Tichys Einblick
Zahnräder im System der Einschüchterung

Angela Merkel hat eine Herrschaft der Angst etabliert – die bis heute wirkt

Disziplinarverfahren gegen Polizisten, Beamte mit Beweislastumkehr, und Journalisten, deren Sorge vor der persönlichen Vernichtung sie dazu treibt, einen Hilferuf zu schreiben – woher kommt diese Herrschaft der Angst? Schäubles Memoiren geben eine Antwort.

IMAGO

Rund 400 Polizisten droht ein Disziplinarverfahren wegen extremistischer Umtriebe. Seit 1. April tritt die Reform ein, die dafür sorgen soll, Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen – es gilt die Beweislastumkehr, sollte sich jemand zu Unrecht als Verfassungsfeind gebrandmarkt und diszipliniert sehen.

Zugleich veröffentlichen Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein Manifest. Es ist ein Hilferuf. Die Angst vor dem Vernichtungswillen des Systems, das nichtlinientreue Individuen aussondern will, tropft aus jeder Serife. Die Antwort des ÖRR: Die anonymen Kritiker darunter sollen sich gefälligst zu erkennen geben. Der Deutsche Journalistenverband, der in seiner Quintessenz die Rechte von Journalisten schützen soll, schließt sich der Aufforderung des Wolfes an, die Schafe mögen in sein Maul treten, es passiere schon nichts, wenn sie es ehrlich meinten.

Die Begründungen sachlicher Art reichen dabei an das Niveau der gymnasialen Unterstufe heran. Etwa, wenn der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sein eigenes Rechtsextremistentum dadurch begründet sieht, weil auf Facebook und Twitter/X jemand etwas gepostet hat. Oder wenn der Deutsche Journalistenverband, der sich so sehr um die Qualität und Recherche des Medienwesens bemüht sieht, den Opfern der Medienmaschinerie vorwirft, sie würden wirtschaftsliberalen und rechtspopulistischen Medien Interviews geben – und mit dem Selbstbewusstsein eines Vorzeigestrebers auf Wikipedia als Quelle verweist.

Es gilt die alte Diktion: Finden Sie irgendetwas! Die Unart, die schon vor ein paar Jahren die Universitäten ergriffen hat, nicht ergebnisfrei, sondern ergebnisorientiert (und zwar mit einem Ergebnis, das vorher feststeht) zu forschen, hat mittlerweile das gesamte gesellschaftliche Leben erfasst. Der unangenehme Zweifel wurde zugunsten der falschen und richtigen Überzeugung abgeschafft. Das befreit den seit dem Fin de siècle orientierungslos umherstreifenden Massenmenschen von der Verantwortung, selbst denkend oder auch selbst glaubend tätig zu werden: Das Ziel ist so klar wie der Gegner. Das hat zwar schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts katastrophale Folgen gehabt, aber mit Sicherheit funktioniert es dieses Mal.

Wenn die Wahrheit keinen Eigenwert mehr hat, dann kann und muss man Wahrheit schaffen. Auch deswegen leben wir in einem Correctiv-Zeitalter. Journalisten erheben sich über andere und diktieren, was Fakt und was Desinformation ist. Aber das Phänomen hat nicht erst seit der Potsdamer Runde an Einfluss gewonnen. Ein Renegat des ÖRR bekennt: Der Faktenfinder der Tagesschau nehme nach seinem Gefühl eine ähnliche Aufgabe wie das „Wahrheitsministerium“ ein.

Das sitzt. Aus mehreren Gründen. Denn die Herrschaft der Angst macht stumm, aber offenbar noch nicht servil genug. Es ist einfach für die als rechts, dunkeldeutsch, AfD-affin, fundamental-christlich, Corona-Kritiker titulierten Ausgesonderten, im Widerstand zu sein. Es ist aber deutlich schwieriger, so nah an der Quelle zu sitzen. Wenn man selbst in der Herzkammer der Öffentlich-Rechtlichen, wo die Meinung für ein Millionenpublikum regierungskonform vorgegeben wird, immer noch genügend Menschen hat, die erkennen, dass sie ein richtiges Leben im falschen führen, dann ist einiges gewonnen.

Das hat eher prinzipielle denn praktische Gründe. Freilich ist keine Revolte zu erwarten. Man sollte aber konstatieren: Dieses System, das in Regelmäßigkeit die richtige von der falschen Meinung scheidet, statt ergebnisoffen nach Wahrheit zu suchen, basiert auf der Herrschaft der Angst. Herrschaft der Angst deswegen, weil die Möglichkeit der Vernichtung der eigenen Existenz zu jedem Zeitpunkt gegeben ist. Es gibt genügend Belege für Beamte, Lehrer, Ärzte, Professoren und Journalisten, denen nichts weniger als das passiert ist. Mit Personalien wie Schönbohm, Pürner oder Skambrak wurden Exempel statuiert. Bestrafe einen, erziehe hundert.

