Ein vom Ansprechpartner für Antisemitismus beim Land Berlin, Samuel Salzborn, in Auftrag gegebenes Dossier hat 290 potenziell antisemitische Straßen- und Platznamen in Berlin ausfindig gemacht. In 101 Fällen empfiehlt das Dossier eine Umbenennung oder hält diese zumindest nach weiterer Forschung für denkbar. In jedem der 290 Einträge werden die Widmungsgründe und die Vita der Geehrten erläutert, um dann sogleich eine „Handlungsempfehlung“ für den weiteren Umgang zu geben. Das Dossier blickt damit auf rund 500 Jahre Stadtgeschichte zurück. Zugleich will man dieselbe offenbar in eine für die Gegenwart bekömmliche Form bringen – um es betont harmlos zu sagen.
Ebensowenig kommen die Brüder Grimm unbeschadet davon, nach denen erst seit Kurzem die zentrale Bibliothek der Humboldt-Universität benannt ist. Sie haben antijüdische Ressentiments „kolportiert“ (in den „Deutschen Sagen“) und „frühantisemitische Tropen bedient“ (Jacob in seinen Briefen). Den Textsammlern wird hier eine höhere Absicht unterstellt; das Postgeheimnis wird rückwirkend aufgehoben. Die geehrte Person muss bis in den letzten Winkel fleckenlos sein, sonst taugt sie nicht zum weltlichen Heiligsprechungsakt eines Straßennamens. Salzborn als Auftraggeber des Dossiers will angeblich eine breite Diskussion über das Thema anstoßen. Aber es stellt sich die Frage, ob er nichts Besseres zu tun und zu fordern hat?
Natürlich dürfen auch die preußischen Generäle, Kurfürsten, Könige und Kaiser nicht fehlen. Auch sie waren für die fortgesetzte Diskriminierung der Juden verantwortlich oder taten nicht genug für deren Emanzipation und Gleichberechtigung. So wird fast die gesamte deutsche und europäische Geistesgeschichte abgehandelt und in eine regelrechte Schuldkultur umgewandelt. Das ist vielleicht die einzige gesamteuropäische Kultur, die wir noch besitzen.
Auffällig bleibt, dass ein Name in der Liste fehlt: der von Karl Marx, dessen Schrift „Zur Judenfrage“ mit Sicherheit mit antijüdischen Stereotypen argumentiert („Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher“). Auch die Briefpassagen über Ferdinand Lassalle sollen nicht allzu freundlich sein. Nun war Marx selbst jüdischer Herkunft, aber entlastet ihn das vom verderblichen Spiel mit antijüdischen Klischees? Angeblich war dem Dossier-Verfasser der Forschungsstand im Fall Marx zu unsicher gewesen, aber genau diese Unsicherheiten existieren bei vielen der Personen in seinem Verzeichnis.
Adenauer fand Antisemitismus manchmal einfach nur flegelhaft
Verfasst wurde das Dossier von dem Politikwissenschaftler Felix Sassmannshausen. Er arbeitet unter anderem als politischer Journalist für die Jungle World, mit einem Schwerpunkt auf Leipziger Themen. In den letzten Jahren bot er einige „Policy Workshops“ und Online-Kurse über Antisemitismus an. Seine Theorie des Antisemitismus erweist sich nicht erst auf den zweiten Blick als politisch bis ideologisch.
Dass Konrad Adenauer im heidnischen Berlin noch besser kontextualisiert werden muss, ist freilich nichts Neues. Der erste Bundeskanzler, der unter anderem die Aussöhnung mit Israel betrieb, hat nicht nur Männer mit NS-Vergangenheit zu Ministern gemacht, sondern soll daneben den französischen Premierminister Pierre Mendès France in einem privaten Gespräch als Juden mit nationalem Minderwertigkeitskomplex charakterisiert haben. Das Dossier plädiert auf „antisemitische Ressentiments“.
1959 hatte Adenauer die neue Kölner Synagoge mit eingeweiht, die kurz darauf mit Hakenkreuzen beschmiert wurde. Die Schmierereien verschiedener Nachahmer und Trittbrettfahrer fand Adenauer flegelhaft und rief die Bundesbürger zur Selbstjustiz auf: „Wenn ihr irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und gebt ihm eine Tracht Prügel. Das ist die Strafe, die er verdient.“ Das könnte man als eine recht robuste, aber doch gewohnt geschickt-biegsame Reaktion verstehen. Das Berliner Dossier empfiehlt weitere Forschung und eventuell eine „digitale Kontextualisierung“ – das ist eine Art öffentlicher „Schandeintrag“ für die weniger schlimmen Fälle, zum Beispiel im Online-Straßenguide Kauperts.
Allerdings ist die Umbenennung angesichts der Merkwürdigkeit der anderen Vorschläge ohnehin die einzige Handlungsmöglichkeit, die irgendeinen Sinn ergibt. Man stelle sich einen Goetheplatz der neueren Berliner rot-grün-roten Zeit vor, in der Mitte ein zierlicher Springbrunnen mit Blumenrabatte, doch am Schild daneben prangt der Hinweis: „Hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu Juden und Judentum. Bediente in seinen Schriften antijüdische Stereotype.“ Abseits dessen, dass man damit nur das Proseminar mit seinen halbgaren Bewertungen auf die Straße verlegt, wird sich vermutlich jeder Spaziergänger die Frage stellen, warum nach so einem zweifelhaften Menschen überhaupt ein Platz benannt sein sollte.
