Ein aktuelles Forschungsprojekt des Bundesinnenministeriums soll „fundierte Expertise für die Arbeit des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ liefern. Gefragt wurde danach, welche Faktoren im Leben von rechtsgerichteten Tätern zur Gewaltanwendung und zu einseitigen Weltbildern führen. Dabei arbeiten die beteiligten Forscher mit einem neuen, abstrakten Schlüsselbegriff, der „Anti-Asyl-Agitation“. Gemeint sind damit „falsche“ flüchtlings- und migrationskritische Positionen, die angeblich in der rechten politischen Szene wie auch in der „Mitte der Gesellschaft“ kursieren. Um diesen entgegenzutreten, empfiehlt die Studie dem BMI einen Maßnahmenkatalog. Er bezieht auch „Medienschulungen“ und „moderne Formen der Demokratiepädagogik und politischen Bildung“ ein und wirkt wie ein großflächiges Fortbildungsprogramm für die Bevölkerung, mit dem „gesellschaftlich dominante Bedeutungen ausgehandelt“ werden sollen.
Überhaupt erinnert das Projekt ein bisschen an den UN-Migrationspakt, in dem die beteiligten Staaten angekündigt haben, „Aufklärungskampagnen“ zum Migrationsmanagement zu fördern.
In logischer Konsequenz wird die Frage aufgeworfen, ob man den unerwünschten Weltsichten über Zuwanderung positive „normative Gegenpositionen“ mit „überzeugenden und positiven Bildern und Erzählungen“ gegenüberstellen könne. So könne man die Beschwerde eines Gefängnisinsassen, dass in einem Dorf ein Flüchtlingsheim gebaut werden solle, während gleichzeitig nicht genügend Kitaplätze zur Verfügung stünden, auch umwandeln in eine „Erzählung von Solidarität, in der Menschen Obdach gegeben wird und dafür selbstverständlich in Kauf genommen wird, dass die eigenen Kinder in das nächste Dorf gefahren werden müssen.“
Verantwortlich für den Abschlussbericht zeichnen die Universität Bielefeld, konkret Andreas Zicks Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung/IKG, und KOMREX/Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Andreas Beelmann). KOMREX führt auch den Thüringen-Monitor durch, dessen soeben erschienene 2020er Ausgabe zu einem erstaunlichen Befund kommt: Die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen sei in Thüringen in Pandemiezeiten deutlich gesunken.
Vorbemerkungen zur Einordnung der Studienbefunde
1. Das vorrangige Ziel der vorliegenden Studie lag nicht in der Generierung statistisch repräsentativer Aussagen. Es sollte vielmehr darum gehen, im Sinne einer Modellbildung „in der extensiven Auslegung von Einzelfällen zu Strukturaussagen zu gelangen“.
2. Das Erhebungs- und Auswertungsverfahren basiert auf einem Mix aus Anleihen von unterschiedlichen Ansätzen, Methoden und Fragestellungen. Dazu zählen die „Mitte“- und „Autoritarismus“-Studien, der „Thüringen-Monitor“, das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ wie auch gängige Ansätze zur Beschreibung der Persönlichkeit (Big Five: Extraversion, emotionale Labilität, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit; Narzissmus; „Ungerechtigkeitssensibilität“, usw.). Was man an anderen Studien hinterfragen könnte, bleibt dabei auch hier problematisch. Es wäre zum Beispiel zu diskutieren, ob alle im Fragebogen als „rechtsextreme Einstellungen“ gesehenen Statements wirklich ein klarer Beleg für Rechtsextremität sind. Ist wirklich rechtsextrem, wer dem Satz „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ zustimmt? „Muslimfeindlichkeit“ wird anhand des Eingeständnisses „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“ gemessen. Und unter dem Oberbegriff „Kollektive Wut“ [?] findet sich, neben dem Satz „Man kann mir nicht zumuten, neben einem Asylantenheim zu wohnen“, die Aussage „Wir sollten keine Ausländer hier integrieren, sondern sie in ihre Heimatländer zurückbringen und dort unterstützen“.
