Tichys Einblick
Angela Merkel und Viktor Orbán

Geschwister im Geiste

Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe: Ungarns Ministerpräsident und Deutschlands Bundeskanzlerin sind in den Inhalten ihrer Politik so verschieden, wie sie sich in den Methoden ähneln.

imago Images

Irgendwie haben alle prominenten angeblichen Rechtspopulisten dieser Welt Vornamen wie Bösewichter aus James-Bond-Filmen: Donald, Boris, Jair, Jaroslaw…

Und natürlich: Viktor.

Auf der Liste von Lieblingsschurken deutscher Leitmedien hat Ungarns Ministerpräsident Orbán inzwischen den britischen Regierungschef Johnson als Spitzenreiter abgelöst. Wenn das Hamburger Relotius-Magazin einen als „Westentaschen-Diktator“ bezeichnet, hat man es ganz nach oben geschafft.

Oder ganz nach unten, je nachdem. In der zeitgenössischen germanischen Darstellung ist Viktor jedenfalls so eine Art gefallener Engel der Europäischen Union nach dem Höllensturz.

Das himmlische Gegenkonzept dazu erkennt man schon am Namen. Die weibliche Form des lateinischen Worts für „Engel“ ist – richtig: Angela, womit wir uns elegant zur Bundeskanzlerin vorgeschummelt haben. Nicht nur von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern aufgekaufte Berliner Zeitungen haben Merkel als „Königin Europas“ bezeichnet, und das war keine Satire.

In dieser Wahrnehmung stehen Merkel und Orbán quasi archetypisch für Gut und Böse. In dieser Wahrnehmung sind die beiden in der Realpolitik das, was die Amazone Diana (Wonder Woman) und der Kriegsgott Ares für Comicfans sind: Erzfeinde im ewigen Kampf des Lichts gegen die Dunkelheit.

Ein Blick hinter die Kulissen legt allerdings ein anderes Bild frei. In Wahrheit sind zwar die Inhalte der Politik von Ungarns Ministerpräsident und Deutschlands Bundeskanzlerin sehr verschieden.

Aber in den Methoden der Politik ähneln sie sich sehr.

Die Inhalte

Man tut Viktor Orbán wohl kein allzu großes Unrecht, wenn man vermutet, dass er die EU überwiegend als Einkommensquelle betrachtet und ansonsten von ihr in Ruhe gelassen werden will.

Mit dieser Einstellung ist er auch keineswegs allein: Im Prinzip wird sie von allen Staaten der sogenannten Visegrád-Gruppe – Ungarn, Polen, Slowakei, Tschechien – geteilt (und von noch mehr Ländern im Süden, aber das ist eine andere Geschichte).

Orbán ist strikt gegen mehr Zuständigkeiten für Brüssel und entsprechend auch gegen jeden Ausbau der EU zu einem Bundesstaat. Stattdessen will er möglichst viele Kompetenzen nach Budapest zurückholen und die nationale Souveränität stärken. Der Ungar und die Europäische Union sind in herzlicher gegenseitiger Abneigung vereint.

Orbán ist gegen mehr Zuwanderung nach Europa, mindestens jedenfalls nach Ungarn, und für ein rigides Grenzregime – das heißt: Zäune, und notfalls Gewalt gegen illegale Einwanderer.

Wirtschaftlich setzt der Mann auf Kohle- und Kernenergie sowie auf eine Stärkung der Landwirtschaft durch deren Entlastung von bürokratischen Vorschriften.

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Zu kaum jemandem könnte der inhaltliche Gegensatz größer sein als zu Angela Merkel:

Deutschlands ohnehin schon gebeutelten Bauern wurde gerade erst durch die von der Kanzlerin rüde durchgepeitschte Düngemittelverordnung ein neuer Schlag in die Magen- und in die Güllegrube versetzt. Kernkraftwerke lässt Merkel abschalten, den Kohlebergbau stilllegen.

In Europa – und eigentlich auf der ganzen Welt – ist Deutschlands Regierungschefin zu DEM Gesicht für offene Grenzen geworden. Selbst wenn sie das (wie meistens) öffentlich nicht deutlich sagt: Ihre tatsächliche Politik ist deutlich auf mehr Zuwanderung ausgerichtet.