Leisteten Autoren Dienst am Ressentiment?
Immer wieder stellt das Dossier fest, dass ein Schriftsteller oder Künstler antijüdische oder antisemitische Motive oder Ressentiments „bedient“ hätte. In diesem Ausdruck findet sich beinahe die ganze Polemik des Verzeichnisses. Denn eigentlich bedient sich ein Autor eines Motivs, er bedient nicht das Motiv. So hat auch der britische Premierminister Benjamin Disraeli die alte Sagenfigur des „ewigen Juden“ benutzt, um sein eigenes Porträt – Disraeli war Jude – zu zeichnen. War er deshalb Antisemit? Der Dossier-Autor müsste auch das behaupten, wenn er seine Hauptthese aufrechterhalten will.
So reicht ihm beim britischen Autor Rudyard Kipling („Das Dschungelbuch“) der Hinweis auf die Verwendung dieses alten Sagenmotivs vom „ewigen Juden“. Auch Goethe fand den Stoff zeitweise interessant. Und so kommt eine ganze Literatur auf die Anklagebank, in der mit traditionellen Stoffen und Motiven gedichtet, argumentiert und gespielt wird. Die Autoren des Dossiers sind offensichtlich der Meinung, dass die heutige Distanzierungskultur auch für die Vergangenheit gelten muss. Sich eines Stereotyps „bedienen“ bedeutet für sie, es zu teilen. So wie auf Facebook oder Twitter, wo man auch aufpassen sollte, was man „teilt“ und was lieber nicht.
Kurzum: Diese Forschungsarbeit entledigt ihren Gegenstand erst jedes sinnvollen Kontextes, um dann eine Re-Kontextualisierung mit den unsinnigen Teilbefunden einer oberflächlichen Antisemitismusforschung zu fordern. Das ist noch nicht einmal die wohlmeinende Bildungsdiktatur, die es sein will. Das ist die Überfrachtung des öffentlichen Raums mit der Halbbildung und dem seichten Denken der politisch Beflissenen.
Im Hintergrund dieses „Dossiers“ hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen: Früher ging es bei einer Ehrung um ein abgewogenes Urteil über die Person. Durch die Erweiterung der Kriterien um private Ressentiments und das literarische Aufgreifen von Stereotypen wird der Antisemitismus der Diversity-Kultur der Identitätspolitiker angeglichen.
Auch die großen Werke und Figuren sollen der Kontaktschuld unterliegen
Und dabei hat der Dossier-Verfasser noch gar nicht alle Namen gefunden, die seinen Inkriminierungs-Kriterien entsprechen. So gelten ihm Straßen, die nach Martin Luther benannt wurden, als anstößig. Sicher, der Renaissance-Theologe hat antijüdische Schriften verfasst und damit Generationen von protestantischen Theologen beeinflusst. Ist sein Einfluss und Prestige bei den Deutschen damit auf Null gesunken? Kaum. Wegfallen soll nun nicht nur die direkte Nennung, sondern auch die indirekte als Junker-Jörg-Straße, wie sie in Lichtenberg existiert.
Weitere Wagnerviertel gibt es in Wannsee, Karlshorst und Mahldorf, wo außerdem eine Fauststraße hinzukommt, die an das Meisterwerk des unseligen Goethe erinnert. Es sind also de facto weit über 100 Berliner Straßen, deren Umbenennung das Dossier fordert. Was an dem Vorhaben aufregt, ist nicht die historische Forschung und Reflexion, sondern deren Fehlen. Denn nicht nur sind Umbenennungen von Straßen und Plätzen aufwendig und teuer. Sie sind auch in den meisten Fällen unnötig, sogar schädlich, weil sie einen Ort von seiner Geschichte abspalten.
So erstaunt es nicht, dass auch der Name Hoffmanns von Fallersleben fallen soll, des Dichters der deutschen Nationalhymne, deren erste Strophen dem Dossier zufolge „aufgrund ihres aggressiven Nationalismus und revanchistischen Gehalts nach dem NS verboten“ wurden. Das ist nun wirklich weit gefehlt: Sogar Wikipedia weiß, dass die ersten beiden Strophen weder geschützt noch verboten sind; das Absingen könne jedoch zu „negativen Reaktionen“ führen. Der Verzicht ist nichts weiter als eine Üblichkeit der Bonner und Berliner Republik.
Der reale Antisemitismus auf den Straßen von Berlin
Derweil berichtet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS Berlin) von einem deutlichen Anstieg sehr realer antisemitischer Vorfälle im ersten Halbjahr 2021. Der Mai war mit 211 Vorfällen der Höhepunkt, als es wegen der Zuspitzung des Nahostkonflikts zwischen Israel und verschiedenen Palästinensergruppen auch in Deutschland zu zahlreichen Demonstrationen kam. Es geht daneben um Demonstrationen wie den Al-Quds-Tag (im August), die durch ihre wirklich aggressive Anti-Israel-Rhetorik auffallen. Damals wollte sogar die Integrationsbeauftragte im Bundeskanzleramt, Annette Widmann-Mauz, muslimischem Antisemitismus stärker entgegentreten.