Tichys Einblick
Die Grüne als Außenministerin

Annalena Baerbock: Die „Völkerrechtlerin“ auf der Zielgeraden

Womöglich könnten die Grünen ihre Kandidatin, die hierzulande in jeden Fettnapf trat, international auslagern. Vielleicht ist aber das Außenministerium auch deswegen der beste Posten für Baerbock, weil das Auswärtige Amt schon lange nicht mehr die Bedeutung von einst hat.

Annalena Baerbock am 24. November 2021 bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags

IMAGO / Bildgehege

Sie kommt aus dem Völkerrecht. Ein Satz, der von Loriot stammen könnte. Aber er gehört nicht einer Zeichenfigur Vicco von Bülows, der damit den Typus der übereifrigen, vermeintlich weltoffenen, in Wirklichkeit aber provinziell gebliebenen und sich allein auf ihren Status kaprizierenden Studentin karikieren wollte. Es ist ein Satz, den sie todernst meint. Sie definiert sich darüber. Er gibt ihr Halt, er ist ein Schlüssel, das darzustellen, was das grüne Ideal verlangt: weiblich, akademisch, international. In der Ausgabe des Handbuchs des neuen Deutschen Bundestags steht es so: Annalena Baerbock, Völkerrechtlerin, geboren am 15. Dezember 1980 in Hamburg.

Wenn ein Satz aus dem grünen Wahlkampfdebakel bleibt, dann der aus der denkwürdigen Runde zwischen der Frau, die Kanzlerkandidatin wurde, und dem Mann, der eigentlich Kanzlerkandidat hätte sein sollen. Ob aus Arroganz, Unwissenheit oder Verblendung – vielleicht auch aus einer Melange aller drei Faktoren –, Baerbock musste auch hier ihre besondere Gabe betonen. Sie sei „aus dem Völkerrecht“. Ganz anders verhielte es sich mit Robert Habeck. „Hühner, Schweine, äh … weiß nicht, was haste? Kühe melken.“ Sie klammert sich auch in diesem peinlichen Auftritt an das magische Wort: Völkerrecht – das sprengt die Provinz, das schaut weit hinaus, das braucht sich nicht weiter mit kleinen Bauerngeschichten aufzuhalten. Nach außen erhebt sich die Partei gegenüber ihrer Außenwelt mit Moral und Weltenretterallüren; innerhalb ist es der Standes- und Statuskampf. Geschlecht ist dabei nur eine Facette.

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Habeck, über dessen intellektuelle Leistungen man geteilter Meinung sein kann, hat eine Dissertation („Die Natur der Literatur: zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität“) abgeschlossen. Das ist bedeutend mehr als zwei Semester „Public International Law“, wenn es um die persönliche Selbstbestimmung, etwa als Germanist oder Philosoph geht. Und es ist sicher weit mehr, als sich nur mit „Hühnern, Schweinen und Kühen“ auszukennen, wobei auch das miteinschließt, dass ein Abschluss in Agrarwissenschaften weniger wert sein soll als ein Auslandsjahr in London. Für gewöhnlich hat jeder Student in seiner Vita mehr als nur ein Fach studiert, käme aber im späteren Berufsleben – beispielsweise als Rechtsanwalt – nicht auch noch auf die Idee, sich wegen einiger Nebenkurse auf dem Kanzleischild als Historiker und Politikwissenschaftler zu bezeichnen. Wir sind wieder bei Loriot, dieses Mal bei Diplomen musikalisch-alpiner Art.

Geografie, insbesondere Heimatkunde, ist zwar nicht eine der herausragenden Vorzüge der angehenden Ministerin – die Stadt Ludwigsfelde in ihrem eigenen Wahlkreis ordnete sie Berlin zu, und in den Wäldern bei Barnim kündigte sie an, sich gerade im Oderbruch zu befinden –, aber mit Deutschland hatten es die Grünen noch nie sonderlich. Hinter dem eigens verfügten Dogma, im Grunde eine an internationalen Zusammenhängen interessierte und involvierte Person zu sein, stecken Absicht und Ziel. Ob in der öffentlichen Rede oder in ihrem mittlerweile zurückgezogenen Buch: Bei Baerbock stehen internationale Abkommen, ob Migrationspakt oder Pariser Klimabestimmungen, sowie die im Grunde ohnmächtigen Vereinten Nationen im Mittelpunkt der Überzeugungen. Globalisierung ist ein Baerbock-Thema. Man hat deswegen nicht selten den Eindruck gehabt, dass die Kandidatin vor allem deswegen ins Kanzleramt wollte, um ähnlich wie die geschäftsführende Vertreterin auf internationalen Kongressen aufzutreten. Man muss sich dann weniger um die daheim verursachten Probleme kümmern.