Systeme der Angst zehren davon, dass Menschen zu Zahnrädern degradiert werden. Es gilt der Gleichschritt und die latente Drohung mit Konsequenzen, sollte man diesen nicht einhalten. Es gilt das Bild zu erhalten, dass es eine Mehrheit gibt und diese Mehrheit eine Meinung hat. Zweifel nach außen könnten das Bild zum Bröckeln bringen. Dazu reichen ein paar RKI-Protokolle aus, die das Ringen um Fakten zeigen, oder ein Manifest, das offenbart, dass der ÖRR kein monolithischer Moloch ist.

Gemäß Tocqueville muss aber die Mehrheit ihre Stimme erheben, um den Rest zum Schweigen zu bringen. Das ist übrigens keine Eigenart der Diktatur, sondern der Demokratie: Die Masse, und mag es nur eine Einbildung von Masse sein, lässt das Individuum verstummen. Es ist nicht ohne Diabolik, dass ausgerechnet jene Anstalten, die gegen ihre Gegner die Menschenwürde ins Feld führen, in der Praxis das Individuum herabwürdigen, damit die amorphe Masse ihnen umso dienlicher ist.

Deswegen ist das Manifest der ÖRR-Mitarbeiter so gefährlich. Es offenbart, dass der ÖRR keine amorphe Institution mit einem Willen, einer Diktion und einer Ideologie ist. Auch er besteht aus Individuen. Widerspenstigen Individuen, die Zwängen ausgeliefert sind, sich aber ihre geistige Flexibilität im Angesicht von Abstumpfung und Ideologisierung bewahrt haben. Das dürfte nicht nur für den ÖRR gelten. Sondern auch für Beamte in den Ministerien, die zähneknirschend zwischen ihren Kollegen zu überleben versuchen. Oder auch im Kulturbetrieb, wo klassische Linke den woken Irrsinn ihrer Berufsgenossen kaum ertragen.

Die Herrschaft der Angst zehrt auch von der Ideologie der Opposition. Indem sie vortäuscht, nicht aus Individuen, sondern aus einem Monolithen zu bestehen, werden Institutionen auch für den Gegner zum Objekt. Es gibt keine Minister, keine Abgeordneten mehr, sondern lediglich: „die da oben“. Keine Journalisten, keine Redakteure, sondern: „den Staatsfunk“. Keine Polizisten, keine Verwaltungsbeamten, sondern: „den Staat“.

Indem das Individuum auch auf der Gegenseite verschollen geht, verletzt sich die Opposition selbst. Weil sie daran glaubt, isoliert zu sein und nur aus eigener Kraft gewinnen kann. Das ist ein Trugschluss, weil sie eine Minderheit ist. Ganz im Gegenteil hilft dies der Herrschaft der Angst, weil sie mit ihren Machtmitteln umso eher einen Block aus rechtsextremen Unmenschen zum Gegner stilisieren kann.

In Wirklichkeit gibt es nichts Gefährlicheres für dieses System der Einschüchterung als die Entdeckung, dass es selbst aus Individuen mit Ängsten, Wünschen und Hoffnungen besteht. Um Menschen zu führen und zu manipulieren muss man ihre Motivation verstehen – das ist das Diktum Machiavellis. Wenn die Menschen aus dem System ausscheren und sich wieder ihrer Originalität, ihrer Individualität und ihres Vermögens bewusst werden, ist das immer ein Sieg gegen das stählerne Gehäuse, das Angela Merkel Deutschland übergestreift hat.

Denn dass Deutschland heute unter einer Herrschaft der Angst steht, ist maßgeblich auf die Amtszeit der Kanzlerin zurückzuführen. Auch sie wollte die Welt glauben lassen, dass die CDU wie ein Block hinter ihr stand, ja: Sie verkörperte die CDU. Dass dem nicht so war, zeigen die Memoiren Wolfgang Schäubles, aus denen ein Auszug im Stern veröffentlicht wurde. Er sorgte für Furore. Zu Recht.

Die Stern-Geschichte erreichte sogar Italien. Im Giornale kann man von der teutonischen Treue des damaligen Bundesfinanzministers zur Kanzlerin lesen. Sein Einsatz für Angela Merkel gegen mögliche Umsturzpläne aus der CSU verklärt er zum Putsch, bei dem er klar an ihrer Seite blieb; Horst Seehofer und Edmund Stoiber nehmen die Rolle der Intriganten ein. Ihr Statement „Wir schaffen das“ empfand er als starkes Statement.

