Tichys Einblick
Pandemie im Schlachtbetrieb

Tönnies-Schließung und die Folgen: Aufruhr in der Fleischwirtschaft

Mit der pandemiebedingten Schließung des größten Tönnies-Betriebes in Rheda-Wiedenbrück fallen bereits rund 15 bis 20 Prozent der Schlachtkapazitäten auf dem deutschen Markt plötzlich weg, weitere könnten folgen. Etwa eine Woche bleibt den Bauern, ihre Schlachtschweine loszuwerden.

imago images / Revierfoto

Wie sehen die Frischfleischtheken der Supermärkte demnächst aus? Leergeräumt? Wurstwaren dürfte es noch geben, doch gelegentlich kritisch könnte es beim Frischfleisch werden. Eine Folge der Quarantäneanordnung für den Betrieb von Clemens Tönnies, die der Landkreis Gütersloh verantwortet. Der meldet täglich steigende positive Coronatests. Daraufhin wurde die größte der Fleischfabriken von Tönnies geschlossen, obwohl sie noch vor kurzem als »systemrelevant« eingestuft wurde. Sollten auch andere Tönnies-Betriebe oder die der kleinere Konkurrenz geschlossen werden fallen weitere erhebliche Kapazitäten weg und Engpässe verschärfen sich – und dann erheblich.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) verneint zwar, dass Coronaviren über Fleischwaren und andere Lebensmittel übertragen werden können. Dennoch kann der Gütersloher Landrat Quarantäne bereits riechen und droht mit einem allgemeinen Lockdown.

Die Zahlen geben Rätsel auf. Bei Tests von 6000 Tönnies-Mitarbeitern vor drei Wochen wurden 99,9 Prozent negativ getestet, jetzt bei neuen aktuellen Tests werden über 1500 Mitarbeiter positiv getestet. Wie es zu diesen Zahlen kam, ist offen. Kantinenregeln sollen durchbrochen worden sein, behauptet der SWR und stützt sich auf ein Video, das Mitarbeiter beim Essen zeigt und von dem nicht sicher ist, wann es aufgenommen wurde. T-Online wiederum meint, es sei ein Gottesdienst gewesen und kann so NRW-Ministerpräsident Laschet eins auswischen, der Gottesdienste früh zugelassen hat. Nach anderen Berichten seien es Heimfahrten der rumänischen Arbeiter in Reisebussen gewesen.

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Was stimmt und was nicht stimmt – sehr fraglich. Vor allem gibt es keine Angaben, wer tatsächlich erkrankt ist. Tönnies betont, dass nur Personen gemeinsam in der Kantine Pause gemacht haben, die auch zusammen arbeiten. Die Plätze in der Kantine seien erheblich reduziert und die Mundschutzpflicht auf Wegen in die Kantine eingeführt worden. Tönnies verweist darauf, dass diese Vorschriften bereits früh eingeführt und auch von der Berufsgenossenschaft begutachtet wurden seien. Zusätzlich inspiziere jetzt ein Arzt neben den Temperaturkontrollen die Angestellten beim Betreten der Gebäude.

In der Fleischindustrie wird sogar spekuliert, ob das ein gezielter Anschlage auf den Branchenriesen war. Denn man kann nicht behaupten, dass er rundum beliebt ist. Als größter Betrieb zieht er den Neid der Konkurrenten auf sich. Arbeiten bei den rund 1000 mittelständischen Betrieben der Fleischindustrie jeweils ein paar Dutzend Mitarbeiter aus östlichen Ländern, so sind es bei Tönnies mit 10 bis 15 000 Mitarbeitern gleich ein paar Größenordnungen mehr.

Die Schließung der Betriebes hat in jedem Fall Sprengkraft. Das größte Werk in Rheda-Wiedenbrück wird geschlossen, eines von drei großen Werken von Tönnies. Bis zu zwei Drittel der Schlachtkapazitäten auf dem deutschen Markt könnten plötzlich wegfallen, denn auch andere, wenn auch kleinere Konkurrenzbetriebe sind von der Infektion der Mitarbeiter betroffen.
Kritisch auch die Lage bei den Bauern: Etwa 160 000 Schweine werden in dieser Woche nicht mehr geschlachtet. Sie stauen sich in den Ställen auf. Die regelmäßige Versorgung der Fleisch- und Wursttheken ist ein zeitlich sehr eng getaktetes Geschäft. Etwa eine Woche bleibt den Schweinemästern, ihre Schlachtschweine loszuwerden. Danach sind sie zu schwer und sie bekommen ihre Preise nicht mehr, die sie benötigen. Die Ställe dagegen müssen geleert, desinfiziert und für die nächsten Schweine frei gemacht werden. Die Ernährung einer Bevölkerung ist eine nahtlos funktionierende Kette.