Mit ihrer Selbstentzauberung hat sich die 40-Jährige um ihren eigenen Traumberuf gebracht. Deshalb schielt sie auf das Außenministerium. Wie eine Außenministerin Baerbock arbeiten könnte, wie ihre Auffassung von Außenpolitik aussieht, bringt eine Anekdote auf den Punkt. Neben Klima-, Europa- und Migrationspolitik bestehen Internationale Beziehungen aus ihrer Sicht auch aus Menschenrechtspolitik. 2019 reiste sie deswegen als Bundestagsabgeordnete in das nordirakische Jesidengebiet an der Grenze zu Syrien. Hier hatte in der Vergangenheit der Islamische Staat gewütet. Später sagte Baerbock, sie wäre gerne Kriegsreporterin geworden. Der Spiegel hat dazu eine aufschlussreiche Szene beschrieben: „Für den Großteil derjenigen, die sich mit ihr fotografieren lassen wollen, ist Annalena Baerbock eine Unbekannte, die aus einem gepanzerten Jeep steigt und der die Referentin die Tasche hinterherträgt.“ Die Erbin von Peter Scholl-Latour mit Handtaschenträgerin im Einsatz.

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Auch Baerbock beschreibt die Erlebnisse im Nachhinein – in ihrem Buch. Ihre Reise durch das wilde Kurdistan führt zu Tränenausbrüchen. Man sollte denken, dass solche Eindrücke sich so tief in die menschliche Erfahrung bohren, dass man sie nachher umso plastischer und individueller aufschreibt. Stattdessen beschreibt sie das Ambiente der Reise nicht aus der eigenen Erinnerung, sondern kopiert es aus einem alten Deutschlandfunk-Artikel. Reiseberichte leben vor allem aus dem persönlich Erlebten. Deswegen sind Reportagen das Salz in der Suppe des Journalismus. Baerbock will Emotionen evozieren – und landet am Ende in der Relotius-Imitation.

Nicht plagiiert ist dagegen das Treffen bei den Jesidenführern. Das macht es authentischer, vielsagender – und legt die ganze Naivität der Außenministerin in spe offen. Das Thema: das Schicksal vergewaltigter Jesidinnen und ihrer Kinder. Die Ansage der jesidischen Oberhäupter an die fremde Frau aus dem wohlhabenden Land ist klar: Eure Hilfe ist wie eine Paracetamol-Tablette gegen Krebs. Baerbock versucht vorzubringen, dass die vergewaltigten Frauen und ihre Kinder von den Jesiden wieder aufgenommen werden sollten. Ganz offensichtlich nimmt man die Forderung gar nicht wahr, kontert stattdessen, man solle endlich den Völkermord an den Jesiden international anerkennen. Noch einmal versucht Baerbock auf das Problem der verstoßenen Frauen aufmerksam zu machen. Die Jesiden sehen das offenbar als Übergriffigkeit an: Denn nicht nur nach jesidischer, sondern auch nach muslimischer Ansicht ist das Kind eines muslimischen Mannes ein Muslim. „Wir können nicht“, sagt einer. Die Problematik sei nicht nur kulturell, sondern auch rechtlich so verankert. Für weitere deutsche Hilfe müssten die Jesiden sich eben ändern. „Sie als jesidische Gemeinde müssen da vorangehen, ein moralisches Signal geben, und diese Kinder anerkennen“, gibt der Spiegel das Gespräch wieder.

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In ihrem eigenen Buch kommt es allerdings noch dicker. Der Jesidenführer sagt, dass vergewaltigte Frauen wieder in die Gemeinde aufgenommen werden können, das sei auch bereits bei einigen geschehen. Bei den in der Gefangenschaft gezeugten Kindern und ihren Müttern sehe es aber – so sie sich nicht von den Kindern trennten – anders aus. Die Abgeordnete auf Auslandsreise sagt darauf: „Bei allem Respekt vor der jesidischen Kultur war es mir ein Bedürfnis, die Not der Frauen anzusprechen. (…) Ich fragte: ‚Wenn die Kinder und damit auch die Frauen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen bleiben, hätte dann der IS nicht erneut genau das erreicht, was er wollte?‘ Als meine Worte übersetzt wurden erhob sich ein lautes Gemurmel. Die Männer redeten durcheinander. Aber wir alle hatten den Eindruck, die Botschaft war angekommen.“

Man muss sich das vor Augen führen: Ganz abgesehen davon, dass Baerbock aus ihrer eigenen diplomatischen Taktlosigkeit keinen Hehl macht und offenbar auch nicht versteht, dass sie in den patriarchalischen Kulturen des Nahen Ostens kein angemessener Ansprechpartner ist – einerseits des Geschlechts wegen, andererseits aufgrund des Gastrechts und den damit verbundenen Privilegien und Pflichten –, verbucht sie diesen Auftritt als Erfolg. Weil sie glaubt, eine Diskussion angestoßen zu haben. Was die Jesidenführer wirklich untereinander besprechen, bleibt völlig offen.

