„Remember who we are“, erinnern wir uns daran, wer wir sind. „Das ist es, worum es in der ARC-Konferenz ging.“ Jordan Peterson ruft diesen Satz von der Bühne des Magazin London im Norden von Greenwich zu den eintausendfünfhundert Zuhörern unten im Saal. Dann geschieht etwas, was Peterson, Psychologe, Autor mit großem Publikum, Professor in der altmodischen Bedeutung des Begriffs – Bekenner –, sonst nie passiert. Seine Stimme zittert. Für ein, zwei Sekunden verändern sich seine Gesichtszüge. Er wischt eine Träne weg.
Peterson hält an diesem Spätnachmittag des 3. Novembers den Schlussvortrag der ARC-Konferenz. ARC steht für ‚Association for Responsible Citizenship‘. Sein Vortrag soll drei Konferenztage zusammenfassen, in denen es, frei übersetzt, um die Begründung einer neuen Bürgerlichkeitsidee ging, mit Teilnehmern aus den USA, Kanada, Südamerika, Asien. Afrika und Australien. Vielleicht merkte Peterson erst in diesem Moment, dass sich in seinem Vier-Worte-Satz alles bündelt, worüber Konservative, Liberal-Konservative und Libertäre, worüber Dutzende Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker in drei Spätherbsttagen auf der Bühne und alle 1500 Gäste in den Pausen und später beim Abendessen debattierten. Wer sind Wir im Westen? Wovon sprechen wir, wenn wir Bürger sagen?
Das Leitmotiv der Konferenz lautete: A Better Story – es sollte also darum gehen, eine bessere Geschichte zu erzählen als die Identitätspolitiker, die kritischen Rassen- und Postkolonialtheoretiker von Berkeley bis Berlin, kurz, die Regressiv-Progressiven, die mittlerweile große Teile der Sinnproduktion im Westen beherrschen.
Als sich die konservative Oberhausabgeordnete Philippa Stroud, Jordan Peterson und andere schon 2022 daran machten, die Konferenz zu organisieren, setzten sie sich erstens mit einem fundamentalen Irrtum und zweitens mit einem ebenso grundlegenden Unwillen unter den Nichtlinken auseinander. Deren Irrtum bestand darin zu glauben, Ideen wie die Bürgergesellschaft, Eigenverantwortung, freie Rede, Gewaltenteilung und vieles mehr besäßen von sich aus eine solche Strahlkraft, dass ihnen die Attacken der Illiberalen mit der Fortschrittsfahne nicht besonders viel anhaben könnten. Lange hingen die Verfechter der offenen Gesellschaft auch der Illusion an, ihr Modell des Zusammenlebens würde sich von selbst erklären. Dazu kommt die Abneigung der sehr unterschiedlichen Nichtlinken von konservativ bis liberal, sich zu versammeln und zu einem internationalen Netzwerk zusammenzuschließen. Das beherrschte und beherrscht die alte und neue Linke aller Schattierungen ohne jede Frage besser.
Die Bürgergesellschaft erklärt sich nicht von selbst. Und zu ihrer Verteidigung genügt es nicht, das Glaubensgebäude von Identitätspolitik und weißer Schuld einfach nur abzulehnen. Wenn die Bürger Boden zurückerobern wollen, so ungefähr lässt sich die Grundidee von Stroud und anderen umreißen, dann brauchen sie ihre eigene Erzählung. Und zwar eine attraktivere als die der Gegenseite. „Wir waren über Jahrzehnte nicht besonders gut darin, das zu vermitteln“, sagte Jordan Peterson in seinem Vortrag ganz am Anfang der Konferenz.
„Die ganz Linken“, meinte James Orr, liberal-konservativer Professor für Philosophie und Religion in Oxford, „hatten früher ihre Komintern.“ So etwas Ähnliches bräuchten die Verfechter des Westens jetzt auch, notgedrungen. Und mit der Association for Responsible Citizenship käme die Verbindung der nicht gleich, aber immerhin ähnlich Gesinnten von Kalifornien über London nach Berlin und weiter bis Canberra zwar spät, aber eben nicht zu spät. Damit, so Orr, finge die eigentliche Arbeit erst an. „It’s the end of the beginning“, sagt er, als Zitat von Winston Churchills Satz nach dem Sieg von El Alamein: „Now this is not the end. It is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end of the beginning.“ Das Ende der Anfänge. Denn bei dieser Gründungskonferenz der ARC handelt es sich um einen Anfang, um eine allererste Etappe. Das nächste Treffen soll 2025 ebenfalls in London stattfinden und auch zwischendurch möchte die noch sehr junge Organisation als internationale Denkstube für alle gelten, die – um es mit dem gelegentlichen und wahrscheinlich unvermeidlichen Pathos der ARC-Leute zu sagen – den Begriff des Westens wieder zum Leuchten bringen wollen.
