Die Karriere von Anne Spiegel nahm in der Mainzer Walpodenstraße an Fahrt auf. Dort hatten die Grünen früher ihre Landesgeschäftsstelle. Ein Bürogebäude in einem Wohngebiet, in dem es immer zu wenige Parkplätze gab. Am Ende eines lang gezogenen, dunklen, zugestellten Flurs traf sich die Grüne Jugend. Die heute 41-Jährige gehörte von 1999 bis 2002 dem Landesvorstand an.
Die Grüne Jugend bedeutet für ihre Mitglieder Sozialisation. Privat. Die Spuren auf dem Sofa in der Walpodenstraße erzählen mehr Liebesgeschichten als das Sortiment von Bastei Lübbe. Aber auch karrieretechnisch sozialisieren sich um die Jahrtausendwende die grünen Jugendlichen dort. Die Generation der Älteren im Landesverband ist wenig pragmatisch, heillos zerstritten und völlig regierungsuntauglich. Entsprechend geringschätzend schaut der Nachwuchs auf die Alten. 2006 fliegt diese Generation dann völlig zurecht aus dem Landtag.
Doch die 15,4 Prozent sind Segen und Fluch zugleich. Kandidaten sind ins Parlament eingezogen, die dafür gar nicht vorgesehen waren. Der Spiegel macht sich einen Spaß und schaut sich noch in der Wahlnacht die Internetauftritte einiger dieser Kandidaten an. Eine neue Abgeordnete wirbt auf der gleichen Seite für ihre politischen Positionen – und für ihre Ansichten zur Pferdezucht. Später fällt sie in der Fraktion dadurch auf, dass sie Pressemitteilungen zu Büchern herausgeben will, die sie gerade gelesen hat. Die Mehrzahl der Abgeordneten erreicht kein professionelles Niveau und muss nach nur einer Legislatur folgerichtig wieder gehen.
Spiegel ist anders. Sie lässt sich beraten. Angesichts dreier Ministerinnen und eines medienaktiven Köblers entscheidet sie sich für eine defensive Strategie. Während andere negativ auffallen, wirkt sie ruhig und besetzt ihre Themen wie Gleichstellung, auch wenn die nur wenig Widerhall in der Presse finden. Sie bekommt ihre Kinder. Mitarbeiter bauen aus einem Regal einen Wickeltisch. Das Bild dazu landet in den sozialen Netzwerken. Perfekte Imagebildung: Echt, modern, emanzipiert und sympathisch. Anne Spiegel steht nur in der zweiten Reihe, entschädigt aber in der Partei manche für die schwachen Leistungen der Vertreter aus der ersten Reihe.
Doch Spiegel holt sich Verstärkung: Männer. Wieder. Zum einen Giuseppe Lipani. Ehemaliger Kreisvorsitzender in Mainz und ein begnadeter Strippenzieher in der Partei. Zum anderen Dietmar Brück. Bis dahin Korrespondent der Rhein-Zeitung, fortan ihr neuer Medienmann. Die eigentliche Katastrophen-Vorsorge wird später selbst zur Katastrophe. Brück sorgt dafür, dass wenigstens die Kommunikation stimmt. Das Pech Spiegels: Daraus wird dann, um die Menschen im Ahrtal habe sie sich nicht gekümmert, nur um ihr eigenes Image.
Davor stabilisiert sich Spiegel aber als Ministerin. Dafür patzt die Umweltministerin: Ulrike Höfken hat systematisch nach Parteibuch befördert und nicht nach Qualität. Ende 2020 ist sie nicht mehr tragbar. Höfkens ehemalige Mitarbeiterin scharrt mit den Hufen: die Mainzer Verkehrsdezernentin Katrin Eder. Doch lässt Spiegel Eder schon im bereits laufenden Wahlkampf als Ministerin zu, ist ihr eigener Führungsanspruch in Gefahr. Also füllt sie bis zur Wahl beide Ämter in Personalunion aus. Am Sonntag erklärt Spiegel das zu einem Opfer, das sie trotz privater Überlastung für die Partei gebracht habe. Dabei war es reines Machtkalkül. Nach der gut verlaufenen Wahl macht Spiegel Eder zur Staatssekretärin und demütigt die Mainzer Rivalin mit undankbaren Aufgaben wie der Tierkadaverbeseitigung.
Spiegel ist am Zenit ihrer Macht: Umweltministerin in Rheinland-Pfalz. Stellvertretende Ministerpräsidentin hinter Malu Dreyer (SPD). Dann kommt die Bundestagswahl. Die Grünen brauchen Frauen für Führungsämter. Und Linke. Spiegel gilt als beides – und bekommt das Familienministerium. Bevor ihre Versäumnisse in der Flutnacht bekannt werden, fällt sie im neuen Amt durch Symbolpolitik auf: Sie fordert von Männern, die Hälfte der Hausarbeit zu übernehmen und Stiefeltern sollten, so Spiegels Wunsch, künftig Bonuseltern genannt werden.
Spiegel ist weder Abgeordnete in Rheinland-Pfalz noch im Bundestag. Ihr Mann hatte sich schon vor 2019 aus Gesundheitsgründen beruflich zurückgehalten. Aus guten Gründen wurde darüber nicht berichtet. Nun hat es Spiegel, im verzweifelten Versuch im Amt zu bleiben, öffentlich gemacht. Sie wird sich neu orientieren müssen. Als Sprachtrainerin wird sie kaum auftreten. Vermutlich wird sie nach einer gewissen Karenzzeit ein gut bezahltes Gnadenamt erhalten – da kann sie sich auf ihre Partei verlassen.