Die Bauern bekommen im Augenblick auch keinen Cent mehr für ihr Kilo Schweinefleisch. Die Erzeugerpreise sind trotz größerer Nachfrage und kleinerem Angebot nicht gestiegen.

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Die Schliessung des Tönnies-Betriebes hat auch erhebliche Folgen für Nachbarländer. Mit den sehr effektiven und daher preisgünstigen deutschen Schlachthöfen können die Betriebe in den Niederlanden und Frankreich nicht mithalten und schicken ihr Schlachtvieh aus Kostengründen in deutsche Schlachthöfe.

Doch jetzt klappt das nicht mehr. Auch dänische Schweinehalter können ihre Schweine nicht mehr zu Tönnies schicken. Ebenso müssen Bauern der sogenannten »Ökohaltung« sehen, wo sie mit ihren Schweinen bleiben. Denn die gingen ebenfalls zum Teil in die Schlachtfabrik von Tönnies.

Dort kostet die Schlachtung eines Schweines am wenigsten, um 10 Euro gegenüber etwa 100 Euro in kleineren Schlachtbetrieben und Metzgereien. Möglich sind diese extrem günstigen Preise durch einen perfektionierten Produktionsablauf. Jede Minute Zerlegearbeit an Rind oder Schwein kostet und ist bis zum letzten Handgriff durchrationalisiert. Schlacht- und Zerlegebetriebe wie die von Tönnies sind heute große fabrikähnlich organisierte Unternehmen mit fast ins extrem gesteigerten Hygienebedingungen.

Denn Lebensmittel können immer gleichzeitig ernähren und gefährlich sein. Tieren drohen Seuchen wie Milzbrand, Tollwut Rotz, Schweinerotlauf, Trichinellosen, der von einem Virus ausgelösten Maul- und Klauenseuche und viele andere mehr.
Der Blick auf reine Pflanzennahrung mit der Parole »Fleisch weg« allerdings bietet auch keine Entlastung. Denn mit einer Portion angeblich so gesunden Salats futtert man auch Unmengen an Viren und Bakterien, die potentiell krank machen können. Die Biobranche hatte mit EHEC-verseuchten Sprossen für den größten Lebensmittelskandal mit über 50 Toten und Hunderten von lebensgefährlich Erkrankten gesorgt.

In früheren Zeiten vor der Industrialisierung der Schlachtereien wurden in den Städten völlig unhygienisch an jeder Ecke Tiere geschlachtet und das Fleisch direkt verkauft, wobei viele Schlachter unter Zoonosen litten, unter von Tieren übertragenen Krankheiten. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in fast allen Städten große Schlachthöfe, in denen noch unter grauenvollen Bedingungen geschlachtet wurde. Immerhin hatte Berlin einen moderneren zentralen Schlachthof mit Ställen, Kühlhäusern und Veterinären. So schrieb es das Reichsviehseuchengesetz von 1880 »betreffend die Abwehr und Unterdrückung von Viehseuchen« vor.

1868 war bereits das Preußisches Schlachthofgesetz erlassen worden, das mit der Praxis des »an jeder Ecke Schlachtens« Schluss machen und die Versorgungssicherheit untermauern sollte. Schlachthöfe sollten als »Tempel der Hygiene« die Schlachtung übernehmen oft in Jugendstil-Gebäuden, die heute unter Denkmalschutz stehen. Innen taten in einzelnen Schlachtständen Metzger mit einem oder zwei Gehilfen ihre Dienste. Die Gemeinden hatten ihren regionalen kleinen Metzgern den Auftrag erteilt, die Schlachtung durchzuführen, weil sie über keine eigenen Fachleute verfügten; von Juristen wird dies als eine frühe Form der Werkverträge angesehen.

