Zwei Eigentore vor der WM sind besser als zwei während der WM. So gesehen kamen die beiden Treffer letzte Woche in London genau richtig. Auch die Reaktionen darauf. Sie reißen nicht ab und das ist gut so. Weil sie uns rechtzeitig vor der WM noch mal daran erinnern, in welchem Land wir längst leben.
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Es ist jetzt schon 34 Jahre her, dass sich der Eiserne Vorhang für mich mitten in Berlin, am Grenzübergang Friedrichstraße, öffnete. Über das Leben im Westen „Deutschlands“ wusste ich damals nichts. Meine Heimat war die „DDR“, in der war ich geboren und 20 Jahre aufgewachsen. Mit allem, was dazu gehörte. Und „Deutschland“ gehörte nicht dazu. Das war nur ein Wort für ein Land aus einer Zeit vor meiner. Immerhin hatte ich damals eine Adresse im Westen Berlins. Nur, wie ich hinkomme, wusste ich nicht. Zum Glück fragte mich ein Mädchen wo ich hinwolle. Sie hatte wahrscheinlich gesehen, dass ich von „drüben“ komme und von Nichts und Niemand eine Ahnung habe. Ich kramte den Zettel aus meiner Hosentasche und las ihr die Adresse vor. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte sie:
„Nimm einfach den Orientexpress und steige in Klein-Istanbul aus.“
Ich sah sie an, als spräche sie eine andere Sprache. Sie lachte nur und sagte:
„Steig einfach in die Linie 1 und fahre bis ‚Kottbusser Tor‘.“
Dort suchte ich zuerst eine Telefonzelle, um mich bei meiner neuen Adresse anzumelden. Aber ich wusste nicht, wie ich das Geld in den Telefonapparat stecken sollte. Ich schaute mich nach Hilfe um. Die ersten, die ich sah, waren drei Jungs, die nicht Deutsch aussahen. Ich wartete trotzdem, bis sie in meine Richtung sahen und hielt ihnen den Hörer entgegen:
„Wisst ihr, wie das funktioniert?“
Sie kamen feixend auf mich zu:
„Wo kommst du denn her?“
Ich zeigte mit der freien Hand dorthin, wo ich Dresden vermutete:
„Von drüben. Und ihr?“
„Auch nicht von hier.“
„Obwohl wir hier geboren sind.“
Ich verstand nicht richtig, was sie meinten:
„Was heißt das?“
„Wir sind Türken“, sagte der größte von ihnen, als wäre damit alles klar. Mir nicht, also fragte ich noch:
„Aber ihr lebt hier? Deswegen Klein-Istanbul?“
„Ja, Alter. Kreuzberg ist türkisch.“
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Türkische Gemüseläden, türkische Supermärkte, türkische Teestuben, türkische Restaurants, die türkischen Fleischereien, an jeder Ecke Kebapbuden und zwischendrin die türkischen Bäckereien, mit den vielen bunten süßen Sachen und das alles zusammen am Freitag auf dem berühmten „Türkenmarkt“. Es zog mich sofort in seinen Bann. In Dresden wäre das alles unvorstellbar gewesen, aber hier war es so normal, dass ich schon fast vergaß, wohin ich eigentlich „ausgereist“ war. Nach Deutschland. Nicht in die Türkei. Obwohl es natürlich auch Deutsche gab. Sogar mehr als Türken. Aber ich kam aus Sachsen, wo „die schönen Mädchen wie an Bäumen wachsen“. Mir fiel jede Frau mit Kopftuch mehr ins Gesicht, als zehn ohne.
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Wenn ich mit ihren Männern ins Reden kam, erfuhr ich, dass sie Anfang der sechziger Jahre aus dem Süden Europas in den Westen Deutschlands kamen, um dort das Wirtschaftswunder der Fünfziger weiterleben zu lassen. Dafür brauchten die Deutschen im Westen die Türken aus dem Süden und weil sie danach gleich hiergeblieben waren, gehören sie seitdem dazu. Sie und der Glaube, den sie damals mitgebracht und bis heute behalten haben: den Islam.
Eigentlich eine Religion wie jede andere in der Welt. Entweder man glaubt an sie. Oder nicht. Und je stärker man an sie glaubt, umso strikter lebt man nach ihren Regeln. Die sind dem einen heilig, dem anderen egal. Weil er an etwas anderes glaubt, oder an gar nichts. Überall dort, wo es deswegen nicht zum Krieg kommt, herrscht Frieden. So wie bei uns. Denn das ist unsere Kultur. Unser Glauben: Jeder wie er will, Hauptsache er zwingt den anderen nicht, dass er auch so will.
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Auch mit den Türken unter uns war das bisher so: Sie leben sowieso, wie sie glauben, Hauptsache, sie lassen uns damit in Ruhe. So konnten sie weiter Muslime sein und bis heute Muslime bleiben. Und jeder, der jemals in einem Stadtteil wie Kreuzberg gelebt hat, der weiß, dass sich das nie ändern wird. Es ist ein komplett anderes Universum. Niemals würde ein Moslem keiner mehr sein, um ein „Deutscher“ zu werden. Was aber niemandem wirklich Angst machen muss: Jeder wie er will, Hautsache er will nicht, dass der andere …… Solange er dafür steht oder spielt, ist er sowieso Deutscher. Moslem oder nicht.
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Aber nun scheint das alles nicht mehr zu gelten. Unser Frieden ist gestört. Recep Tayyip Erdogan betrat die große Bühne. Und sein Volk hat er gleich mitgenommen. Mal redet er vom „Osmanischen Reich“, mal von der „Wiedergeburt der Türken.“ Auch denen, die hier geboren sind, mitten in Deutschland und die trotzdem nie Deutsche wurden, sondern bis heute „unsere lieben türkischen Mitbürger“ blieben.
Zum Glück noch nicht alle, aber der Sultan am Bosporus hat schon mehr Freunde als Feinde unter den Türken in Deutschland. Plötzlich ist wieder jemand da, der ihnen aus dem Herzen spricht und weil das bis heute nicht Deutsch schlägt, ist jedes Wort von ihm für sie wie ein Schritt nach Hause, heim ins Reich. Sie müssen ihm nur folgen, dann sind sie wieder wer. Stolze Türken, statt ‚Scheiß Kanacken‘.
Hatten sie je einen Grund, Deutsche zu werden?
Darüber wundern sich heute die am lautesten, die schon ihr Leben lang dafür sorgen, dass Deutschland kein Land zum lieben ist. Deutschlandhasser gibt es unter uns Deutschen ja viel mehr als unter den Türken, die schon deshalb unser Land nicht als ihr Land sehen wollen und werden:
„Warum sollten wir Deutschland lieben, wenn ihr es selbst nicht mal könnt?“
So wie sie ihre Türkei. Egal, ob sie dort geboren wurden oder nicht. Auch das hatte ich damals gelernt und auch das hat sich bis heute nicht verändert. Sonst würden wir ganz anders mit unserem Land umgehen. Was man liebt, beschützt man, und was man beschützt, verteidigt man. Zu Hause. Wie in aller Welt.
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So wie ab Juni bei der Weltmeisterschaft. Mit einer Mannschaft, die uns wieder zeigen wird, in welchem Land wir längst leben. Ob wir das wollen oder nicht. Und im Fußball sollten wir wollen. Ohne anderes Blut in seinen Adern wird der Adler den Thron nicht besteigen, den Titel nicht verteidigen. Und nur darum geht es ja. Deutschland vor, noch ein Tor. Wenn es sein muss, auch im Namen Allahs.
Torsten Preuß ist Journalist und Schriftsteller.