3. Bei der vorliegenden wie auch anderen einschlägigen Studien stehen Meinungen und Wertungen über eine vorgefundene Realität im Vordergrund, nicht die präzise statistische Beschreibung der Realität. Einmal abgesehen davon, dass die Wahrnehmung von Realität, wie auch immer sie aussieht, selbstverständlich nicht zur Gewaltanwendung und blinder feindseliger Ablehnung von sozialen Gruppen führen darf, können hinter „Narrativen“ durchaus reale Defizite und Probleme stehen, nicht nur ideologische Fehl-Wahrnehmungen. Die beteiligten Wissenschaftler haben sich, wo aus Sicht der Studienteilnehmer Zuwanderungs-Themen klar problematisiert wurden, im Sinne maximaler Distanzierung, auf den Zusatz „vermeintlich“ verständigt: Sie sprechen von einer „vermeintlichen Flüchtlingskrise“, „vermeintlicher Undankbarkeit von Geflüchteten oder Ausnutzen von Gastfreundschaft“, „vermeintlichen gewalttätigen und kriminellen Geflüchteten“, usw.
Stichprobe, Erhebungsmethode, Auswertung
Für die Stichprobe der Projektteilnehmer konnten 41 Straftäter gewonnen werden. Außerdem wurden bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getretene Bürger einbezogen: 124 bearbeiteten einen Online-Fragebogen, mit einem konnte ein biografisches Interview durchgeführt werden. Zusätzlich wurden Fachkräfte aus den Bereichen Soziale Arbeit, Sicherheit und Forschung zum Thema befragt. 340 füllten Fragebögen aus, 12 ließen sich persönlich interviewen.
Ausgedehnte Definition von Anti-Asyl-Agitation
Das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitet schon seit einigen Jahren mit dem Schlüsselbegriff „Anti-Asyl-Agitation“. Die jetzt erfolgte offizielle Übernahme des Begriffs aus dem medialen und politischen Diskursbereich in die Wissenschaft hat zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs geführt.
In der Studie wird bevorzugt der abstrakte und nicht juristisch definierte Begriff „Geflüchtete“ verwendet. Die „Anti-Asyl-Agitation“ wird zunächst erklärt mit „Praktiken und Diskurse, die sich gegen Geflüchtete wenden und die dazu geeignet sind, andere Menschen dahingehend zu beeinflussen, dass sie sich … ebenfalls gegen Geflüchtete wenden …“. Allerdings sei „vor dem Hintergrund der Konzeption von Anti-Asyl-Einstellungen als menschenfeindliche Orientierungen davon auszugehen, dass nicht nur gegen Asylsuchende agitiert wird, sondern eine Anti-Asyl-Haltung auch mit anderen Vorurteilen gegenüber Migrant*innen, Unterstützer*innen der Integration und Hilfe für Geflüchtete, sowie mit muslimfeindlichen und anderen abwertenden Meinungen einhergeht“. Die in der „Feindlichkeit gegen Geflüchtete“ zum Ausdruck kommenden Aktivitäten, Einstellungen, Strukturen und Diskurse seien „als spezifische Form von Rassismus zu werten … Das hat zur Folge, dass auch andere von Rassismus betroffene Gruppen (z.B. schwarze Deutsche oder muslimische Deutsche) Flüchtlingsfeindlichkeit erfahren bzw. von Anti-Asyl-Agitation negativ betroffen sind“. Die Spuren von Diskursen könnten in den biografischen Texten der Studienteilnehmer sichtbar gemacht werden.
Radikalisierungsprozesse
Zum Punkt „Radikalisierung“ präsentiert die Studie ein dreistufiges entwicklungsorientiertes Modell, das zeigen soll, wie lebenslaufbezogene Entwicklungsprozesse in den Bereichen Individuum, sozialer Nahraum und Gesellschaft sowie „proximale Radikalisierungsprozesse“, gemeint: Kernprozesse der Radikalisierung, schließlich in Extremismus münden können. Als solche Kernprozesse werden vier Einflussfaktoren identifiziert: Identitätsprobleme, Vorurteilsstrukturen, politische/religiöse Ideologie und Dissozialität (Verstöße gegen Regeln). Daraus sei zu schlussfolgern, „dass politischer und religiöser Extremismus … nicht zuvorderst eine Form der politischen Meinung oder Handlung darstellt, sondern im Kern als Ergebnis einer problematischen Sozialentwicklung zu begreifen ist“.
Rechtfertigungsnarrative
Im Alltag, so die Studie, träfen die Interviewten auf „Anti-Asyl-Agitation“ in Form von: Demonstrationen gegen Migranten oder Asylunterkünfte, Nachrichten und Posts in sozialen Online-Medien, Gesprächen mit Kollegen, Freunden, Nachbarn sowie Inhalten von Medien über „Geflüchtete“. Bei der sogenannten Anti-Asyl-Agitation und Diskursen über Migration spielten speziell „Narrative“ – Deutungsmuster sowie Orientierungshilfen, die auch als legitimer Grund für ein bestimmtes Verhalten und bestimmte Einstellungen herhalten können – eine zentrale Rolle.
