Tichys Einblick
Rest-Realos greifen an

Asyl-Showdown bei den Grünen

Die FDP zerreißt es bei den Schulden – die Grünen bei den Flüchtlingen. Auf dem grünen Bundesparteitag am Wochenende werden absolut unvereinbare Ansichten zur Asylpolitik ungebremst aufeinanderprallen. Die Ampelpartei kämpft derzeit vor allem mit sich selbst.

Bündnis 90/Die Grünen – Bundesdelegiertenkonferenz 2023 in Karlsruhe, 23. November 2023

IMAGO / Chris Emil Janßen

Wenn ein Satz mit „eigentlich“ beginnt, bedeutet das ja fast immer: „eigentlich nicht“. Eigentlich wollten die Grünen auf ihrem Parteitag in Karlsruhe ab Freitag ihr EU-Wahlprogramm der brennend interessierten Weltöffentlichkeit vorstellen. Eigentlich. Doch daraus wird absehbar eher nichts. Tatsächlich wird die „Bundesdelegiertenkonferenz“ wohl eine Art Endkampf um die Migration.

Zwei sogenannte Dringlichkeitsanträge hat der Bundesvorstand selbst noch kurzfristig ins Programm gehoben: „Solidarität mit Israel: Für Frieden, gegen Hass und Terror“ und „Humanität und Ordnung: für eine anpackende, pragmatische und menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik“. Die Reaktionen der Basis schon vor Beginn des Parteitags zeigen klar, wo mit den heftigsten Konflikten zu rechnen ist.

Satte 136 Änderungswünsche zum vorgeschlagenen Asyltext der Parteiführung sind in der Bundesgeschäftsstelle hinterlegt worden (nachzulesen auf deren Internetseite). Zum möglicherweise geopolitisch auch nicht ganz unwichtigen Nahostkonflikt sind es – trotz der bekannt gespaltenen Haltung der Grünen zu Israel – gerade einmal sechs (6).

Keineswegs alles „Deutsche“
Ägypten will 7.000 Gaza-Flüchtlinge ausreisen lassen – auch mit Endziel Deutschland?
Während auch bei bisher wohlmeinenden Flüchtlingsfreunden die Asyl-Stimmung draußen im Land immer schneller und weiter kippt, sind den grünen Zuwanderungs-Hardlinern schon die winzigen Zugeständnisse viel zu viel, die die Partei bei der „Migrationskompromiss“ getauften Mogelpackung von Olaf Scholz gemacht hat. Beispielhaft sind hier die Verlautbarungen der sogenannten NGO und grünen Vorfeldorganisation „Pro Asyl“.

Die fordert von den Grünen eine Wende in der Migrationspolitik und die Rückbesinnung auf die Grundwerte der Partei: „Die Grünen müssen sich wieder klar als Menschenrechtspartei verorten und diese auch in der Regierungsarbeit verteidigen.“ Flüchtlingsschutz sei Teil der „grünen DNA. Vor allem die Mandatsträger der Partei dürften sich in der Migrationsdebatte nicht von rechtspopulistischen Diskursen treiben lassen und „eine Verschärfung nach der anderen“ vornehmen.

Am bedrohlichen Grummeln an der Basis und im wichtigen NGO-Vorfeld kam der Bundesvorstand nicht vorbei. Ein Dringlichkeitsantrag zu dem Thema war also unausweichlich. Doch in der Flüchtlingsfrage bewegen sich die grüne Seele und die öffentliche Meinung in strikt entgegengesetzte Richtungen. Der Text war also vom Start weg ein Ritt auf der Rasierklinge: Er sollte einerseits die Delegierten besänftigen, ohne andererseits allzu viele Wähler zu verschrecken. Und er sollte, drittens, eine offene Feldschlacht um das Thema auf dem Parteitag verhindern.

Das wird nicht gelingen, wie wir gleich sehen werden.

„Unser Land kann diese Aufgabe meistern.“ So klingt es in der typisch verkopften Parteitagsantragssprache, wenn Grüne sagen wollen: Wir schaffen das. Zunächst wiederholt der Bundesvorstand grüne Glaubenssätze: „Wer Schutz braucht, muss Schutz bekommen.“ Dann wird die übliche argumentative Nebelkerze gezündet: „Wir brauchen Menschen, die zu uns kommen und hier arbeiten wollen. Denn unsere Gesellschaft braucht Migration, unsere Wirtschaft benötigt Fach- und Arbeitskräfte.“

Glosse
Der Traum vom Arbeiter, der von der grünen Zukunft träumt
Schon die Prämisse hier ist bekanntlich umstritten: Eine Volkswirtschaft mit so vielen Arbeitslosen kann natürlich ihre Fachkräfte auch selbst ausbilden (und muss die vorhandenen nicht so früh in Rente schicken). Die Folgerung ist dann nur noch Quatsch: Denn erwiesenermaßen kommen ja nur sehr wenige Fachkräfte zu uns – dafür aber buchstäblich Millionen, die in unseren Arbeitsmarkt auch beim besten Willen nicht zu integrieren sind. (Wie viele von den Zuwanderern überhaupt ernsthaft arbeiten wollen, soll hier gar nicht weiter erörtert werden.)

Man kann dem grünen Bundesvorstand durchaus zugutehalten, dass er dann versucht, sich den Realitäten zumindest anzunähern. „Nur eine Politik, die Werte und Wirklichkeit verbindet, wird auf Dauer tragen.“ Auf einer zweiten Sprachebene ist der Satz die geradezu flehentliche Bitte an die Delegierten, die Welt doch bitteschön auch mal so zu sehen, wie sie ist – und nicht immer nur so, wie man sie sich wünscht.