Konservative und liberale Denkfabriken gibt es, sogar die eine oder andere Stiftung, wobei keine davon über annähernd so viel Mittel verfügt wie die Open Society Foundation von George Soros oder das Großkonglomerat World Economic Forum, kurz WEF, mit seinem jährlichen Auftrieb in Davos.
Bisher gab es überhaupt keine internationale Struktur, in der ein Jordan Peterson zu 1500 Zuhörern aus Dutzenden Ländern hätte sprechen können. Noch während der Konferenz in London ging das Wort vom Anti-Davos um, das es nicht ganz trifft. Denn die Veranstaltung verfolgte ja gerade den Zweck, über ein bloßes Gegenbild hinauszukommen. Andererseits passt es zumindest soweit, als die ARC dem WEF in ihrer Struktur ähnelt, nur eben mit anderem Vorzeichen. Auf der Halbinsel von Greenwich trafen sich Wissenschaftler und Publizisten wie der schottische Historiker Niall Ferguson, der dänische Klimaökonom Bjørn Lomborg, der Autor und, wie er sich selbst nennt, Ökomodernist Michael Shellenberger aus San Francisco, die Autorin und Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali, der aus New York zugeschaltete Sozialpsychologe und Autor Jonathan Haidt, der Physiker und Anti-Klimaapokalyptiker Steven Koonin, per Video zu Gast aus Kalifornien, und eine lange Reihe anderer Forscher und Hochschullehrer; eine große Riege von Politikern, darunter mehrere Dutzend Parlamentsabgeordnete, etwa Kevin McCarthy, vor kurzem (unterlegener) republikanischer Kandidat für den Posten des Mehrheitssprechers im Kongress, die britische Staatssekretärin für Handel und Wirtschaft Kemi Badenoch, außerdem Ex-Politiker wie die früheren australischen Premiers Tony Abbott und John Howard. McCarthys erfolgreicherer Kollege Mike Johnson, seit kurzem neuer Speaker of the House, ließ sich aus Washington für eine kurze Ansprache zuschalten.
Die dritte Gruppe bildeten Unternehmer, darunter der Investor Paul Marshall, dessen Fonds Marshall Wace gut 60 Milliarden Dollar verwaltet, Alan McCormick von dem Investmentunternehmen Legatum, der Vorstandschef des Energieförderung-Ausrüsters Liberty Energy Chris Wright und andere. Marshall, der auch das britische Online-Magazin UnHerd gründete und der gerade versucht, den ehrwürdigen Telegraph zu kaufen, gehört zur extrem raren Sorte von Investoren am Finanzmarkt, die sich kritisch mit der Finanzbranche und Phänomenen wie den ESG-Kriterien (Environment, Social and Gouvernance) auseinandersetzen und dabei sehr genau wissen, wovon sie reden.
Das ARC-Netzwerk will nicht nur ein Gegengewicht zu den Akademikern, Studenten und Journalisten bilden, die gerade die Massaker der Hamas bejubeln oder zumindest kleinreden und den Westen in die Rolle des Dauerangeklagten zu drängen suchen, nicht nur zu antiwestlichen Stichwortgebern wie Ibram X. Kendi und Neosozialisten in der Politik von Alexandria Ocasio-Cortez und Rashida Tlaib bis Ricarda Lang. Es greift auch den crony capitalism an, die Verschmelzung von wirtschaftlicher mit politischer Macht, die Globalsteuerungsphantasien, wie sie ein Klaus Schwab auf etwas clowneske, ein Bill Gates mit seiner Stiftung auf eine etwas elegantere Art verfolgt. Der Abwehrkampf gegen den crony capitalism ist vor allem das Thema von Paul Marshall. In Brüssel gäben Unternehmen Milliarden Euro pro Jahr für Lobbyismus aus, meinte er in seiner Rede. „Das nenne ich gut investiertes Geld.“
Ein Gegengewicht zu der Veranstaltung in den Schweizer Bergen, bei der sich eine ähnliche Mischung aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft trifft (mit deutlich mehr CEOs), ein solcher Gegenpol braucht seine eigene Erzählung, um sich erst einmal zu rechtfertigen, um dann weiter auszugreifen. Das kostet eine erhebliche Anstrengung auf einem Treffen, in dem klassische Reagan-Konservative wie McCarthy klassisch Liberalen wie Marshall begegnen, dazu Vertretern der Mitte (so beispielsweise die Selbstdefinition von Haidt, „den Linken zu rechts, den Rechten zu liberal“) und Libertären wie Shellenberger. Dazu kommen noch über allen Kategorien schwebende Freigeister wie der Satiriker Konstantin Kisin, dessen Rede – einer der besten in den drei ARC-Tagen – mittlerweile auf Youtube mehr als eine halbe Million Zuschauer gefunden hat.