Merkel hat sich nie gegen die schleichende (besser: trampelnde) Verlagerung von Zuständigkeiten in die EU-Zentrale gestemmt. Im Gegenteil – sie warb dafür, die EU mit staatsähnlichen Befugnissen auszustatten:

„Ich bin dafür, dass die Kommission eines Tages so etwas wie eine europäische Regierung ist,“ erklärte die Kanzlerin auf dem EU-Gipfel in Brüssel am 7. November 2012.

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Normalerweise heißt es: „Da hören die Gemeinsamkeiten auf.“ Hier ist es genau umgekehrt: Hier hören die Unterschiede auf – und die Gemeinsamkeiten beginnen.

Der Werdegang

Viktor Orbán ist ganz Kind des ungarischen Sozialismus.

Der Mann wuchs in einem linientreuen Elternhaus auf. Es ist sicher keine Übertreibung zu sagen: Er war auch selbst früh auf Linie – so sehr, dass er Jura studieren durfte. Das ging nicht ohne Genehmigung und Protektion durch die Partei – auch nicht in Ungarn (der „lustigsten Baracke des Warschauer Pakts“), das im Vergleich zu den anderen Staaten des Ostblocks ziemlich freizügig war.

Danach arbeitete der staatstreue junge Mann im Landwirtschaftsministerium. Ohne besondere Nähe zum Regime war auch das völlig unmöglich, selbst in Ungarn.

Intelligent, ehrgeizig, zielstrebig – Viktor Orbán hatte sich auf eine Karriere unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus eingestellt und seine Lebensplanung entsprechend gezeichnet.

Dann fiel der Eiserne Vorhang, Europa wurde auf den Kopf gestellt. Orbán nutzte die Gelegenheit – und ging 1990 in die Politik. Auf dem Heldenplatz in Budapest stieg er auf eine Gemüsekiste und forderte zum Entsetzen der Budapester linksliberalen Intelligentia die Russen auf, nach Hause zu gehen.

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Angela Merkel ist ganz Kind der sozialistischen DDR.

Die Frau wuchs in einem linientreuen Elternhaus auf. Ihr Vater Horst Kasner war 1954 aus Überzeugung mitsamt der Familie aus dem Westen in die sowjetische Besatzungszone umgesiedelt.

Der Mann war zwar Pastor – aber er gehörte zu einer Gruppe von Theologen, die im Sozialismus eine echte Alternative zum westlichen Kapitalismus sahen. Kasner wurde geistiger Vater der „Kirche im Sozialismus“: Das war jenes Konzept, mit dem die sowjetisch kontrollierte DDR-Führung ihre kirchenpolitische Konzeption umsetzen wollte.

Als die Ost-Konferenz der evangelischen Kirchen in der DDR 1961 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in Übereinstimmung mit der EKD feststellte, Christen dürften sich nicht dem Absolutheitsanspruch einer Ideologie unterwerfen, formulierte Kasners Gruppe die Gegenposition. Ihre „Sieben Sätze von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ erklärten die Zusammenarbeit mit der „antifaschistischen Staatsmacht“ zur Christenpflicht.

So wuchs Merkel auf. Da verwundert es auch nicht mehr, dass sie studieren durfte (das blieb Kindern aus kirchennahen Kreisen sonst meist verwehrt). Anders als viele andere Pfarrerskinder, entzog sie sich den Massenorganisationen des SED-Staates ausdrücklich nicht:

Sie ging zu den Jungen Pionieren und wurde später stellvertretende FDJ-Sekretärin an ihrer Schule. Die junge Frau war also nicht nur einfaches Mitglied der SED-Jugendorganisation, sondern leitende Funktionärin. In der 10. Klasse wurde sie für diesen Einsatz mit der „Lessing-Medaille in Silber“ ausgezeichnet.

Intelligent, ehrgeizig, zielstrebig – Angela Merkel hatte sich auf eine Karriere unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus eingestellt und ihre Lebensplanung entsprechend gezeichnet.

Dann fiel der Eiserne Vorhang, Europa wurde auf den Kopf gestellt. Merkel nutzte die Gelegenheit – und ging 1989 in die Politik.

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„Bis zu einem gewissen Grad unangepasst, waren ihre Vorstellungen und ihr Verhalten doch mit bestehenden Herrschaftsstrukturen kompatibel.“

Das schrieb einst Die Welt.