Danach sollen dem Parteitag zumindest ein paar Verschärfungen schmackhaft gemacht werden: „Mehr geregelte Migration ermöglicht weniger ungeregelte Migration.“ Das Äußerste, was die Parteiführung sich traut, ist schließlich der Satz: „Nicht jeder, der nach Deutschland kommt, kann bleiben.“ So etwas sagt man nicht ungestraft, jedenfalls nicht bei den Grünen.

Das orthodoxe Rollkommando hat die Bundesgeschäftsstelle nach altbekannter Manier mit Änderungsanträgen überflutet, die den Ursprungstext des Parteivorstands inhaltlich pulverisieren. Da wird gegen alles geschossen, was Zuwanderung irgendwie erschweren könnte (und dem die grünen Minister teilweise sogar schon zugestimmt haben). So heißt es unter anderem: „Wir setzen uns gegen ein System von Massenhaftlagern ein.“

Stattdessen sollen künftig auch „Klimaflüchtlinge“ in den Genuss des vollen Schutzstatus kommen. Die EU-Grenzsicherungstruppe Frontex soll sofort komplett abgeschafft werden. Von den eigenen Ministern und Abgeordneten wird Unterwerfung unter diese Vorgaben gefordert: „Weiteren Asylrechtsverschärfungen, wie etwa restriktiveren Regelungen für Rückführungen, der Kürzung von Sozialleistungen für Geflüchtete, der Absenkung von Schutzstandards, einer Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, Schnellverfahren an Außengrenzen, der Unterbringung von Flüchtenden in Außengrenzlager sowie der Zurückweisung von Flüchtenden in vermeintlich sichere Drittstaaten dürfen weder die grünen Minister*innen in Bund und in den Ländern noch grüne Fraktionen zustimmen.“

Dann gibt es noch eine unverhohlene Drohung an die Koalitionspartner SPD und FDP: „Sollte eine konstruktive Migrationspolitik, welche sich an diesen Vorschlägen und Forderungen orientiert und Menschenrechte uneingeschränkt achtet und schützt, in dieser Regierungskoalition nicht umsetzbar sein, bleibt uns leider nichts anderes übrig, als die Ampelkoalition zu verlassen.“

Doch die wenigen noch verbliebenen Realos bei den Grünen sind offenbar entschlossen, diesmal nicht kampflos aufzugeben. Auch sie haben in einer offenbar konzertierten Aktion zahlreiche Änderungsanträge zum Text des Bundesvorstandes eingebracht. Da heißt es zum Beispiel:

„Humanität und Ordnung sind nur durch eine steuernde Migrationspolitik erreichbar.“

„Um Kapazitäten zu erhalten, müssen wir auch irreguläre Migration reduzieren.“

„Dort (an den EU-Außengrenzen, die Red.) laufende, zeitlich begrenzte Grenzverfahren leisten einen wichtigen Beitrag.“

„Migrations- und Rückführungsabkommen (…) beschleunigen Rückführungsverfahren für diejenigen, die nicht dauerhaft bleiben können.“

TE-Exklusiv
Heiko Teggatz über Abschiebungsstau und die neuen Polit-Offiziere
Das alles geht nicht nur deutlich weiter als der ursprüngliche Dringlichkeitsantrag der Parteiführung, es geht auch vollständig in exakt die entgegengesetzte Richtung dessen, was die Parteilinke fordert.

Nun ist jede Bundesdelegiertenkonferenz ein Hochamt der innerparteilichen Orthodoxie. Es sind halt immer auch sehr viele Delegierte dabei, die selbst niemals irgendein öffentliches Amt oder Wahlamt bekleidet haben (oder die auch nur die entfernte Aussicht darauf hätten). Die einzige Sphäre, in der diese Leute politisch wirken können, ist die Partei. Dort profilieren sie sich, vor allem bei den vielen anderen Delegierten ohne Staatsamt oder Abgeordnetenmandat, dann als Hüter der wahren Werte: indem sie die radikalsten Positionen vertreten und die knackigsten Forderungen stellen.

Die haben natürlich nicht nur keinerlei Aussicht, jemals in der Wirklichkeit umgesetzt zu werden – sie sind meist außerhalb der Partei und jenseits der treuesten Anhänger auch nur wenig populär. 1998 ließen die grünen Partei-Orthodoxen ins damalige Wahlprogramm schreiben, dass man einen Benzinpreis von fünf Mark pro Liter anstrebe. Wahlforscher sind sich einig, dass die Grünen bei der darauffolgenden Bundestagswahl ohne diese irre Forderung noch deutlich besser abgeschnitten hätten.

Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock haben als einstige Doppelspitze ihre Partei zwar überhaupt erst in die jetzige Ampelregierung geführt. Auf ihren jeweiligen Kabinettsposten haben sie dann aber zunehmend die grünen Gralshüter verärgert: mit angeblich zu vielen Zugeständnissen an die Koalitionspartner SPD und FDP, heißt es bei der Parteilinken – zu lasches Heizungsgesetz, zu viel Nähe zu Israel und vor allem auch zu wenig Mitgefühl mit Flüchtlingen.

Gegen Habeck und Baerbock hat sich parteiintern eine so große Anti-Stimmung aufgebaut (und ist von interessierten Linken wie Jürgen Trittin fleißig aufgebaut worden), dass die beiden jetzt die Reißleine ziehen. Um einer öffentlichen Demontage in Form eines miserablen Wahlergebnisses zu entgehen, verzichten beide auf ihre letzten Parteiämter: Für den sogenannten Parteirat stellen sie sich nicht mehr zur Wahl.

Der inhaltliche Showdown in der Flüchtlingsfrage wird sich dagegen nicht aufhalten lassen.

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