Die Hamas-Massaker vom 7. Oktober erwähnten viele Redner und Podiumsgäste; die Morde in Israel und ihre weltweite Feier in Harvard und auf der Sonnenallee machten den Gästen noch etwas klarer, als es sonst der Fall gewesen wäre, in welcher Defensive sich die Idee der Bürgergesellschaft befindet. Nach dem Anblick der hunderttausend Demonstranten in London, die ihre Unterstützungsslogans für die Terrororganisation und ihren Säuberungswunsch „from the river to the sea“ skandierten, nach diesen Szenen, so Kisin, sei er sich nicht sicher, „ob diese Zivilisation überleben wird“. Die Barbaren, meinte er, stünden eben nicht draußen vor den Toren. Sondern in den westlichen Ländern selbst.
In seinem Schlussvortrag erzählte Jordan Peterson etwas über seine Erfahrung als Vater, um zu erklären, worin in seinen Augen der Zweck der Konferenz bestand. Wenn man einen Zweijährigen auffordern würde, das Zimmer aufzuräumen, in dem seine Spielsachen den Fußboden bedecken, dann, so der Psychologe, würde das Kind das nicht tun. Nicht aus Bockigkeit, sondern weil ein Zweijähriger das Konzept ‚aufgeräumtes Zimmer‘ nicht versteht. Wer also in chaotischen Verhältnissen Ordnung schaffen oder Verhältnisse vor dem völligen Sturz ins Chaos retten will, muss auch als Erwachsener erst darüber nachdenken, was Ordnung für ihn bedeuten soll. Für Peterson gibt es dafür mehrere Schlüsselworte. Das, was er in diesem Zusammenhang am häufigsten benutzt, lautet Verantwortung, Responsibility, einen Begriff, den er ausbuchstabiert als ‚Fähigkeit, Antworten zu geben‘.
Alle, die sich in der Halle am Themseufer und später bei einem der drei Dinner versammeln, teilen die Grunddiagnose, dass die Idee der offenen Gesellschaft ihre vermutlich größte Bedrohung erlebt, die anders als Kommunismus und Nationalsozialismus aus dem Inneren des Westens stammt. Und nicht von seinen Rändern, sondern aus den Zentren. Die große Frage der Konferenz lautete: Wie könnte eine westliche Gesellschaft aussehen, in der nicht mehr hochaggressive Minderheiten die Universitäten besetzt halten, in der Medien sich wieder als Kritiker der Macht betätigen statt als deren Lautsprecher? In der nicht mehr politische und mediale Prediger unentwegt die Grenzen der Schuldzone ausweiten, in der nicht mehr die Feinde von allem Westlichen auf den Straßen die Machtfrage stellen? Wer sich diese Alternative nicht wenigstens vorstellen kann, bekommt sie vermutlich nie zu sehen.
Die Diskutanten in London steckten drei weite Felder ab. Zum einen Kinder, Familie, Bildung, zweitens Klima und Energie, drittens die Verteidigung freier Märkte. Die interessantesten Einsichten gab es auf Feld eins. Vermutlich deshalb, weil hier auch die Auflösungserscheinungen am weitesten gehen. Niall Ferguson, ehemals Professor in Harvard und an der New York University, heute Forscher am Jesus College Oxford, forderte die Entpolitisierung der Bildungseinrichtungen, also die Rückeroberung von Universitäten, um sie wieder zu Orten von Wissensvermittlung und der Diversität von Ansichten zu machen. Dafür gibt es verschiedenen Modelle.