Schäuble hat damit nicht zum ersten Mal Geschichte gemacht. Freilich: Im Nachhinein stellen sich die Protagonisten des Geschehens größer dar. Das gilt auch für die Gegner. In den Augen vieler Deutscher rechts des politischen Zentrums werden aber weniger Schäuble oder gar Merkel denn Stoiber durch diese Anekdote gewachsen sein.

Dass Stoiber damit zum zweiten Mal nach 2002 ausgebremst wurde, könnte vielleicht einmal als tragische Wende in die Geschichtsbücher eingehen. Es bleibt Spekulation, wie ein bajuwarischer Anstrich der Bundesrepublik ausgesehen hätte. Das Merkel-Deutschland dagegen erscheint umso plastischer. Es ist ein Deutschland, in der die bedrohte Kanzlerin ein Klima der Spaltung geschaffen hat, um ihre Gegner auszuschalten.

Hier gründet die Herrschaft der Angst. In Wirklichkeit war es die Angst Angela Merkels vor dem Machtverlust. Schon in der Finanz- und Eurokrise verhärteten sich die Fronten. Doch die Gräben der damaligen Zeit hätte man noch zuschütten können. Die Gräben von 2015 sind bis heute eher breiter denn schmaler geworden. Die Angst des CDU-Abgeordneten, nicht mehr auf der Bundestagsliste zu stehen, hat sich mittlerweile auf die Verwaltung erstreckt. Das Schicksal des Beamten Stefan Kohn im Bundesinnenministerium steht stellvertretend für die Ausweitung auf die gesamte Exekutive – und zuletzt auf die Gesellschaft.

Teile und herrsche – Merkel hat diesen Grundsatz beherrscht wie kein anderer Kanzler der Nachkriegszeit. Was sie zuerst gegen innere Parteikonkurrenten exerzierte, hat sie nahtlos in allen Schlüsselbereichen der Bundesrepublik durchgesetzt. Das Land steht auch unter der Ampelkoalition unter diesem Zeichen, weil es den Merkelstaat als nützliches Herrschaftsinstrument sieht. Die SPD hat bis auf eine Legislatur diesen Staat nicht nur mitgetragen, sondern auch mitgeformt.

Nicht das Vertrauen der Staatsbürger untereinander, sondern Misstrauen und Denunziation, Aufhetzung und Verfeindung zeichnen das gesellschaftliche Leben aus. Jedes Mal, wenn Gemeinschaftsgefühle evoziert werden, wird sogleich die Gruppe mitgeliefert, die es zu hassen gilt: das große Wir der Flüchtlingshelfer gegen die Flüchtlingshasser; das große Wir der Klimaschützer gegen die Klimaleugner; das große Wir der Verantwortungsbewussten gegen die Impfgegner; das große Wir der Demokraten gegen Rechts.

Es dürfte für jeden ersichtlich sein, dass solche Strategien kaum aus dem Haushalt einer christlichen Pfarrerstochter stammen, sondern vielmehr aus den Anleitungen der höchstens in diesem Haushalt vorwiegenden politischen Ideologie. Das Christentum ist der Feind der Masse. „Gott und die Seele, sonst nichts“, sagt Augustinus. Wer sagt, dass das Ich aus dem Wir erwächst – und das ist die große Lüge unserer Zeit wie auch vorangegangener Zeiten –, der will betrügen, der will verführen, der sagt heute: Wir sind mehr. Warum nicht gleich: Wir sind Legion und wir sind viele? (Markus 5,9)

Ein kluger Kopf sagte im Vertrauen: Die Ostdeutschen sind aufmüpfiger, weil sie den Zusammenbruch erlebt haben. Ich füge hinzu: Die Westdeutschen haben keinen Zusammenbruch mehr erlebt. Noch mehr: Sie haben nicht das Siegen gelernt. In Osteuropa gibt es ähnliche Erfahrungen; selbst in Italien, wo der Katho-Kommunismus zu Beginn der 1990er Jahre kollabierte, etwas, das man über Jahrzehnte kaum für möglich gehalten hatte. Auch auf dem Balkan und auf der iberischen Halbinsel sind Umbrüche und Umstürze noch frischer im Gedächtnis.

Den Deutschen der Bundesrepublik fehlt diese Erfahrung. Sie halten ihre Staatsform für eine „Ewige Republik“. Weil es ausgeschlossen ist, dass sie hinweggefegt werden könnte, stellt man sich ins Glied. Man will schließlich auf der richtigen Seite stehen. Das ist die Philosophie des Molochs. Aber es sind zuletzt die kleinen Zahnräder, die selbst das größte Uhrwerk zum Stillstand bringen.

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