Im Einzelnen führen die Autoren der Studie hier unterschiedliche „Narrative“ an. Zu den Erzählmustern zählen „Rechtfertigungsnarrative“. Sie werden unterteilt in drei Hauptnarrative, nämlich „Moralisierende Rechtfertigungsnarrative“, „Bedrohungsnarrative“ und Ungerechtigkeitsnarrative“, sowie zwei „unterstützende Narrative“.
- Moralisierende Rechtfertigungsnarrative: Es steht „ein (vermeintliches) Verhalten von Geflüchteten im Fokus, von dem sich in der Erzählung moralisch abgegrenzt wird. Beispielsweise werden Geflüchtete in diesen Erzählungen als undankbar, unhygienisch oder allgemein sich schlecht verhaltend dargestellt.“
- Bedrohungsnarrative: „Geflüchtete werden als Masse imaginiert und als Bedrohung sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene konstruiert.“
- Ungerechtigkeitsnarrative: „richten den Fokus auf die Politik und die ‚Eliten‘ sowie ihren Umgang mit Geflüchteten, der als ungerecht bewertet wird. Zentral sind hier beispielsweise Erzählungen über vermeintliche Smartphones, die Geflüchtete geschenkt bekämen, oder über die Ausstattung in Unterkünften für Geflüchtete … So wird der Eindruck vermittelt, Geflüchtete nähmen den ‚Deutschen‘ etwas weg …“
- Identitätsnarrative: „In den analysierten Fällen positionieren sich die Erzählenden in der Mitte der Gesellschaft, was ihren Aussagen bzw. Taten Legitimität verleihen soll. … Eine weitere Möglichkeit der Selbstpositionierung finden wir in der häufig vorgebrachten Unterscheidung zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Geflüchteten.“
- Gesellschaftsnarrative: „(sprechen) die Verantwortung für die Taten bzw. Einstellungen zumindest teilweise der gesellschaftlichen Situation zu.“
Überschneidungen der Einstellungen von straffälligen und nicht straffälligen Befragten
Die Forscher interpretieren ihren Befund tendenziell so, dass eben auch die Gesamtgesellschaft in ihrer Einstellung zur Zuwanderung fehlgeleitet ist: „… Sie [die potenziell Straffälligen] sind gewissermaßen leichter radikalisierungsfähig, wenn unter extrem feindselig orientierten Menschen Rechtfertigungen herangezogen werden, die breit geteilt werden, also Rechtfertigungen im Extremismus durch Rechtfertigungsnarrative der ‚Mitte‘ bzw. anderer Bezugsgruppen der Mitte geteilt werden. Nach den Ergebnissen der Befragung lässt sich vermuten, dass Straffällige und Nicht-Straffällige ihre Rechtfertigungen für Flüchtlingsfeindlichkeit aus denselben Narrativen und Motiven ziehen und so Legitimationsschleifen entstehen, die sich immer stärker gegen andere Sichtweise immunisieren.“
Typologie und Faktoren der individuellen Radikalisierung, Fallbeispiele
Breiten Raum nimmt in der Studie die Typologie von Straftätern mit ihren Lebensläufen ein. Dabei wird als das entscheidende Kriterium die Rolle der „Anti-Asyl-Agitation“ für die Radikalisierungsverläufe gewählt. Unterschieden werden durch Anti-Asyl-Agitation
- initiierte Radikalisierungsverläufe
- verstärkte Radikalisierungsverläufe
- bestätigte Radikalisierungsverläufe
Identifiziert als begünstigende Faktoren werden zudem:
- das soziale Umfeld
- biografische Brüche (persönliche Schicksalsschläge, akute Sinnkrisen, „massive Erfahrungen relativer Deprivation“)
- „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und gesellschaftliche Normen
- grundsätzliche Gewaltaffinität
Es existiere auch eine „kognitive Verengung auf Anti-Asyl-Agitation“, diese fungiere als dominierendes Schema zur Einordnung von persönlichen Erfahrungen oder gesellschaftlichen Entwicklungen.
