Insider wissen seit langem, was Cum-Ex-Geschäfte sind. Verkürzt dargestellt: Es sind dies Aktienkreisgeschäfte mit (cum) und ohne (ex) Dividende unmittelbar rund um den Ausschüttungstermin. Der Händler vermittelt einen Leerkauf, also einen Verkauf von Aktien, die er noch gar nicht besitzt, und bekommt dafür – wie der Käufer – eine Steuerbescheinigung über die Kapitalertragssteuer. Die nur einmal bezahlte Steuer wird dann doppelt erstattet. Geschätzter Schaden: 10 bis 12 Milliarden Euro.
Noch trickreicher erfolgen diese Geschäfte bei Cum-Cum-Geschäften unter Einbeziehung von Ausländern, die von der Kapitalertragssteuer ausgenommen sind, diese Ausnahme aber umgehen, indem sie ihre Aktien kurz vor dem Ausschüttungstermin an deutsche Gesellschaften übertagen, von wo sie nach der Steuererstattung die Aktien wieder zurückbekommen und die Hälfte der Steuererstattung kassieren. Hier beziffert sich der Schaden wohl auf das Dreifache des Schadens der Cum-Ex-Geschäfte.
Erst seit einigen Monaten wissen Insider etwas mit dem Namen Anne Brorhilker anzufangen. Anne Brorhilker (50) war bei der Staatsanwaltschaft Köln ab 2013 als Ermittlerin im Cum-Ex-Skandal beschäftigt. 2021 wurde sie als Leitende Oberstaatsanwältin Hauptabteilungsleiterin in dieser mit insgesamt gut 30 Staatsanwälten bestückten Abteilung, die in 130 Verfahren gegen 1.700 Beschuldigte ermittelt. Im Herbst 2023 gab es zwischen ihr und dem „grünen“ NRW-Justizminister Benjamin Limbach Differenzen.
Das dürfte einer der maßgeblichen Gründe sein, warum Anne Brorhilker im April 2024 auf eigenen Wunsch aus ihrem Amt ausschied und zu der vom vormaligen „grünen“ Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick gegründeten NGO „Finanzwende“ als Geschäftsführerin wechselte. TE hat mehrfach darüber berichtet.
Eine der zentralen Figuren im Cum-Ex-Sumpf ist Christian Olearius. Olearius ist der vormalige Co-Chef der Hamburger Warburg-Bank und Olaf-Scholz-Gesprächspartner; woran sich der Herr Kanzler aber nicht mehr zu erinnern vermag. Der Prozess gegen Olearius wurde übrigens soeben ohne Urteil beendet, weil der Angeklagte dem Prozess aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr folgen kann. Allein bei ihm ging es um den Vorwurf der Steuerhinterziehung in Höhe von 280 Millionen Euro, bei allen Beschuldigten in der Summe um 10 bis 12 Milliarden Euro.
Anne Brorhilker packt aus
Nun hat Anne Brorhilker dem „Handelsblatt“ (Ausgabe vom 10. Juli) ein sehr ausführliches Interview gegeben, das sich über drei Druckseiten erstreckt (hinter Bezahlschranke).
TE gibt hier die zentralen Aussagen der vormaligen Leitenden Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker (AB) wieder.
ABs Einschätzung insgesamt: „Die Steuerhinterziehung mit Cum-Ex-Geschäften hatte industriellen Charakter, das haben auch die Strafgerichte festgestellt. Das waren eben nicht wenige schwarze Schafe.“
ABs Vorwurf an die Banken: „Es wurde häufig alles getan, um unsere Arbeit zu erschweren und in die Länge zu ziehen … Wir haben etwa häufig erlebt, dass Dokumente ins Ausland geschafft wurden und angeblich nicht mehr nach Deutschland zurückgeholt werden konnten.“
ABs Vorwurf an Anwälte, die ihrer Meinung nach in den Auseinandersetzungen mit dem Fiskus und den Strafverfolgungsbehörden unsachlich und überheblich agierten: „Es geht darum, Dinge künstlich zu verkomplizieren … Man bildet möglichst lange Sätze mit möglichst vielen Fremdwörtern. Damit macht man dem Gegenüber auf einer unbewussten Ebene klar: Du verstehst das sowieso nicht, weil du kein Jurist bist. Also misch’ dich da nicht ein.“ TE-Anmerkung: Das ist ein Vorwurf, der auf ermittelnde Steuer- und Justizbehörden zurückfällt, die offenbar diese gedrechselten Satzungetüme nicht zu dechiffrieren wissen.
