Sie kommt aus dem Völkerrecht. Ein Satz, der von Loriot stammen könnte. Aber er gehört nicht einer Zeichenfigur Vicco von Bülows, der damit den Typus der übereifrigen, vermeintlich weltoffenen, in Wirklichkeit aber provinziell gebliebenen und sich allein auf ihren Status kaprizierenden Studentin karikieren wollte. Es ist ein Satz, den sie todernst meint. Sie definiert sich darüber. Er gibt ihr Halt, er ist ein Schlüssel, das darzustellen, was das grüne Ideal verlangt: weiblich, akademisch, international. In der Ausgabe des Handbuchs des neuen Deutschen Bundestags steht es so: Annalena Baerbock, Völkerrechtlerin, geboren am 15. Dezember 1980 in Hamburg.
Wenn ein Satz aus dem grünen Wahlkampfdebakel bleibt, dann der aus der denkwürdigen Runde zwischen der Frau, die Kanzlerkandidatin wurde, und dem Mann, der eigentlich Kanzlerkandidat hätte sein sollen. Ob aus Arroganz, Unwissenheit oder Verblendung – vielleicht auch aus einer Melange aller drei Faktoren –, Baerbock musste auch hier ihre besondere Gabe betonen. Sie sei „aus dem Völkerrecht“. Ganz anders verhielte es sich mit Robert Habeck. „Hühner, Schweine, äh … weiß nicht, was haste? Kühe melken.“ Sie klammert sich auch in diesem peinlichen Auftritt an das magische Wort: Völkerrecht – das sprengt die Provinz, das schaut weit hinaus, das braucht sich nicht weiter mit kleinen Bauerngeschichten aufzuhalten. Nach außen erhebt sich die Partei gegenüber ihrer Außenwelt mit Moral und Weltenretterallüren; innerhalb ist es der Standes- und Statuskampf. Geschlecht ist dabei nur eine Facette.
Geografie, insbesondere Heimatkunde, ist zwar nicht eine der herausragenden Vorzüge der angehenden Ministerin – die Stadt Ludwigsfelde in ihrem eigenen Wahlkreis ordnete sie Berlin zu, und in den Wäldern bei Barnim kündigte sie an, sich gerade im Oderbruch zu befinden –, aber mit Deutschland hatten es die Grünen noch nie sonderlich. Hinter dem eigens verfügten Dogma, im Grunde eine an internationalen Zusammenhängen interessierte und involvierte Person zu sein, stecken Absicht und Ziel. Ob in der öffentlichen Rede oder in ihrem mittlerweile zurückgezogenen Buch: Bei Baerbock stehen internationale Abkommen, ob Migrationspakt oder Pariser Klimabestimmungen, sowie die im Grunde ohnmächtigen Vereinten Nationen im Mittelpunkt der Überzeugungen. Globalisierung ist ein Baerbock-Thema. Man hat deswegen nicht selten den Eindruck gehabt, dass die Kandidatin vor allem deswegen ins Kanzleramt wollte, um ähnlich wie die geschäftsführende Vertreterin auf internationalen Kongressen aufzutreten. Man muss sich dann weniger um die daheim verursachten Probleme kümmern.
Mit ihrer Selbstentzauberung hat sich die 40-Jährige um ihren eigenen Traumberuf gebracht. Deshalb schielt sie auf das Außenministerium. Wie eine Außenministerin Baerbock arbeiten könnte, wie ihre Auffassung von Außenpolitik aussieht, bringt eine Anekdote auf den Punkt. Neben Klima-, Europa- und Migrationspolitik bestehen Internationale Beziehungen aus ihrer Sicht auch aus Menschenrechtspolitik. 2019 reiste sie deswegen als Bundestagsabgeordnete in das nordirakische Jesidengebiet an der Grenze zu Syrien. Hier hatte in der Vergangenheit der Islamische Staat gewütet. Später sagte Baerbock, sie wäre gerne Kriegsreporterin geworden. Der Spiegel hat dazu eine aufschlussreiche Szene beschrieben: „Für den Großteil derjenigen, die sich mit ihr fotografieren lassen wollen, ist Annalena Baerbock eine Unbekannte, die aus einem gepanzerten Jeep steigt und der die Referentin die Tasche hinterherträgt.“ Die Erbin von Peter Scholl-Latour mit Handtaschenträgerin im Einsatz.