Die Methoden

Viktor Orbán nutzt das, was Ungarn ihm anbietet.

Er nutzt (und benutzt) den ungarischen Nationalismus. Der ist im Land historisch tief verwurzelt – und Orbán spielt diese Karte besonders geschickt. Die Präambel der Verfassung beginnt jetzt mit einem „Nationalen Glaubensbekenntnis“. Der Begriff „Republik Ungarn“ wurde ersetzt durch die Formulierung „Der Name unserer Heimat ist Ungarn“. Daran gibt es im Land praktisch keine Kritik – auch nicht von der linken Opposition: In Sachen Nationalismus ist die eher noch radikaler als Orbán.

Orbán nutzt (und benutzt) die ungarische Mentalität. Die Nationalfigur der Magyaren heißt „állambácsi“ – das bedeutet so viel wie „Onkel Staat“, und natürlich ist das kein Zufall. Die Figur symbolisiert die Sehnsucht der Ungarn nach starker Führung. Genau diese Sehnsucht bedient er: markige Sprüche, autoritäre Attitüde. Vermutlich muss er das nicht spielen, es entspricht ohnehin seinem Naturell. Und vermutlich ist er deshalb so erfolgreich.

Orbán nutzt (und benutzt) einen Milliardär. Der aus Ungarn stammende US-Investor George Soros spielt für Orbáns Karriere eine wichtige Rolle. Erst arbeitete Orbán ab April 1988 für die „Soros Foundation of Central Europe Research Group“. Von ihr erhielt er im September 1989 auch ein Studienstipendium für „Geschichte der englischen liberalen Philosophie“ am Pembroke College in Oxford. Vor der ungarischen Parlamentswahl 1990 brach er dieses Studium ab, um in die Politik zu gehen.

Wenig später begann er, Soros öffentlichkeitswirksam als einen Hauptgegner seiner Politik und des ganzen Landes zu zeichnen.

Orbán nutzt (und benutzt) den Rechtsstaat. Anders: Er macht ihn sich gefügig – das geht am besten dadurch, dass man die richtigen Leute zu Richtern macht. Mit einer umstrittenen Justizreform im Jahr 2012 ließ er 300 Richter zwangspensionieren und durch regierungsnahe Nachfolger ersetzen.

Was in deutschen Medien einen Proteststurm erzeugte, wird bei Experten deutlich nüchterner gesehen: Ein Arbeitsgruppenbericht der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik kam 2015 zu dem Schluss, dass Ungarn ein freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat sei.

Die EU läuft trotzdem bis heute Sturm und wirft Budapest eine „Aushöhlung des Rechtsstaats“ vor. Das ist übrigens dieselbe EU, über die der ehemalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) vor kurzem sagte: „Wäre die EU ein Staat – sie würde wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit nicht in die EU aufgenommen.“

Orbán nutzt (und benutzt) die Zentralbank. Deren Unabhängigkeit kann ihm, kurz gesagt, schnuppe sein. Laut Gesetz schlägt sowieso Orbán den Zentralbankpräsidenten vor, und das Institut soll ganz offiziell die Wirtschaftspolitik der Regierung unterstützen. Orbán dirigiert vor den Kulissen.

Orbán nutzt (und benutzt) die Corona-Krise – zur Machterweiterung. Das Parlament verabschiedete gerade Regelungen, die nicht völlig unplausibel als „Ermächtigungsgesetz“ kritisiert werden. Orbán darf jetzt zeitlich unbegrenzt per Dekret regieren.

Seine Regierung kann den am 11. März wegen der Pandemie verhängten Notstand ohne die Zustimmung des Parlaments unbegrenzt verlängern. Außerdem darf sie „die Anwendung bestimmter Gesetze per Dekret aussetzen“, feste Vorgaben nicht einzuhalten und „andere außergewöhnliche Maßnahmen einzuführen, um die Stabilität des Lebens, der Gesundheit, der persönlichen und materiellen Sicherheit der Bürger wie der Wirtschaft zu garantieren“.

Dabei kommt Orbán die weiter große Zustimmung weiter Bevölkerungsteile zu ihm als Person entgegen.

