In einer Karikatur sieht man Kopf und Rücken zweier Menschen, die nebeneinander sitzen, während der eine froh verkündet: „Ich bin jetzt bei den Grünen“, fragt der andere nach: „ARD oder ZDF?“. Wenn man den Scherz etwas paraphrasieren würde, lautet die Frage mit Blick auf den Ökumenischen Kirchentag, der vom 13. Mai bis heute in Frankfurt am Main überwiegend digital stattfindet, auf die Mitteilung „Ich bin jetzt bei den Grünen“ „Evangelisch oder Katholisch“. Und damit wäre im Grunde auch alles gesagt. Fast alles, jedenfalls, wenn es nicht eine Diskussion zwischen Angela Merkel und Luisa M. Neubauer und weiteren drei, im Ergebnis zu vernachlässigenden Teilnehmern gegeben hätte, da sie nichts substantiell Differierendes beizutragen hatten und wohl auch nicht sollten. Selbst Angela Merkel, vielleicht unbeabsichtigt, kritisierte die einseitige Besetzung des Podiums, als sie die Tatsache ansprach, dass keiner in der Runde säße, der nicht einverstanden wäre mit der Klimapolitik der Regierung und den Forderungen von Fridays for future. Der Kirchentag hat also in diesem Forum zur Klimafrage eine Diskussion verhindert und einem Gespräch über Gleichgesinnten den Vorzug gegeben. Beim politischen Gegner würde man das „Blase“ nennen. Übrigens nicht nur auf diesem Forum, so brach das christliche Medienmagazin Pro unter der Überschrift „Bühne für die Kanzlerkandidaten“ darüber in Jubel aus, dass die Grünen-Kanzlerkandidatin und Co-Parteichefin so „perfekt in die Runde“ passte, dass es dann auch wenig kontrovers“ zuging. Schließlich: „Baerbock passte nicht nur perfekt in die Runde, ihre Ziele scheinen auch ganz wunderbar mit dem Welt- und Menschenbild der Kirche zusammenzupassen.“ Der Kirchentag als Lizenzveranstaltung der Grünen Partei?
Merkel und Neubauer diskutierten bei gleicher Einschätzung, bei gleicher Ideologie, eigentlich nur darüber, wie schnell und in welcher Dimension man sogenannte Klimaschutzmaßnahmen durchsetzen kann und soll. In dem Disput gab die Kanzlerin die erfahrene Politikerin und Luisa Neubauer die junge, ungestüm drängende Aktivistin. Wer die DDR noch erlebt hatte, war nicht nur an das „Lied von der unruhevollen Jugend“ mit den unvergesslichen Zeilen:
„Noch bleibt uns manch’ Lied zu singen,
manch Sturmwind noch zu bezwingen,
doch seh’n wir schon klar vor Auge
das leuchtende, große Ziel“: die Klimaneutralität, erinnert, sondern auch an die vielen hübschen Szenen in Film oder Theater, im Hörspiel oder in der Prosa, in der ein älterer, erfahrener Genosse den jungen auf den richtigen Pfad bringt und dessen revolutionäre Ungeduld bremst.
In dem ihr eigenen Bedeutungsbewusstsein posierte Luisa M. Neubauer auch als die Vertreterin der Jugend, obwohl viele Jugendliche und junge Leute mit ihr wahrlich nicht übereinstimmen. Doch der Kanzlerin dürfte es gefallen haben, dass wie einst die FDJ für die Jugend schlechthin stand, nun Fridays for Future als alleiniger Vertreter der jungen Generation auftritt. Jedoch spätestens seit der letzten Shell-Studie wissen wir, dass weder Luisa Neubauer, noch Fridays for Future die Jugend repräsentieren, Neubauers Jugend im Wesentlichen eine Medienkonstruktion darstellt.
Angela Merkel bemühte sich geduldig, im Gespräch auf die Regularien der Demokratie hinzuweisen, auf die Notwendigkeit, die Menschen mitzunehmen. Doch allein die Vorstellung, dass nur der weise Politiker wisse, was zu tun sei – bei Strafe des Weltuntergangs – und nun alles zu unternehmen hätte, um das dumme Volk zumindest in die Grundzüge des Regierungsweisheit einzuweisen, um ihn mitzunehmen, ist für eine repräsentative und pluralistische Demokratie eine äußerst problematische Vorstellung. Es fragt sich überdies, woher bei dürftigen oder fehlenden Abschlüssen, wie man sie vor allem bei den Grünen findet, deren politische Vorstellungen Angela Merkel seit Jahren politisch umsetzt, die große Weisheit herkommen soll, die sie dazu berechtigt, Handwerksmeister, Ingenieure, Facharbeiter, Unternehmern Ärzte, Wissenschaftler zu belehren, um sie „mitzunehmen“. Und wohin? Auf das „Narrenschiff Utopia“, wie einst Franz Josef Strauß spottete?
Aber die erfahrene Politikerin belehrt und warnt die junge Aktivistin davor, zu schnell zu viel zu wollen, denn dann könnte es geschehen, dass irgendwann die „Klimaleugner“ die Mehrheit bekämen, was Angela Merkel nun keinesfalls wolle. An diesem Punkt allerdings – und sie hat tatsächlich „Klimaleugner“ gesagt – fragt man sich, welchen Umgang die Bundeskanzlerin pflegt, denn ich bin bisher noch niemanden begegnet, der die Existenz des Klimas leugnet, auch kenne ich keinen, der jemandem kennt, der behauptet, das Klima existiere nicht.