Nicht plagiiert ist dagegen das Treffen bei den Jesidenführern. Das macht es authentischer, vielsagender – und legt die ganze Naivität der Außenministerin in spe offen. Das Thema: das Schicksal vergewaltigter Jesidinnen und ihrer Kinder. Die Ansage der jesidischen Oberhäupter an die fremde Frau aus dem wohlhabenden Land ist klar: Eure Hilfe ist wie eine Paracetamol-Tablette gegen Krebs. Baerbock versucht vorzubringen, dass die vergewaltigten Frauen und ihre Kinder von den Jesiden wieder aufgenommen werden sollten. Ganz offensichtlich nimmt man die Forderung gar nicht wahr, kontert stattdessen, man solle endlich den Völkermord an den Jesiden international anerkennen. Noch einmal versucht Baerbock auf das Problem der verstoßenen Frauen aufmerksam zu machen. Die Jesiden sehen das offenbar als Übergriffigkeit an: Denn nicht nur nach jesidischer, sondern auch nach muslimischer Ansicht ist das Kind eines muslimischen Mannes ein Muslim. „Wir können nicht“, sagt einer. Die Problematik sei nicht nur kulturell, sondern auch rechtlich so verankert. Für weitere deutsche Hilfe müssten die Jesiden sich eben ändern. „Sie als jesidische Gemeinde müssen da vorangehen, ein moralisches Signal geben, und diese Kinder anerkennen“, gibt der Spiegel das Gespräch wieder.
Man muss sich das vor Augen führen: Ganz abgesehen davon, dass Baerbock aus ihrer eigenen diplomatischen Taktlosigkeit keinen Hehl macht und offenbar auch nicht versteht, dass sie in den patriarchalischen Kulturen des Nahen Ostens kein angemessener Ansprechpartner ist – einerseits des Geschlechts wegen, andererseits aufgrund des Gastrechts und den damit verbundenen Privilegien und Pflichten –, verbucht sie diesen Auftritt als Erfolg. Weil sie glaubt, eine Diskussion angestoßen zu haben. Was die Jesidenführer wirklich untereinander besprechen, bleibt völlig offen.
Dennoch: Es sind Auftritte wie diese, die schon vorab als Empfehlung dienen sollten. In der eigenen Blase kann sie diesen Besuch als Lehrerfahrung verbuchen – und sich deshalb als Außenministerin anbieten. Wie ihre Arbeit in der Praxis aussehen wird, kann man erahnen. Sollten wir uns tatsächlich eines Tages nach Heiko Maas zurücksehnen? In den USA hat man jedenfalls mit wachem Auge den Wechsel beobachtet – und schaut wohlwollend. Sie ist Mitglied der Atlantik-Brücke und im German Marshall Fund. Sie gehört den „Young Global Leaders“ des Weltwirtschaftsforums an und ist demnach gut mit den entscheidenden Köpfen vernetzt. Im Mai interviewte CNN sie beim europäisch-amerikanischen Future Forum. Die New York Times bot ihr im September mit einem langen Portrait eine Bühne. Baerbock geht deutlicher auf Distanz zu Russland und Nord Stream 2. Die SPD mit ihrem Altkanzler Gerhard Schröder, der den ersten Deal mit Putin einfädelte, und seine Nachfolgerin Angela Merkel, die wenig an der deutschen Erdgasstrategie geändert hat, haben niemals so deutliche Signale Richtung Moskau gesendet. Washington dürfte auch die China-Kritik zusagen, die zwar weniger geostrategisch denn menschenrechtlich ausfällt, aber ihr Ziel nicht verfehlt.
Anders als Maas ist Baerbock zudem für ihre pro-israelische Einstellung bekannt. Ihre erste Reise in den Nahen Osten unternahm sie mit dem American Jewish Committee. Sie sitzt außerdem im Stiftungsrat der Leo Baeck Foundation, die sich der Förderung der Jüdischen Religionsgemeinschaften widmet. Vielleicht ändert sich wenigstens etwas bei der zwielichtigen Zusammenarbeit von Auswärtigem Amt und fragwürdigen palästinensischen Organisationen – insbesondere im Umgang mit dem korrupten UNRWA. Das palästinensische Flüchtlingswerk galt als eines der liebsten Kinder von Maas und SPD. Es wird jedenfalls schwierig, Maas zu unterbieten.
Womöglich könnten die Grünen ihre Kandidatin, die hierzulande in jeden Fettnapf trat, international auslagern. Vielleicht ist aber das Außenministerium auch deswegen der beste Posten für Baerbock, weil das Auswärtige Amt schon lange nicht mehr die Bedeutung von einst hat. Merkel hat das Amt in ihrer Kanzlerschaft marginalisiert. Mit ihren zahlreichen Auslandsaufenthalten und ihrer Angewohnheit, die wichtigsten Empfänge und Besuche selbst durchzuführen, hat sie den Außenminister an die Wand gedrängt. Baerbock kann dann ihre Bildungsreisen tätigen, sollte Scholz diese Tradition fortsetzen. Hoffentlich zur Schadensbegrenzung für das Ansehen Deutschlands in der Welt.