a history of triumph. By 1933 Germans had won more Nobel Prizes than anyone else and more than the British and Americans put together. Germany’s way of organizing herself intellectually was a great success.“

Bis 1933 hatten Deutsche mehr Nobelpreise gewonnen als alle anderen und mehr als Briten und Amerikaner zusammen.

Niedergang:

“While public schools crumble, while public universities are slashed and diminished… elite institutions become unaffordable even for the middle class. The privileged retreat further and further behind the walls of their opulent, gated communities. Harvard, like most institutions, has lost money. Its endowment fell $8 billion over four months in 2008, and by 2009 had officially declined by some 30 percent. Harvard’s investments, once they have been disentangled, may have shrunk to half their former value.”

Öffentliche Bildungseinrichtungen verrotten, Eliteanstalten werden auch für die Mittelklasse unbezahlbar.

“Frank Donoghue, the author of The Last Professors: The Corporate University and the Fate of the Humanities, writes that liberal arts education has been systemically dismantled for decades. Any form of learning not strictly vocational has at best been marginalized and in many schools abolished. Students are steered away from asking the broad, disturbing questions that challenge the assumptions of the power elite.”

Niedergang der Geisteswissenschaften.

Doch der Niedergang betrifft nicht nur – ähnlich wie heute an deutschen und österreichischen Schulen und Universitäten – die Geisteswissenschaften.

“It is not just the humanities that are in danger, but the professors themselves. Most universities no longer hire the best and most experienced teachers but the cheapest. Tenured and tenure-track teachers now make up only 35 percent of the pedagogical work force and the number is steadily falling. Professors are becoming itinerant workers, often having to work at two or three schools, denied office space, and unable to make a living wage.”

Niedergang, Vernachlässigung der Professoren-Qualität.

Die Vereinigten Staaten belegen zwar auch heute noch den ersten Platz in der Statistik der Nobelpreise, doch diese Stellung verdanken sie in immer geringerem Maße ihrem eigenen Bildungssystem. Den immer noch bestehenden Vorsprung schulden sie einerseits den Verbrechen Nazideutschlands, das seine größten Köpfe zur Emigration gezwungen hatte, andererseits einer Politik globalen Head-Huntings, also der Abwerbung von Spitzenkräften vor allem aus Asien, vorzugsweise aus China, Japan, Indien und Südkorea.

Aufstieg:

Nach dem Krieg weitgehend zerstört, haben Deutschland und Japan (auch mit Hilfe der Vereinigten Staaten) auf der Grundlage von Demokratie und „Wirtschaftswunder“ bis in die achtziger Jahre eine gewaltige Aufbauarbeit geleistet. Inzwischen fällt es ihnen allerdings schwer, die nötigen Investitionen zu tätigen, nur um die während des Aufbaus geschaffene Infrastruktur funktionsfähig zu erhalten. Anders in China, im Augenblick einer der wenigen raketengleich aufsteigenden Staaten: „China opens a new subway system every year.“

Niedergang:

“The country’s [US] moral decay is manifested in its physical decay. It is no coincidence that our infrastructure – roads, bridges, sewers, airports, trains, mass transit – is overburdened, outdated, and in dismal repair… America’s antiquated and inefficient rail system cannot maintain its lumbering cars and aging tracks. Cities are plagued by broken pipes and sinkholes. The Environmental Protection Agency estimates that collapsing and overwhelmed sewage systems release more than 40,000 discharges of raw sewage into our drinking water, streams, and homes each year.”

Der moralische Verfall der US schlägt sich im physischen der kompletten Infrastruktur nieder.

„There are whole sections of the United States that now resemble the developing world. There has been a Weimarization of the American working class. And the assault on the middle class is now under way. Anything that can be put on software – from finance to architecture to engineering – can and is being outsourced to workers in countries such as India or China, who accept pay that is a fraction of their Western counterparts, and without benefits. And both the Republican and Democratic parties, beholden to corporations for money and power, have allowed this to happen.”

Ganze Teile der US ähneln der 3. Welt, Weimarisierung der Arbeiterklasse, Bedrohung der Mittelklasse, Outsourcing in Länder wie Indien und China wo immer möglich. Republikaner und Demokraten gleich schuldig.