ABs Einschätzung des nunmehr eingestellten Verfahrens gegen Olearius: Dieser möge zwar vor Gericht gesagt haben, die Einstellung des Verfahrens gegen ihn sei ein „Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit“. Und er hoffe, diese Wahrheit werde sich durchsetzen. AB dazu: „Als Angeklagter darf Herr Olearius sich äußern, wie er möchte. Es besteht keine Wahrheitspflicht wie bei Zeugen … Damit ist der Vorwurf der besonders schweren Steuerhinterziehung nicht aus der Welt. Hier ging es um 280 Millionen Euro.“
AB über Steueranwalt Hanno Berger, der Anne Brorhilker schon auch einmal als „dumme Kuh“ und „kleine Tante“ beschimpft hatte: Er hatte „zum Beispiel in Luxemburg eine Firma, die als Geldverteilungsmaschine fungierte“. (Berger war im Dezember 2022 wegen Steuerhinterziehung zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden. Der BGH bestätigte das Urteil. Seine Klage in „Karlsruhe“ wurde abgewiesen.)
AB über die Nutznießer: „… große Beratungsfirmen, Anwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater …“ Ferner: „große internationale Investmentbanken“.
AB über die Ermittlungsbehörden: „Normalerweise sitzt da ein Finanzbeamter, der völlig alleingelassen ist und der jetzt konfrontiert wird mit einer teuren Anwaltskanzlei und 1000 Seiten Gutachten … Wir haben häufig erlebt, dass Dokumente ins Ausland geschafft wurden und angeblich nicht mehr nach Deutschland zurückgeholt werden konnten. In einem Fall kamen rund 100 Anwälte einer Kanzlei herbeigeeilt … und haben die Durchsuchung aktiv gestört.“
AB über die Ermittlungen in Stuttgart, die seit zehn Jahren gegen die LBBW laufen, wo es um einen Schaden von 150 Millionen geht und die ein einzelner Staatsanwalt bearbeitet: “… nicht mehr nachvollziehbar“.
AB über die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Hamburg nie ermittelt hat, obwohl mehrere Fälle direkt vor ihrer Haustür spielten: „Es hat mit einer zu großen Nähe zwischen Politik und Banken in Hamburg zu tun.“
AB über die Ermittlungen gegen den Hamburger SPD-Politiker Johannes Kahrs, der die Treffen zwischen Olearius und Scholz arrangierte: „Da darf ich wegen Verschwiegenheitspflichten nichts sagen.“
AB über Rückendeckung von Vorgesetzten: „Das war in den 22 Jahren sehr unterschiedlich ausgeprägt.“
ABs Appell an die Legislative: Durch Steuerhinterziehung entstehe ein unfassbar großer Schaden. „Es ist deshalb ungerecht, derart schwere Fälle – anders als beim Betrug – nicht als Verbrechen einzustufen. Auch damit Einstellungen gegen Geldbuße bei derart schweren Fällen organisierter Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sind.“
Alles in allem: Der Skandal bleibt ein Augiasstall, dessen Ausmistung wohl nie ganz erfolgen wird. Dass Anne Brorhilker dieses Ausmisten nicht mehr leisten wollte (oder konnte oder durfte?), ist nachvollziehbar. Vielleicht wäre es dennoch besser gewesen, wenn Anne Brorhilker die Arbeit in ihrem Amt fortgesetzt hätte, statt jetzt den Weg über die politisch etwas einseitige NGO namens „Finanzwende“ zu gehen.
Jedenfalls riecht alles streng nach Bananenrepublik.