Nachdem das Bundesland Thüringen weit über seine Landesgrenzen hinaus bislang insbesondere für seine schmackhaften Bratwürste bekannt war, versorgt das Land seit der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten die ganze Republik mit einem neuen Exportgut, den Thüringer Bocksprüngen. Diese sind zwar nicht gleichermaßen so gut wie unumstritten die Bratwürste, finden aber wie diese nicht nur im eigenen Bundesland ihre überzeugten Anhänger. Allerdings werden ihre Rezepturen nicht in Thüringen selbst, sondern in Berlin hergestellt.
Das aktuellste Produkt aus dieser neuen Produktlinie sind Neuwahlen, zu denen vor einigen Tagen der aus den Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD bestehende Koalitionsschuss der Bundesregierung unter Anleitung von Kanzlerin Merkel die in den Erfurter Landtag gewählten Parteien aufgerufen hat. Wir wissen im Moment nicht, ob dieser Aufruf von der Kanzlerin wieder rückgängig gemacht würde, sollte die AfD sich ihm wider Erwarten anschließen; wir wissen inzwischen aber, dass er wohl mit Ramelow abgestimmt worden ist, den die Kanzlerin aus der Sitzung des Koalitionsausschusses heraus, dem sie eigentlich gar nicht angehört, angerufen hat.
Da die CDU Thüringen laut Umfragen bei Neuwahlen mit starken Stimmenverlusten zu rechnen hätte, kommt dieser Aufruf von Merkel und Ramelow einem Aufruf zum politischen Selbstmord gleich, dem die Thüringer CDU aus verständlichen Gründen bislang keine Folge leisten möchte. Ramelow möchte sie in den nächsten Tagen aber gleichwohl davon überzeugen, ihm und der Kanzlerin zu folgen und sich damit in den Augen ihrer Wähler völlig der Unglaubwürdigkeit und Lächerlichkeit preiszugeben. Dass Ramelow damit kein Problem hat, dies sogar sehnlichst wünscht, ist angesichts der zu erwartenden Zugewinne seiner Partei bei Neuwahlen ebenso nachvollziehbar wie legitim; dass die ehemalige Vorsitzende der eigenen Bundes-CDU ihn darin unterstützt, ist hingegen ein Vorgang, der alles Zeug dazu hat, in die Annalen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als eine Charade einzugehen, die ihresgleichen sucht.
Diesem von Ramelow seit seiner Abwahl in die Welt gesetzten Bedrohungsszenario hat bis heute niemand aus der CDU- oder CSU-Führung öffentlich widersprochen.
Mit der von der Kanzlerin verfügten Rückgängigmachung der Wahl Kemmerichs stattdessen in die Welt gesetzten Botschaft, parlamentarische Entscheidungen, die mit Hilfe von Stimmen der AfD zustande kommen könnten, dürften nicht zustande kommen oder müssten rückgängig gemacht werden, hat zur Konsequenz, dass in den Parlamenten in Zukunft die Oppositionsparteien allen Gesetzesvorlagen der Regierungen zustimmen müssen, sofern das Risiko besteht, die AfD könnte mit den anderen Oppositionsparteien gegen diese Vorlagen stimmen. Sollten sie dies nicht tun und zum Beispiel eine Gesetzesvorlage der Bundesregierung nicht nur von den Grünen, der FDP und der Linken, sondern auch von der AfD abgelehnt werden, müssten diese Parteien, mit Ausnahme der AfD, nachträglich ihre ablehnenden Voten in zustimmende umwandeln.
Die neu gewählte SPD-Führung kann diesem Szenario offensichtlich viel abgewinnen und hat deswegen erklärt, sie führe die Koalition mit CDU und CSU nur unter der Bedingung fort, dass Merkel Kanzlerin bleibt. Mit einer SPD-Kanzlerin Merkel ließe sich im Bundestag nämlich problemlos von den dortigen Oppositionsparteien, außer der AfD, fordern, allen von der Kanzlerin akzeptierten Gesetzesvorlagen der SPD zuzustimmen, um ein neues 1933 zu verhindern. Deutschland wäre so um den nächsten Thüringer Bocksprung reicher.