Im besten Deutschland, das wir jemals hatten, scheint es zum guten Ton zu gehören, unbescholtene Bürger zu beleidigen und zu kriminalisieren – vor allem in der Impfdebatte.
Leute, die nicht einsehen, dass nur „Impfen aus der Pandemie führt“ (Karl Lauterbach), erfahren, dass es sich bei ihnen um „Bekloppte“ (Joachim Gauck), Blinddärme (Sarah Bosetti vom ZDF), Geiselnehmer (Lauterbach), Tyrannen (Frank Ulrich Montgomery) und „gefährliche Sozialschädlinge“ (der FDP-Politiker Rainer Stinner) handelt.
Wer geglaubt hat, es gäbe keine Steigerungsmöglichkeiten sprachlicher Enthemmung mehr, muss sich eines Schlechteren belehren lassen. Kürzlich meinte der Arzt Marc Hanefeld, bekannt durch Auftritte in NDR, ZDF und in anderen Medien, seinem hippokratischen Eid dadurch gerecht zu werden, dass er Ungeimpfte als „enthirnt“ und „asozial“ beschimpft:
Eine Twitter-Einlassung, wie sie charakteristischer nicht sein könnte: Jemand geht in seinem Hass auf eine Gruppe, die im Einklang mit dem Grundgesetz handelt, aber nicht das tut, was dieser Jemand für richtig hält, so weit, die Abweichler als „enthirnt“ zu beleidigen. Kritik an seinem öffentlich zur Schau gestellten Hass bezeichnet er als Hass, ohne seinen Hass zu relativieren. Im Gegenteil – er legt nach, und zwar mit einem besonders toxischen Begriff: asozial.
Der Twittermob kennt nur einen Betriebsmodus: hysterische Dauererregung, deren einziger Zweck es ist, sich in endlosen Spiralen weiter aufzuschaukeln. Diejenigen, deren Twitter-Äußerungen durch die Vervielfältigung in den Medien moralisch zertifiziert werden, versuchen, die Skala in immer krassere Eskalationsstufen zu verschieben – und wundern sich dann, dass sich die derart Beschimpften durch die Beschimpfungen nicht überzeugen lassen.
Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery etwa empfahl das demokratische Überzeugungsinstrument der „Peitsche“, um „Impfverweigerern“ Einsicht beizubringen. ÖVP-Politikerin Juliane Bogner-Strauß denunzierte dieselbe Gruppe als „Todesengel“, womit sie Menschen, die selbst darüber bestimmen wollen, welche Substanzen sie ihrem Körper zuführen, mit Mördern gleichsetzt. Und nun wird also der schwer kontaminierte Begriff des „Asozialen“ reanimiert. Hier lohnt ein Blick in die Sprachgeschichte.
Im Jahr 2015 erklärte der Deutschlandfunk das Wort „asozial“ als „Nazi-Begriff“, eingesetzt zur „Stigmatisierung“ von Bettlern, Landstreichern, Fürsorgeempfängern, den sogenannten „Arbeitsscheuen“. In der DDR galt als „asozial“, wer „als Saboteur am Aufbau des Sozialismus empfunden“ wurde, also im Grunde jeder, der politisch Oppositioneller war, ja schlimmer noch: „Wer unangepasst war, wurde als Asozialer abgestraft“.
Interessant ist, wie das Wort „asozial“ vor seiner Instrumentalisierung in zwei deutschen Diktaturen verwendet und verstanden wurde: nämlich analytisch statt normativ. Der Historiker Wolfgang Ayaß zitiert dazu Sigmund Freud, der den Traum als „asozial“ begreift, „weil man ihn nur für sich alleine hätte“. Asozial diente also ursprünglich schlicht als Synonym für „individuell“.
Wegen seines Bedeutungswandels in der NS-Zeit galt der Begriff „asozial“ in der Vor-Corona-Zeit als sprachliche Diskriminierung von Minderheiten. Der Psychologe Ulrich Hermannes beklagte etwa, der Begriff diene der „Ausgrenzung“, operiere mit dem „Pauschalvorwurf der unberechtigten Teilhabe am Volksvermögen“.
Sogar noch am 8. März 2021, als die Impfkampagne schon Fahrt aufgenommen hatte, mahnte die Süddeutsche Zeitung: „Warum der Begriff ‚asozial’ problematisch ist“.
Aber schon kurz nach dieser inneren Einkehr, am 14. Juli 2021, ließ Nils Minkmar im selben Blatt schweres Geschütz donnern, als er erklärte: Eine „Verweigerung [der Corona-Impfung] ist asozial“ – und damit den Rat seiner Kolleginnen in den Wind schlug, die befanden: „Bis heute geht das Wort ‚asozial’ vielen Menschen sehr leicht über die Lippen. Angesichts der NS-Geschichte dieses Ausdrucks wirkt das erstaunlich.“ Um so mehr, als selbst eine ganze Reihe anderer Begriffe ohne Diktaturhintergrund heute als „stigmatisierend“ gelten – zumindest dann, wenn sie nicht gerade gegen Impfgegner eingesetzt werden.
Schon vor Jahren störte sich die Nationale Armutskonferenz an einem Wort wie „alleinerziehend“, das auf die Liste der „Sozialen Unwörter“ gesetzt wurde, um es aus dem Sprachgebrauch zu verbannen.
Begründung: „’Alleinerziehend’ sagt nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität aus – beides wird jedoch häufig [da]mit assoziiert“. Ein Wort, das völlig neutral einen Sachverhalt beschreibt, wird subjektiv als wertend empfunden – und anschließend wird die zugeschriebene Wertung, die das Wort gar nicht enthält, beklagt. In dieser Logik ist sozial, wer auf den Begriff „alleinerziehend“ verzichtet, dafür aber Mütter, die ihre Kinder alleine erziehen, ohne sich eine Corona-Impfung verpassen zu lassen, als „Asoziale“ etikettiert.
Als Speerspitze sprachlicher Gerechtigkeit verstehen sich die „Formulierungshilfen für die Berichterstattung im Einwanderungsland“ aus dem Labor der „Neuen Deutschen Medienmacher“:
Was aber machen die „Neuen Deutschen Medienmacher“, wenn sie feststellen, dass viele „Bürger mit Einwanderungsbiografie“ die Corona-Impfung ablehnen? Sind diese „Mehrheimischen“ dann auch „Enthirnte“, die wie ein „Blinddarm“ aus der „multikulturellen Aufnahmegesellschaft“ entfernt werden müssen, weil es sich um „Asoziale“ handelt?
Es ist schon mehr als bemerkenswert, wenn eine vorgeblich hochsensible Wortklauber-Sekte keinerlei Probleme damit hat, Menschen völlig unterkomplex mit einem Begriff wie „asozial“ zu belegen. In der sprachsensibelsten und tolerantesten Gesellschaft, die sich wohlmeinende Bürger und Bundespräsidenten vorstellen können, kehrt ein alter NS-Begriff zurück: Und keiner der einschlägigen Twitter-Moralwächter scheint sich daran zu stören.
Und warum die Maßnahmen, mittels derer alte Menschen in Altenheimen isoliert und dem einsamen Sterben überlassen wurden („zu unser aller Sicherheit“) gemeinschaftsbildend gewesen sein sollen – das kann wahrscheinlich nur ein Menschenfreund wie Karl Lauterbach erklären.
Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor
Dieser Text ist auch bei Publico erschienen