Zur Illustration der behaupteten Mechanismen werden einzelne Beispielfälle präsentiert. Sie veranschaulichen im Detail, dass bei den Straftätern, darunter Männern, die wegen Volksverhetzung oder eines Brandanschlags auf ein Flüchtlingsheim verurteilt wurden, viele ungünstige Lebensumstände und Erlebnisse Spuren hinterlassen haben dürften: problematische Familienverhältnisse, Drogenkonsum, das Gefühl, vom Leben ungerecht behandelt zu werden, eine frühe Einbindung in die rechte Szene, Gewaltaffinität, berichtete unangenehme persönliche Erfahrungen mit Migranten. Insbesondere in Ostdeutschland benannten die Experten den Wegzug von qualifizierten Personen, die schwache Wirtschaft und Defizite in der Infrastruktur als Gründe für Benachteiligungsgefühle. Ein Experte erzählte von Bewohnern eines Dorfes, die verärgert auf den Bau einer Unterkunft für Geflüchtete reagierten, nachdem über Jahrzehnte kaum Investitionen in Infrastruktur und öffentliche Gebäude vor Ort geflossen und Einrichtungen wie die Post oder ein Lebensmittelladen geschlossen worden seien.
Auswertung der standardisierten Befragung der straffälligen Personen
Die von den Straftätern erhobenen Daten aus der standardisierten schriftlichen Befragung wurden parallelen Daten mit größeren Vergleichsgruppen gegenübergestellt. Dabei ergaben sich bei vielen Persönlichkeitsmerkmalen und Einstellungen (wohl bemerkt auf der Basis der ausgewählten Abfrage-Methode) problematischere Werte. Hierzu zählen: rechtsextreme Haltungen, interpersonales Vertrauen, soziale Dominanzorientierung, Lebenszufriedenheit, Opfersensibilität, Muslimfeindlichkeit, Demokratiemisstrauen, Gewaltbilligung und „politische Deprivation“ („Bei uns werden Ausländer bevorzugt und Deutsche benachteiligt.“). Der Nationalstolz sei stärker ausgeprägt, ebenso wie kollektive Bedrohungsgefühle.
Fachkräfte fühlen eine „Anti-Asyl-Stimmung“
Gefragt nach potenziellen Radikalisierungsfaktoren Strafgefangener, sahen über 70 Prozent der befragten Fachkräfte soziale und gesellschaftliche Faktoren sowie einige individuelle Faktoren als wirkkräftig an. Bejaht wurden „populistisch geführte Diskussionen“ (z.B. zu Einwanderung, deutscher Kultur, Werten), soziale Ungleichheit, „Anti-Asyl-Agitation von Parteien, Bewegungen und Privatpersonen“, „Anti-Asyl-Stimmung“ bzw. „Stimmungsmache“ in den Medien und in der Gesellschaft, Fake News (z.B. über Asylmissbrauch) sowie persönliche Entwicklungs- und Einstellungsprobleme. Je nach Tätigkeitfeld (Soziale Arbeit, Sicherheit, Forschung) offenbarten die befragten Fachleute andere Sichtweisen. Fachkräfte aus Sicherheit und Justiz neigten verstärkt dazu, einen steigenden Ausländeranteil, ein konflikthaftes Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Kulturen und mangelnden Schutz durch die Polizei als wichtige Faktoren für Radikalisierungsprozesse zu identifizieren.
Schlussfolgerungen und umfangreiche Bündel von Handlungsempfehlungen
Ausgehend von der These, „dass auch die menschenfeindlichen, rechtspopulistischen wie rechtsextremen Meinungen und Stimmungen in zunächst nicht-extremistisch organisierten Milieus, also der ‚Normalbevölkerung‘, aggressiver und gewaltorientierter geworden sind“, empfehlen die beteiligten Forscher der Bundesregierung ein Bündel von zehn „Präventionsansätzen“ (siehe Studie S. 112ff.), darunter
- Identitätsstiftende Aktivitäten durch qualitativ hochwertige Jugendarbeit
- Medienschulungen insbesondere zur Aufdeckung von antidemokratischen und extremistischen Ideologien und Agitationen, Fake News und Verschwörungskampagnen
- „Eltern- und Lehrer*innentraining“
- „Moderne Formen der Demokratiepädagogik und politischer Bildung“
- Stärkung von Zivilcourage und Mündigkeit im Umgang mit menschenfeindlichen Ideologien
- Projekte, die intelligente und geprüfte Ansätze zu Gegennarrativen entwickeln. „Insbesondere erscheinen uns Ansätze, die intelligente und sozial wirksame Online-Kommunikationsformen (z.B. Memes, Social Media) erzeugen, zu fördern“ [Dies hatte auch die Amadeu Antonio Stiftung bereits angeregt. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/publikationen/monitoring-2017.pdf]
- Stärkung der Radikalisierungs- und Präventionsforschung
Überraschenderweise enthalten die Handlungsempfehlungen keinen Verweis auf eine Verbesserung der sozialökonomischen Lage der Zielgruppen – die vielleicht wirksamer wäre als verbale Gegenpositionen.