Eins davon sieht vor, neue Institutionen zu gründen, wie es die frühere Journalistin Bari Weiss, der frühere Portland-Professor Peter Boghossian und andere mit ihrer nichtwoken Universität tun, die 2024 ihre ersten Studenten empfangen wird.
Ein zweites besteht in einem Netzwerk von Wissenschaftlern, die den Meinungsstreit innerhalb des bestehenden Betriebs erhalten und pflegen wie Altgrüne ehemals ein kostbares Biotop. Zur Heterodox Academy, mitgegründet von Jonathan Haidt, gehören mehr als 6000 Akademiker ganz verschiedener Hochschulen, die sich aus freien Stücken in die Kontroverse mit Kollegen stürzen. Das Konzept der virtuellen Akademie besteht darin, dass Wissenschaftler dort zivilisiert mit Kollegen streiten, die andere Ansichten vertreten. Nicht unbedingt, um den anderen zu überzeugen – wobei das natürlich passieren kann –, sondern vor allem, um die eigenen Argumente zu schärfen, andere Argumente zu hören, um meist zu einem „constructive disagreement“, einer konstruktiven Nichtübereinstimmung zu kommen.
In einer dritten Variante versuchen Akademiker, informelle Netze zur Verteidigung der Meinungsfreiheit in bestehenden Institutionen zu knüpfen. Dafür plädiert beispielsweise der schon erwähnte James Orr, als konservativer Professor in Oxford eine seltene, aber eben nicht einmalige Erscheinung. In einem Gespräch während der Lunchpause sagt er, gegen ihn habe es zwar Attacken erwachter Studenten gegeben – die Universitätsleitung hätte ihn aber immer verteidigt. Das immerhin scheint Oxford noch von der Portland University zu unterscheiden, wo die Führungskräfte die Kampagne eifernder Studenten gegen Boghossian noch anfeuerten, die am Ende zu seiner Vertreibung führte.
Niall Ferguson findet vermutlich alle drei Wege sympathisch, denn er spricht sich für eine möglichst große Koalition aus. „Unsere Zivilisation”, stellt er in einer Diskussion auf der Bühne fest, „ist eine zu kostbare Errungenschaft, als dass sie nur ein konservatives Projekt sein sollte.“ Und er stellte auch eine grundlegende Diagnose: „Die gegenwärtigen politischen Führer (im Westen) sind nicht besonders überzeugt von ihren eigenen Institutionen.“
Beim Thema Kinder machten gleich mehrere Referenten eine ganz bestimmte Bedrohung aus, die viele Politiker und Medienverantwortliche bis jetzt kaum zur Kenntnis nehmen – die toxische Auswirkung der sogenannten sozialen Medien auf Heranwachsende. Damit beschäftigt sich zurzeit kaum jemand so grundsätzlich und wortgewaltig wie der schon erwähnte Sozialpsychologe Jonathan Haidt, dessen Buch „The Anxious Generation. How The Great Rewiring of Childhood Is Causing An Epidemic Of Mental Illness“ (Die ängstliche Generation. Wie die große Neuverkabelung der Kindheit eine Epidemie der mentalen Krankheit verursacht“) am 26. März 2024 erscheint, vorerst nur in Englisch.
In dem Buch, von dem er schon Auszüge auf der liberal bis libertären Plattform „Persuasion“ veröffentlichte, zeigt er mit einer Fülle von Statistiken, dass sich die Gesundheitsdaten der jungen Generationen der westlichen Länder um das Jahr 2012 herum drastisch veränderten. Nach einem jahrzehntelangen Rückgang von Suiziden nahmen in dieser Altersgruppe versuchte und vollendete Suizide wieder zu, außerdem Selbstverletzungen (vor allem bei Mädchen) und generell mentale Krankheiten. Und das bemerkenswerterweise – zumindest in den USA, wo Erhebungen dazu vorliegen – stärker unter Jüngeren, die sich links der Mitte einordnen, als unter konservativen.