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Angela Merkel nutzt das, was Deutschland ihr anbietet.

Sie nutzt (und benutzt) den deutschen Anti-Nationalismus. Der hat im Land nach dem Zweiten Weltkrieg tiefe Wurzeln geschlagen – und Merkel spielt diese Karte besonders geschickt. So weit es nur geht, hat sie die Begriffe „deutsch“ und „Nation“ aus ihrem Wortschatz gestrichen.

Unvergessen ist die Episode, wie sie auf der CDU-Siegesfeier nach der Bundestagswahl 2013 ihrem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe ein Deutschlandfähnchen aus der Hand schlägt:

Bis heute erzählt man sich in der Zentrale des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) auch ziemlich empört hinter vorgehaltener Hand, wie massiv das Kanzleramt im Jahr 2016 Druck ausübte: Damals wollte der DFB einen neuen Markennamen für das deutsche Team etablieren. „Die Nationalmannschaft“ war von PR-Experten vorgeschlagen worden, durfte es nach dem Willen der Kanzlerin aber nicht sein. Der damalige DFB-Präsident Reinhard Grindel – einst Merkel-getreuer CDU-Bundestagsabgeordneter, inzwischen wegen erwiesener Korruption zurückgetreten – sorgte dann dafür, dass es am Ende „Die Mannschaft“ wurde.

Merkel nutzt (und benutzt) die deutsche Mentalität. Unsere Nationalfigur ist der „Deutsche Michel“ – das ist der mit der Schlafmütze, und natürlich ist das kein Zufall. Die Figur symbolisiert die Sehnsucht der Deutschen, in Ruhe gelassen zu werden, sich um nichts kümmern zu müssen und auf die Obrigkeit zu vertrauen. Genau diese Sehnsucht bedient sie: ruhiges Auftreten, mütterliche Attitüde. Vermutlich muss sie das nicht spielen, es entspricht ohnehin ihrem Naturell. Und vermutlich ist sie auch deshalb so erfolgreich.

Merkel nutzt (und benutzt) eine Milliardärin. Friede Springer, Witwe von Axel Springer und Haupterbin von dessen Verlagsimperium, ist eine der wenigen Duzfreundinnen der Kanzlerin. Die Publikationen des Verlags haben Merkels Aufstieg und ihre Amtszeit stets wohlwollend begleitet – das zeigen Schlagzeilen wie „Kanzlerin der Herzen“, „Super-Merkel“, „Standfeste Powerfrau“, „Eiserne Kanzlerin“, „Mächtigste Frau der Welt“.

Es scheint eine Verbindung zum beiderseitigen Nutzen zu sein. Für die CDU unter ihrer damaligen Vorsitzenden Merkel nahm Friede Springer in den Jahren 2004, 2009, 2010 und 2012 jeweils an der Wahl zum Bundespräsidenten teil (als Mitglied der 12., 13., 14. und 15. Bundesversammlung). Im sechsköpfigen Kuratorium der 2011 gegründeten Friede-Springer-Stiftung findet sich ein Prof. Dr. Joachim Sauer – Merkels Ehemann.

Merkel nutzt (und benutzt) den Rechtsstaat. Anders: Sie macht ihn sich gefügig – das geht am besten dadurch, dass man die richtigen Leute zu Richtern macht. Anders als in Ungarn braucht Merkel dafür aber keine umstrittene Justizreform. In Deutschland geht das einfacher – beim Bundesverfassungsgericht zum Beispiel so:

Der Bundesjustizminister – also ein Kabinettsmitglied, das der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin unterliegt – macht Bundestag und Bundesrat einen Kandidatenvorschlag. De facto passiert das nach Absprache der großen Parteien. Bis zum Jahr 2016 hatten CDU/CSU und SPD sich darauf geeinigt, Kandidaten weitgehend abwechselnd vorzuschlagen. Danach nahm man auch Bündnis‘90/Grüne in das Richterwahlkartell auf – weil ohne die Ökopaxe im Bundesrat die vom Grundgesetz vorgeschriebene Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erreichbar gewesen wäre.