Die Ursachen von Aufstieg und Niedergang:

Auf eine einfache Formel hat noch niemand die komplexen Ursachen bringen können, welche die einen Nationen fallen, die anderen steigen lassen. Aber außer Zweifel steht die zentrale Bedeutung von Bildung, wie sie seit Herder und Humboldt den Deutschen im Laufe von eineinhalb Jahrhunderten eine führende Rolle ermöglichte – eine glorreiche Rolle, welche die unserer Zeit an die Spitze gelangten oder weiterhin aufsteigenden Nationen der Welt ebenso sichtbar vor Augen führen. Man braucht nur daran zu denken, dass es regelmäßig japanische, chinesische oder südkoreanische Schüler und Studenten sind, die aus den global vergleichenden Standardtests als beste bewertet werden. Welche Bedeutung asiatische Studenten und Professoren für amerikanische Universitäten besitzen, wurde bereits erwähnt.

Es ist wahr, dass die geistige Elite der USA immer noch Spitzenleistungen hervorbringt, die das Niveau in den übrigen Teilen des Globus überschreiten, vor allem im Vergleich zu China oder Russland, weil die intellektuelle Expansion sich dort nur innerhalb der Grenzen bewegen darf, welche die Partei bzw. der neue Zar Putin von oben diktieren. Diese Einschränkung galt auch für Preußen, wo die Freiheit des Denkens an der Loyalität zum Staat ihre Grenzen hatte.

Russia Today und die Emigration der amerikanischen Intelligenz

Doch die Vereinigten Staaten durchlaufen eine rückläufige Bewegung. Zwar kann weiterhin alles gesagt und geschrieben werden, aber es ist dafür gesorgt, dass kritische Gedanken keine Verbreitung finden. Freiheit steht auf dem Papier – und dort bleibt sie auch.

“Those who critique the system itself – people such as Noam Chomsky, Howard Zinn, Dennis Kucinich, or Ralph Nader – are marginalized and shut out of the mainstream debate. These elite universities [Harvard, Princeton etc.] have banished self-criticism.”

Außenseiter und Querdenker werden in der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Elite-Hochschulen haben Selbstkritik verbannt.

So erklärt sich die bedrohliche Tatsache, dass RT (Russia Today), ein sehr erfolgreicher, hervorragend gemachter Fernsehverbreiter von Halbwahrheiten, viele Geistesgrößen der USA als Studiogäste zu gewinnen vermag, denn in ihrem eigenen Land, sprich in Amerikas Zeitungen oder Sendeanstalten kommen sie nicht länger zu Wort. Halbwahrheiten sind allerdings schlimmer als Lügen, weil man mit den unbestreitbaren Wahrheiten über das Versagen des Westens die eigenen Unwahrheiten geschickt zu übertünchen vermag. Russia Today ist eine ebenso scharfe Waffe gegen die USA und den Westen wie dessen Sanktionen gegen Putins Russland. Aber diese Waffen haben die USA selbst geschmiedet: Wie die Nazis ihre jüdischen Mitbürger zu physischer Emigration, so zwingen die USA gegenwärtig ihre besten Köpfe zu einer Art von geistiger Auswanderung.

Die USA – ein tief gespaltenes Land:

„More than the divides of race, class, or gender, more than rural or urban, believer or nonbeliever, red state or blue state, our culture has been carved up into radically distinct, unbridgeable, and antagonistic entities that no longer speak the same language and cannot communicate. This is the divide between a literate, marginalized minority and those who have been consumed by an illiterate mass culture.”

Mehr als Rasse, Klasse, Geschlecht, Land, Stadt, Gläubige und Ungläubige usw. ist die Kultur aufgespalten in Teile, die keine gemeinsame Sprache sprechen, in eine gebildete, an den Rand gedrängte Minderheit und jene, die von einer ungebildeten Massenkultur verschlungen werden.

Die Minderheit – von der Mehrheit abschätzig als Eierköpfe belächelt – wird im eigenen Land nicht mehr gehört, denn die Macht ist an eine ganz andere Kaste übergegangenen, welche in der Demokratie nur noch ein Mittel zu eigenen Zwecken sieht.