Die angeblich demokratisierende Wirkung von Netzwerken wie Instagram und TikTok hält Haidt für eine absichtsvoll konstruierte Legende: „Diese Netze haben nichts mit der Verbindung von Nutzern untereinander zu tun. Ihr Zweck besteht darin, die Nutzer an die Plattform zu binden.“
Die Daueraufgeregtheit in diesen Netzen, die systematische Verbreitung und Verstärkung aller möglichen Ängste, die Belohnung von Eskapismus und Narzissmus, darin besteht seine zentrale Botschaft, wirke hochgradig giftig auf Kinder und junge Jugendliche, die notwendigerweise über wenig Lebenserfahrung und geringe Verwurzelung in echten, analogen Gemeinschaften verfügen. Das bedrohe nicht nur die Jungen, die schließlich nicht immer jung blieben, sondern das gesamte soziale Gewebe der Gesellschaft. Seine Vorschläge zur Eindämmung lauten: erstens keine Smartphones vor der High School. Zweitens kein Konsum von Plattformen wie Instagram und TikTok vor dem 16. Lebensjahr. Und drittens sehr viel mehr freies Spiel draußen in der unverkabelten Welt.
Die meisten Manager des Silicon Valley praktizieren diese Regeln, wie ab und an zu hören ist, bei ihrem eigenen Nachwuchs, weil sie aus ihrer Forschung sehr genau wissen, wie ihre eigenen Produkte auf junge Gehirne wirken. In China setzte die Regierung kaum umgehbare Restriktionen für TikTok durch, sowohl mit einer Altersgrenze als auch mit einem täglichen Maximalzeitbudget für Jugendliche. Haidt empfiehlt Eltern, sich nicht auf staatliche Institutionen zu verlassen, sondern sich selbst als Eltern zu einer Institution zu machen, die Schaden von den Kindern fernhält.
Zu den wichtigsten Beiträgen auf der Konferenz gehörte auch der Vortrag des Sozial- und Politikwissenschaftlers Warren Farrell, der sich in den Vereinigten Staaten schon vor Jahren mit dem Mythos der privilegierten Männer und der diskriminierten Frauen auseinandersetzte, und der sich in den letzten Jahren hauptsächlich einem Thema widmet, der Krise der Jungen. In seinem Buch „The Boy Crisis“ von 2018 beschreibt er, welchen bleibenden Schaden abwesende Väter, ein Mangel an männlichen Vorbildern und die Dauerattacken auf die angeblich toxische Männlichkeit schon in der Schule in Kombination mit dem Überkonsum von Videospielen und Plattforminhalten anrichten. In seinem Vortrag schaffte er es, seine Forschungen zu einem Kern von 20 Minuten zu verdichten. Seine 80 Jahre merkt man Farrell nicht an. Und es fällt schwer, einen zweiten Wissenschaftler zu finden, der wie er eine düstere Botschaft aussprechen und gleichzeitig eine ähnliche Hoffnung auf eine Wende zum Besseren verbreiten kann.
In den Vorträgen zu Energie und Klima kamen Lomborg, Shellenberger, Koonin und andere über ihre jeweils eigenen Argumentationsketten zu der gleichen Schlussfolgerung, dass die Klimaveränderung zwar zu Problemen führt, aber eben nicht zu einer Klimaapokalypse. Koonin schlug in seinem Gespräch vor, „den Begriff der Klimakrise zu canceln“. Und vor allem nicht die schlichte Tatsache zu vergessen, dass noch hunderte Millionen Menschen jenseits des Westens überhaupt erst auf eine zuverlässige Energieversorgung warten.
Die Vorträge und Gesprächsrunden zu den freien Märkten lassen sich am besten mit den Kernsätzen Paul Marshalls skizzieren. Wer den Kapitalismus verteidigen will, so lautet eine seiner Thesen, der sollte erst einmal klarmachen, welchen Kapitalismus er meint. Den des freien Unternehmertums, das immer stärker unter Druck gerät? Oder den crony capitalism, in dem sich große Konglomerate mit der Politik verbünden, um die Spielregeln nach ihrem Interesse zu schreiben und Konkurrenz möglichst auszuschalten? Gleich in dessen Nachbarschaft siedelt das Modell des stakeholder capitalism, in dem Unternehmen gesellschaftliche Aufgaben übernehmen, beziehungsweise das, was sie dafür halten: die Verbreitung von Identitätspolitik, von Gesinnungsethik und Homogenität. Der crony capitalism zerstöre nicht nur den freien Wettbewerb, meint Marshall. Er organisiere auch den größten Wohlstandstransfer in der Geschichte.