Schlussbemerkung
Das Interesse der BMI-Studie an Einflussfaktoren für rechte Radikalisierungsprozesse ist nachvollziehbar und wäre auch bei anderen Phänomenen wie Linksradikalismus, Islamismus, Gewalt gegen Frauen geboten. Die herangezogenen Täter-Fallbeispiele bestätigen, dass im subjektiven Befinden der Betroffenen zahlreiche, in ihrem Lebenslauf und in ihrem sozialen Umfeld liegende Rahmenbedingungen innerliche Radikalisierung fördern können. Inwieweit in diesem Kontext auch Teile eines bestimmten „öffentlichen Diskurses“ Spuren hinterlassen, ist eine interessante Frage.
Hier offenbart die Studie jedoch, wie die gesamte Debatte um die viel gescholtene „Mitte der Gesellschaft“, ein Grunddilemma: Die Forscher werfen der Mitte quasi vor, Narrative zu verwenden, die rechtsextrem gesinnte Kreise dann als Rechtfertigung ihres Denkens und Tuns heranziehen. Konsequenterweise müsste man die betroffenen Narrative in der Gesamtgesellschaft zurückdrängen oder „löschen“ – eben damit sie Straffällige nicht anstacheln können. Damit würde allerdings der gesellschaftliche Meinungskorridor arg verengt, was sicher nicht im Sinne der Demokratie ist. Dies gilt im Übrigen gleichermaßen für die – viel weniger thematisierte – linke politische Sphäre. Es existiert in der „Mitte der Gesellschaft“ durchaus auch ein „betont linkes Einstellungsspektrum“ mit den Dimensionen Antikapitalismus, Sozialismus als Staatsform/ Verstaatlichung, Demokratiefeindlichkeit, Zuwanderung für Alle, das sich mit linksradikalen Kreisen stärker überschneiden dürfte. (Siehe z.B. hier).
Ohnehin ist der von den Forschern ins Auge gefasste „Diskurs um Geflüchtete“ ja beileibe nicht nur von der „Anti-Asyl-Agitation“ geprägt. Auch dem Team um die Professoren Zick und Beelmann dürfte nicht entgangen sein, dass im beliebten Einwanderungsziel Deutschland zumal seit 2015 viele positive Stimmen zur Zuwanderung zu vernehmen sind: Migration solle dem Fachkräftemangel beseitigen, löse Demografie-Probleme, stärke die plurale Demokratie (sagen Migrantenverbände), sei eine kulturelle Bereicherung und ein Beweis für gelebte Humanität. Annalena Baerbock versprach soeben eine „einladende Einwanderungspolitik“ und weiß hier gewiss die über 240 Seebrücke-Städte hinter sich.
Es konkurrieren also in Staat und Gesellschaft positive wie auch kritische Narrative zum Gesamtkomplex Zuwanderung, und inwieweit einzelne Narrative Hinweise auf reale Problemlagen, erlaubte subjektive Meinungsäußerungen oder „rassistische Aussagen“ darstellen, liegt zum Teil auch stark im politisch-weltanschaulichen Auge des Betrachters. Zielperspektive der vorliegenden Studie ist es dabei offenkundig, das öffentliche Meinungsklima, das von den Forschern als zu düster eingeschätzt wird, strategisch gezielt mit einer Pro-Asyl-(Gegen-)Agitation aufzuhellen (möglicherweise: „Asylmissbrauch spielt hierzulande keine große Rolle“). Es geht hier letztlich wohl nicht nur darum, wirklichen Rechtsradikalismus und Rassismus zu verhindern – wogegen ja wirklich niemand etwas hat – , sondern auch darum, die Definitionshoheit über das komplexe Themenfeld Migration zu gewinnen. In dem von der Bundesregierung präsentierten über 1 Milliarde Euro schweren Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses „zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ sind bereits im Sinne der Studie diverse Schulungs- und Bildungsinitiativen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Privatwirtschaft vorgesehen. Wobei interessant bleibt, welche „Medienschulungen“ für wen, von wem, mit welchen Inhalten die Bielefelder und Jenaer Wissenschaftler so ganz konkret im Auge haben.