Die eigentliche, die sachliche Diskussion würde, wenn man sie denn zuließe, wenn man Inhalte und nicht Stigmatisierungen bevorzugen würde, sich zunächst um vier Punkte drehen: da erstens die Erdgeschichte auch eine Geschichte der ständigen Klimaveränderung, des ständigen Klimawandels ist, was es zu begreifen gilt, stellt sich zweitens die Frage, in welcher Weise und für welche Region sich das Klima verändert, was drittens erst eine sinnvolle und von den richtigen Prämissen ausgegangene Untersuchung darüber ermöglicht, wie hoch der Anteil des Menschen am Klimawandel ist, um schließlich darüber nachzudenken, wie wir den unvermeidlichen Konsequenzen des Klimawandels mithilfe von Wissenschaft und Technik begegnen. Die Fixierung auf einen CO-2 Wert, der die Wirkung von Sonne, Mond und Gravitation auf das Klima bspw. ausklammert, reduziert den CO-2 Wert auf reines Voodoo. Schaut man von einem strukturalistischen, sogar von einem poststrukturalistischen Standpunkt auf die ideologischen Systeme, dann scheint der Inzidenzwert in der Pandemiebekämpfung, das zu sein, was die CO-2 Emission für die Klimapolitik ist. Über diese Fragen könnte man sachlich diskutieren, wenn Merkel und Neubauer nicht, statt über die Wirklichkeit zu reden, die Verschwörungstheorie vom Klimaleugner bemühen würden.
Bemerkenswert ist, dass Luisa Neubauer sich von der politischen Weisheit der Kanzlerin nicht einfangen lässt, nicht Merkels Sorge teilt, denn für sie scheint die Demokratie mit Wahlen und Gewaltenteilung ein veraltetes Modell zu sein. So erklärt sie der Bundeskanzlerin, dass die Frage nicht lautet, wie man etwas demokratisch durchsetzen könne, sondern: „Was brauchen denn Demokratien im 21. Jahrhundert, um uns durch diese Krisen zu bringen, wie müssen sie ausgerüstet sein.“ Nicht demokratische Entscheidungsprozesse sind wichtig, sondern Mechanismen, die Neubauers politische Vorstellungen durchstellen. Im Klartext heißt das, wenn meine politischen Ziele nicht in der Demokratie zu verwirklichen sind, dann muss eben die Demokratie verändert werden. Heißt das nicht auch, dass, wenn die einzigen Mittel, um durch die von Neubauer erklärten Krisen zu kommen, Stalinismus, Diktatur und Gulag sind, die Demokratie Stalinismus, Diktatur und Gulag benötigen würde?
Das klingt polemisch und auf die Spitze getrieben, sicher, doch in der ZDF-Sendung aspekte stellt Neubauer die Systemfrage: „Ich finde es krass, dass man anscheinend annimmt, dass es nur in einem kapitalistischen System so etwas wie Innovationsgeist gibt. Auch da denke ich, so he, das klingt ein bisschen nach einer Art 20. Jahrhundert-Trauma, dass man damals gedacht hat wouwouwou das geht nicht, jetzt kann es auch nicht gehen.“ Stimmt, zwanzig Millionen Menschen, die allein in der Sowjetunion durch den stalinistischen Terror, durch den Sozialismus umgekommen sind, Männer, Frauen und Kinder, durch Genickschuss in den Kellern der politischen Polizei, in den Lagern elendig zugrunde gegangen, ausgehungert im Holodomor, durch Vertreibung und Umsiedlung dort gestorben, wo man sie, nachdem man sie aus ihren Häusern und Wohnungen Mitten in der Nacht weggezerrt, in der kalten Steppe aus den Viehwaggons getrieben und ausgesetzt hatte. Das ist ein Trauma – und die Wahrheit über den Sozialismus. Ich möchte wirklich nicht, dass das „jetzt gehen kann“. Darüber kalt hinwegzugehen, zeugt entweder von einem bemerkenswerten Mangel an Empathie oder vom eklatanten Fehlen historischer Kenntnisse. Dass die sogenannte Klimakrise nur das trojanische Pferd ist, um einen neuen Sozialismus zu errichten, hat Neubauer längst zugegeben, schließlich sagt Neubauer: „Menschen, die sich mit der Klimafrage beschäftigen, stellen irgendwann auch die kapitalistische Wirtschaftsweise infrage.“ Das ihr Ziel in Sozialalchemie besteht, führte sie in dem besagten aspekte-Interview aus: „Ich frage mich da, wo wir da innovativ werden, wenn es darum geht, Wirtschaftssysteme zu erdenken, die vereinbar sind mit Paris und innerhalb unserer planetaren Grenzen funktionieren können. Denn daran ist der Kapitalismus bisher gescheitert.“
Dem Holodomor, der schrecklichen Hungerkatastrophe in der Sowjetunion, die Anfang der Dreißiger Jahre ausbrach, fielen schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer, weil man ein neues Wirtschaftsmodell, ein nicht kapitalistisches, ein Modell der Gemeinwohlwirtschaft erdacht und durchgesetzt hatte.
Deshalb lautet die Frage nicht, was Demokratien im 21. Jahrhundert brauchen, „um uns durch diese Krisen zu bringen“, sondern Krisenprävention und Krisenmanagement müssen in der pluralistischen und repräsentativen, die auf dem Prinzip des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts, dem Prinzip der Gewaltenteilung und in Deutschland des Föderalismus beruhen, diskutiert und in demokratischen Verfahren beschlossen werden. Das Prinzip der Diktatur beruht darauf, die eigene Meinung zu verabsolutieren und allen Widerspruch auszuschalten, die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse so zu gestalten, dass das, was ich will, durchgesetzt wird.
Lusia M. Neubauer muss nicht „innovativ“ werden, die Demokratie, in der nicht der politische Wille der Bürger, sondern eine Ideologie bestimmt, existiert bereits – und sie heiß sozialistische Demokratie. Das hätte ihr Angela Merkel aus eigener Erfahrung auch mitteilen können.