So ist dieses werkverträgliche Abwickeln historisch entstanden und bis heute geblieben. Das Bundessozialgericht erkennt den Werkvertrag an und sagt ausdrücklich, dass die Werkunternehmer einer selbständigen Tätigkeit nachgehen. Wenn jetzt Arbeitsminister Hubertus Heil mit markigen Worten Werkverträge plötzlich verbieten will, dürfte er rechtlich kaum eine Chance haben; seine Vorgängerin, Andrea Nahles, hatte noch Gutachten in Auftrag gegeben, die die Rechtmäßigkeit bestätigten.

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Erst die EU-Politik hat übrigens jenen großen Fleischfabriken den Boden bereitet. Sie wollte die kleineren regionalen Schlachthöfe nicht mehr und sorgte mit überzogenen Hygienevorschriften für das Aus. Damit begann das Sterben vieler kleiner und mittlerer Schlachthöfe, die teure Umbauten nicht mehr bezahlen konnten. Die unter Denkmalschutz stehenden Jugendstilgebäude wurden häufig zu Kneipen. Folge: lange Tiertransporte über weite Strecken und das Erstarken großer Schlachtbetriebe, die die nötigen Investitionen stemmen konnten. Diese großen Betriebe – Tönnies, Müller und Westfleisch – mussten ihre Geschwindigkeit deutlich hochfahren und dafür Mitarbeiter aus Osteuropa beschäftigen. Sie finden auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Kräfte mehr, die die anstrengende Arbeit in einem Schlachthof erledigen wollen: Schulterblätter ziehen, Knochen raushämmern, Fleisch trennen – in den absolut hygienisch-kalten Hallen eine sehr anstrengende Arbeit unter hohem Zeitdruck.

Für Rumänen und Bulgaren, die dort meist arbeiten, sind die zeitlich befristeten Arbeitsmöglichkeiten wiederum eine gute Verdienstmöglichkeit. Mit dem Lohn können sie sich in ihrer Heimat eine Existenz aufbauen. Sie sind nach EU-Recht sozialversichert – allerdings nach den Regeln ihrer Heimatländer. Dass sie eher weniger für die Gewerkschaften zu gewinnen sind, dürfte der Grund für die heftigen Attacken gegen die Werkverträge sein.

Mit hohem Missvergnügen betrachten die etwa 1000 mittelständisch orientierten Betriebe nun die ganz Großen der Branche. Sie stehen mit ihren meist fünf bis zehn Mitarbeitern, die sie zusätzlich über einen Werkvertrag beschäftigt haben, den Großen mit 10 bis 15 000 Menschen gegenüber. So groß ist die Kluft zwischen den drei Branchenriesen und der Mehrheit.

Die kleineren und mittleren Betriebe haben nur eine Chance am Markt, wenn sie verstärkt auf die Qualität ihres Fleischs achten und mit diesem Argument einen etwas höheren Erlös erzielen können. Doch sie haben wiederum keine Chance bei den großen Handelsketten. Allein das Ansinnen, bei Aldi, Lidl & Co mit Hinweis auf gestiegene Kosten zum Beispiel im Energiebereich einen schwachen Wunsch nach höheren Preisen zu äußern, führt zu einem donnernden „Raus!“

Die Wirtschaft im Fleischsektor folgt einer brutalen Logik: Der Preis zählt. Doch ist umgekehrt die Losung »Macht die Preise an den Ladentheken teurer« einfältig. Damit ist keinesfalls garantiert, dass höhere Preise an den Ladentheken auch mehr Spielraum für die Erzeuger bringen. Auch nur wenige gut Verdienende aus Politik, Medien, NGOs, Kirchen und Teilen der Wirtschaft können sich teures Fleisch leisten. Dem gemeinen Volk predigen sie Verzicht.

Nur ungefähr zehn Menschen in Deutschland bestimmen, was Fleisch kostet. Sie sind die Einkäufer der großen Handelsketten und lassen einmal pro Woche die Lieferanten zum Tanz antreten. Wagt der Hersteller, auch nur leicht auf Gestiegenes Preisniveau hinzuweisen, fliegt er raus. Draussen steht der nächste Lieferant. Oder vielleicht auch bald nicht mehr.

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