In der Halle des Interconti neben dem ARC-Kongressort unterhalte ich mich noch ein bisschen mit dem Fondsmanager, der seine Kritik gewissermaßen aus dem Brancheninneren heraus betreibt (das Gespräch wird vor allem in mein nächstes Buch einfließen, das 2024 erscheint). Unter anderem ging es bei unserer Unterhaltung auch um den stakeholder capitalism (von dem er meint, dass er sich zurzeit auf der Siegerstraße befindet) und um Davos. „Unternehmensführer gehen nach Davos, weil das eine extrem effiziente Nutzung ihrer Zeit ist“, sagt Marshall. „Sie können dort Zentralbanker treffen, Banker, andere Unternehmenschefs, Kunden und Regierungsvertreter, alle an einem Platz, und sie können lobbyieren. So kombinieren sie cronyism mit dieser speziellen Philosophie. Und das funktioniert für alle. Das ist ein sehr machtvolles Modell.“
Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen der ARC-Konferenz mit dem Etikett Anti-Davos und Davos: Abgesehen davon, dass es in London beim Lunch längst nicht so glanzvoll zugeht wie oben in den Bergen und fast alle Londoner Teilnehmer mit der tube anreisen, abgesehen davon also kommt niemand hierher, um sein Geschäftsnetzwerk auszubauen. Anders als in Davos wäre das keine geschickte Ausbeutung von Zeit.
Die Bedeutung von ‚Anti-Davos‘ liegt woanders. Wenn es tatsächlich gelinge, den Bürgerbegriff neu zu füllen und die bessere Geschichte zu erzählen, meint Marshall, dann wäre es vielleicht möglich, ein öffentliches Klima zu schaffen, „in dem es Unternehmensführern peinlich ist, sich noch in Davos sehen zu lassen. Man muss die Stimmung dagegen drehen.“
Die Erzählung der besseren Geschichte geht nicht ohne Anleihen im Christentum über die Bühne. Diese Anleihe nimmt die Konferenz und zwar in großen Portionen. Am deutlichsten in den beiden Vorträgen von Jordan Peterson. Wer sein millionenfach verkauftes Buch „12 Rules For Life“ kennt, der weiß, welche zentrale Bedeutung die christliche Botschaft für den Psychologen besitzt. Dort beginnt und endet für ihn alles. Bei der ARC handelt es sich bei aller Internationalität um eine angelsächsische Veranstaltung mit Ausläufern in viele andere Länder. Mit kontinentaleuropäischen und speziell deutschen Augen betrachtet mag es ungewohnt wirken, aber in der Anglosphäre kommt praktisch keine Spielart des Konservatismus ohne religiösen Bezug aus. Wozu überhaupt etwas erhalten? Um es weitergeben zu können. Dass nicht die Geschichte einem Richtungspfeil folgt, aber das Leben – diese Idee verschmilzt mit dem Bewusstsein der Transzendenz auf einer höheren Ebene.
Die Schlussrede Petersons oszilliert folglich zwischen Manifest und Predigt. „Deshalb ist das, was wir tun wollen und wozu wir alle ermutigen wollen: diese Konferenz mit der Suche danach zu verlassen, was Sie der Welt bieten können, wenn Sie alles in diese Aufgabe hineinwerfen, was Sie haben. Mein Gefühl ist, dass, wenn genügend von uns das im ausreichenden Maß begreifen, es nichts gibt, was wir nicht leisten könnten. Es gibt keine Wüste, die wir nicht zum Blühen bringen könnten.“
An dieser Stelle lohnt sich der direkte Vergleich zwischen den Rednern und Diskutanten in London mit dem Ensemble, das Medien von CNN und New York Times über den Guardian bis zu ARD und der Süddeutschen der Öffentlichkeit regelmäßig als inspirierende Gestalten vorsetzen: die antisemitische How-dare-you-Sprechpuppe; von Politikern, Bürokraten und Chefredakteuren jahrelang wie die Stimme aus dem brennenden Dornbusch verehrt, eine Mariana Mazzucato, deren Klaviatur aus einer einzigen Taste besteht, auf dem sie das Lied vom alles lenkenden Staat spielt, der Grrät-Risätt-Schwab, dazu die unvermeidliche Ergänzungsriege haltungsstarker Adabeis, die regelmäßig mit Learjets in Zürich einschweben, um oben auf dem Berg von Davos Normalbürgern ein kohlenstoffarmes Leben nahezubringen.