Im Ergebnis hat Deutschland – das Ungarn so gerne in Sachen Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit belehrt – unter anderem diese Verfassungsrichter:

Charmant ist auch der Fall von Verfassungsrichterin Christine Langenfeld: Sie war in einem früheren Leben mal Vorsitzende des „Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration“. Das ist aber – entgegen ihrem Namen – keine Organisation von Experten, sondern von Pro-Zuwanderungs-Aktivisten.

Ungarn hat vielleicht ein Gewaltenteilungsproblem – Deutschland hat es ganz sicher. Niemand käme hier auf die Idee, das Parlament (die legislative Gewalt) durch einen „Parlamentsminister“ verwalten zu lassen. Die Justiz (die judikative Gewalt) wird aber von einem Justizminister beaufsichtigt – also von einem Mitglied der exekutiven Gewalt.

Die EU sagt dazu – nichts. Das ist angesichts der Brüsseler Dauerkritik an Ungarn etwas verwunderlich. Denn wenn etwa ein neuer Staat in die Europäische Union aufgenommen werden will, muss er bestimmte rechtsstaatliche Standards erfüllen. Die besagen eindeutig, dass die Justiz durch Organe verwaltet werden soll, die von Exekutive und Legislative unabhängig sind.

Ungarn übrigens erfüllt diese Standards. Drei andere EU-Staaten tun dies aber nicht: Österreich, Tschechien – und Deutschland. „Wenn Deutschland heute der EU beitreten wollte, würde es nicht mehr aufgenommen,“ sagt der ehemalige Landgerichtspräsident Hans-Ernst Böttcher, der auch Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht war.

Merkel nutzt (und benutzt) die Zentralbank. Deren Unabhängigkeit ist ihr, kurz gesagt, schnuppe. Gegen ihren Willen wird niemand Bundesbankpräsident. Dem derzeitigen Amtsinhaber, Jens Weidmann, hielt sie jahrelang immer wieder ihre Unterstützung für dessen Ambitionen auf den Chefsessel bei der Europäischen Zentralbank EZB vor die Nase wie dem Esel die Mohrrübe.

2010 verlangte sie gegen jede traditionelle Etikette (und jenseits ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen) öffentlich die Entfernung von Thilo Sarrazin aus dem Bundesbank-Vorstand. Das Kanzleramt übt bekanntermaßen enormen Druck aus und bestimmt die Bundesbank-Politik. Merkel dirigiert hinter den Kulissen.

Merkel nutzt (und benutzt) die Corona-Krise – zur Machterweiterung. „Die Corona-Republik wird nun von Corona-Gremien gelenkt, die so im Grundgesetz nicht vorgesehen sind,“ kritisiert Robin Alexander in der Welt. „Deutschland hat (…) weitreichende Möglichkeiten zur Einschränkung von Gewaltenteilung und Grundrechtsschutz in Kraft gesetzt,“ warnt Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in der Neuen Zürcher Zeitung. „Wir stehen vor Hygienemaßnahmen ganz anderer Art: Der Rechtsstaat ist schwer beschmutzt,“ beklagt der Rechtsprofessor Oliver Lepsius.

Selbst ausgewiesene Hardcore-Linke flüchten sich bei dieser Sachlage in einen Sarkasmus, bei dem die Angst deutlich durchschimmert:

Dabei kommt Merkel die immer noch große Zustimmung weiter Bevölkerungsteile zu ihr als Person entgegen – einschließlich einer verstörend großen Zustimmung zur faktischen Abschaffung von Grundrechten auf unbestimmte Zeit sowie einer nicht minder verstörenden Lust mancher Deutscher an der Denunziation.

Fazit

Angela Merkel und Viktor Orbán: Beide haben keine wirklichen Überzeugungen – außer der eigenen Macht.

Entsprechend verfolgen beide opportunistisch stets jene politischen Inhalte, die für ihren Machterhalt am ehesten nützlich sind. In Ungarn ist das väterlich-strenger Nationalismus. In Deutschland ist das mütterlich-einschläfernder Anti-Nationalismus.

Unter den Bedingungen des Landes, in dem sie jeweils leben, greifen sie dabei auf alle verfügbaren Methoden zurück. Orbán in Ungarn ist offen autoritär, weil er es sein kann. Merkel in Deutschland ist versteckt autoritär, weil sie es sein kann.

Aber ganz gleich, ob offen oder versteckt: Verächter des pluralistischen Rechtsstaats sind sie beide.

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