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Die grüne Strategie, jede Art von Macht- und Herrschaftsanspruch zu dekonstruieren, indem sie aufweisen, dass eine bestimmte Haltung einem anderen „in die Hände spielt“ – ob nun andere Meinungen, die als AfD-Meinungen abgekanzelt werden, oder etwa auch aktuell an der weißrussisch-polnischen Grenze, wo paradoxerweise der Grenzschutz Lukaschenko „in die Hände“ spiele, weswegen man die Flüchtlinge aufnehmen solle – dürfte jedenfalls außerhalb des Fischgrätenparkett-Milieus nicht dieselbe Wirkung haben. Im Zweifel dürften sich die Jesiden auch über die Anmaßung der Deutschen geärgert haben. Wir wissen es nicht. Baerbock reist danach zurück nach Berlin. Sie hat ihre Mission erfüllt. Für jeden, der konstruktive und erfolgreiche Außenpolitik mit handfesten Ergebnissen will, die nicht darin bestehen, dass man durch Bezahlung und Aufnahme alle Probleme des Planeten lösen kann, ist es eine Aneinanderkettung von Desastern, von denen ein gescheiterter Stuhlkreis als krönender Abschluss verkauft wird. Aber gut, dass man mal miteinander geredet hat.

Dennoch: Es sind Auftritte wie diese, die schon vorab als Empfehlung dienen sollten. In der eigenen Blase kann sie diesen Besuch als Lehrerfahrung verbuchen – und sich deshalb als Außenministerin anbieten. Wie ihre Arbeit in der Praxis aussehen wird, kann man erahnen. Sollten wir uns tatsächlich eines Tages nach Heiko Maas zurücksehnen? In den USA hat man jedenfalls mit wachem Auge den Wechsel beobachtet – und schaut wohlwollend. Sie ist Mitglied der Atlantik-Brücke und im German Marshall Fund. Sie gehört den „Young Global Leaders“ des Weltwirtschaftsforums an und ist demnach gut mit den entscheidenden Köpfen vernetzt. Im Mai interviewte CNN sie beim europäisch-amerikanischen Future Forum. Die New York Times bot ihr im September mit einem langen Portrait eine Bühne. Baerbock geht deutlicher auf Distanz zu Russland und Nord Stream 2. Die SPD mit ihrem Altkanzler Gerhard Schröder, der den ersten Deal mit Putin einfädelte, und seine Nachfolgerin Angela Merkel, die wenig an der deutschen Erdgasstrategie geändert hat, haben niemals so deutliche Signale Richtung Moskau gesendet. Washington dürfte auch die China-Kritik zusagen, die zwar weniger geostrategisch denn menschenrechtlich ausfällt, aber ihr Ziel nicht verfehlt.

Anders als Maas ist Baerbock zudem für ihre pro-israelische Einstellung bekannt. Ihre erste Reise in den Nahen Osten unternahm sie mit dem American Jewish Committee. Sie sitzt außerdem im Stiftungsrat der Leo Baeck Foundation, die sich der Förderung der Jüdischen Religionsgemeinschaften widmet. Vielleicht ändert sich wenigstens etwas bei der zwielichtigen Zusammenarbeit von Auswärtigem Amt und fragwürdigen palästinensischen Organisationen – insbesondere im Umgang mit dem korrupten UNRWA. Das palästinensische Flüchtlingswerk galt als eines der liebsten Kinder von Maas und SPD. Es wird jedenfalls schwierig, Maas zu unterbieten.

Womöglich könnten die Grünen ihre Kandidatin, die hierzulande in jeden Fettnapf trat, international auslagern. Vielleicht ist aber das Außenministerium auch deswegen der beste Posten für Baerbock, weil das Auswärtige Amt schon lange nicht mehr die Bedeutung von einst hat. Merkel hat das Amt in ihrer Kanzlerschaft marginalisiert. Mit ihren zahlreichen Auslandsaufenthalten und ihrer Angewohnheit, die wichtigsten Empfänge und Besuche selbst durchzuführen, hat sie den Außenminister an die Wand gedrängt. Baerbock kann dann ihre Bildungsreisen tätigen, sollte Scholz diese Tradition fortsetzen. Hoffentlich zur Schadensbegrenzung für das Ansehen Deutschlands in der Welt.

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