Zu diesem Substrat kommen noch die deutschen Lokal- beziehungsweise Medienvolksausgaben der jeweiligen moralischen Zelebritäten, Luisa Neubauer als deutscher Thunberg-Nachbau, Claudia Kemfert und Maja Göpel, die sich zu zweit das Aufkochen Mazzucatos für das heimische Publikum teilen, und im gewissen Sinn Robert Habeck als ständiger Vertreter Klaus Schwabs in der Bundesrepublik. Bei der Gelegenheit fällt auf, dass es auf der anderen Seite keine deutsche Entsprechung eines Jordan Peterson, Neill Ferguson, eines Michael Shellenberger und einer Ayyan Hirsi Ali gibt.
(Eine kleine Fußnote, da mir mehrere Leute sagten, ich solle Klaus Schwab nicht so wichtig nehmen: Ich nehme ihn so ernst, wie ich ein Barometer wichtig nehme, wenn ich den Luftdruck wissen will. Dass das Barometer den Druck nicht erzeugt, weiß ich).
Wie steht es um die mediale Aufnahme dieser Veranstaltung, die vermutlich die Geschichte doch ein wenig beeinflussen kann? Es gibt einige halbwegs unverzerrte Berichte im Telegraph, dem Spectator, auf der Plattform First Things und einigen anderen; in den deutschsprachigen Medien kürzere Stücke auf Tichys Einblick und in der Tagespost, in der Weltwoche ein Stück von Roger Köppel. Und mit diesem Text auf Tichys Einblick noch eine Schilderung mehr.
Von dem Studio der ARD, also 1-5 Midford Place im schönen Fitzrovia stieg niemand in die tube, um bis North Greenwich zu fahren. In den sonstigen bundesrepublikanischen Medien, die es sonst nie versäumen, auch die zwanzigste Wiederholung der immergleichen Zitate von Fridays for Future- und IPCC-Exponenten zu Eilnachrichten zu verarbeiten, weht kein Hauch von der ARC.
Im Vereinten Königreich schon, und das auf eine Weise, die Sinn und Zweck des Treffens noch einmal unterstreicht. Im Guardian etwa hieß es: „Rechtsaußen-Vertreter aus aller Welt stiegen letzte Woche in London für die Gründungskonferenz der Allianz für Verantwortliche Bürgerlichkeit ab – eine Art Denkfabrik, angeführt von dem umstrittenen kanadischen Psychologen Jordan Peterson. […] Peterson plädierte in der Londoner O2-Arena“ (wo allerdings nur eine einzige abendliche Lesung am dritten Tag und nicht die Konferenz stattfand – Anmerkung eines Autors, der anwesend war) „die Welt ‚in Richtung Himmel und fort von der Hölle zu kippen‘, was für viele der Hauptreferenten überhaupt nicht bedeutete, sich um die Klimakrise zu sorgen.“
Die zu Springer gehörende Plattform Politico schrieb in ihrer englischen Ausgabe: „Nenn es ein Anti-Davos – auf einer großen Konferenz nehmen rechtsgerichtete Populisten die liberalen Eliten aufs Korn und planen ihre Revolution.“ Darauf folgten anonyme Zitate angeblicher Konferenzteilnehmer, die ihr Unverständnis für die Konferenzinhalte ausdrückten. Im Text ließen sich keine Indizien dafür finden, dass der Autor tatsächlich an der Veranstaltung teilnahm.
Allen, die den wichtigen Debatten im Westen an der Quelle folgen möchten, bleibt nichts anderes übrig, als sich dafür in die englischsprachige Welt zu begeben. Von dort stammen sämtliche Lehren der Erwachten, die Identitätspolitik, die Genderlehre, die Critical Race Theory – von der es vorsichtshalber in den wohlmeinenden deutschen Medien keine angemessene Übersetzung gibt – und der jeweils allerletzte Schrei des Postkolonialismus. Es handelt sich bis zum letzten Semikolon um Importware. Deshalb scheint es nur folgerichtig, dass mittlerweile auch alle Gegenmittel aus der Anglosphäre kommen.
Im übernächsten Jahr geht es an der Themse weiter. Cheers.