„The words consent of the governed have become an empty phrase. Our textbooks on political science and economics are obsolete. Our nation has been hijacked by oligarchs, corporations, and a narrow, selfish, political, and economic elite, a small and privileged group that governs, and often steals, on behalf of moneyed interests. This elite, in the name of patriotism and democracy, in the name of all the values that were once part of the American system and defined the Protestant work ethic, has systematically destroyed our manufacturing sector, looted the treasury, corrupted our democracy, and trashed the financial system.“

Zustimmung der Regierten ist eine hohle Phrase geworden. Oligarchen und Privilegierte herrschen selbstsüchtig und kurzsichtig im Namen von Patriotismus und Demokratie und der alten Werte, die sie systematisch zerstören.

Eine Macht- und Geldelite höhlt die demokratische Teilhabe aus

Dieser Macht- und Geldelite gelang es, die intellektuelle Minderheit an den Rand zu drängen. Sie versteht es, die ungebildeten Massen genauso gut zu manipulieren wie das einem Dutzend herrschenden Familien im römischen Kaiserreich möglich war – und wie jene bedient sie sich zu diesem Zweck der uralten Mittel von Brot und Zirkusspielen. Keiner wird Präsident in den Vereinigten Staaten ohne ihr Placet, sprich ohne ihr Geld. Donald Trump ist gewiss nicht die Marionette Putins, wie Hillary Clinton behauptet, aber beide sind Marionetten der US-Amerikanischen Plutokratie.

Demokratie bedeutet Teilhabe an der Macht. Staaten im Aufstieg gewähren einem wachsenden Teil der Bürger erst die ökonomische, dann die politische Teilhabe. Der Unterschied zwischen Nord- und Südkorea, zwischen Westdeutschland und der damaligen DDR lag in diesem entscheidenden Gegensatz; er lässt sich durch die gesamte Geschichte verfolgen.

„To be inclusive, economic institutions must feature secure private property, an unbiased system of law, and a provision of public services that provides a level playing field in which people can exchange and contract; it also must permit the entry of new businesses and allow people to choose their careers.”

Privateigentum und öffentliche Dienste müssen Chancen für neue Unternehmen und Karieren bieten, um Teilhabe zu ermöglichen.

Ein starker Staat steht im Dienste des Aufschwungs, indem er für die Gleichheit der Chancen sorgt und in der Bevölkerung das Bewusstsein erzeugt, unter einer gerechten Regierung zu leben, welche die Belange aller Schichten vertritt. Ein Staat im Niedergang lässt die Konzentration von Macht in wenigen Händen hinzu – eine Entwicklung, die selbst der amerikanischen Machtelite früher einmal bewusst war. In seinem 1913 erschienenen Buch, The New Freedom, warnte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson:

“If monopoly persists, monopoly will always sit at the helm of government. I do not expect to see monopoly restrain itself. If there are men in this country big enough to own the government of the United States, they are going to own it.”

Wenn Monopole groß genug werden, um die US zu besitzen, werden sie es tun.

Eine Aussage, deren prophetischer Gehalt alsbald offen zutage trat, denn es war die radikale Monopolisierung wirtschaftlicher Macht, welche zu jenem Totalzusammenbruch der US-amerikanischen Wirtschaft führte, der unter der Bezeichnung „Great Depression“ in die Geschichtsbücher einging. Eine Krise von apokalyptischem Ausmaß war nötig, damit ein damaliger Präsidentschaftskandidat, nämlich Franklin D. Roosevelt, es wagen konnte, die Dinge neuerlich offen beim Namen zu nennen. In seiner berühmten Rede, gehalten 1932 in Philadelphia, war Folgendes von Roosevelt zu hören:

„Throughout the Nation, opportunity was limited by monopoly… For too many of us the political equality we once had won was meaningless in the face of economic inequality… A small group had concentrated into their own hands in almost complete control over other people’s property, other people’s money, other people’s labor – other people’s lives. For too many of us life was no longer free, liberty no longer real… „

Was würde ein Roosevelt angesichts der rasanten Niedergangs seines Landes heute sagen?

(Zitate aus Peter Watson 2010 und Chris Hedges 2000, Acemoglu 2012)

Die eingezogen Texte in Kursiv fassen die englischen Zitate in Kurzform zusammen.

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