Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat wieder einmal einen Weg gefunden, um das Märchen von der immer weiter aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich weitererzählen zu können. Mit Aussagen wie „steigende Polarisierung“, „die Spreizung hat zugenommen“ oder „nach der deutschen Wiedervereinigung ist die Schere weiter auseinander gegangen“ zimmert die DIW-Ökonomin Charlotte Bartels am vorgefertigten Narrativ.
So oft wie in den letzten Jahren allein das DIW im Wechsel mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband drastisch beschwor, dass die sogenannte Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufklaffe, da müsste allein schon die bloße Anzahl der Verlautbarungen skeptisch machen. Da dürfte inzwischen nicht viel mehr als Massenelend übriggeblieben sein, wenn das immer so gestimmt hätte.
Anders lässt es sich für mich nicht erklären, wenn jemand solche Ableitungen aus einer Einkommensuntersuchung zieht, bei der weder Steuern und Abgaben noch Transferleistungen berücksichtigt wurden. Was hat eine Untersuchung von Einkommen über 140 Jahre – oder auch nur von 1960 bis heute – für einen Wert, wenn alle Einkommen vor Steuern und Abgaben betrachtet werden, einzelne Einkommen (wie Renditen unterhalb des Sparerfreibetrags) überhaupt nicht vorkommen und Haushalte, die Transfereinkommen beziehen, mit Nulleinkommen eingehen.
Aus dieser Betrachtung vor Umverteilung lässt sich dann wohl korrekt der Titel „Einkommensverteilung in Deutschland: Spreizung der Bruttoeinkommen hat seit der Wiedervereinigung zugenommen“ für die Presse formulieren. Wer achtet da schon groß auf das Wörtchen „brutto“. Wie groß aber die Diskrepanz zum Netto ist, lässt sich beim DIW-Kollegen Stefan Liebig, Leiter des sozio-ökonomischen Panels, erahnen. Der hat für den Zeitraum ab den 90er Jahren dazu erst vor Kurzem gegenüber der FAZ festgehalten: „Im oberen Bereich beobachten wir Einkommensgewinne, im unteren auch, aber in der Mitte greift der Staat durch Einkommenssteuer und Sozialversicherungsabgaben besonders viel von den Gehaltserhöhungen ab.“ Das klingt so gar nicht nach aufgehender Schere.
Allein schon, dass in dieser Aussage ganz nebenbei die Hälfte der Einkommensbezieher als „Niedrigverdiener“ abgekanzelt wird – wobei vom Einkommensniveau sowieso selbstredend nirgends groß die Rede ist –, zeigt welch Geistes Kind die Autorin ist. Dass die politische Forderung zuallerletzt – mehr Beteiligung der unteren Einkommensgruppen an den Unternehmensrenditen – dann nur auf einer Vermutung fußt, ist armselig.