Ob der Lebensälteste (wie bisher hierzulande) oder der „Dienstälteste“, mit der längsten, ununterbrochenen Parlaments-Mitgliedschaft (Schweiz, UK) oder der Präsident des Parlaments der vorangegangenen Amtsperiode (Österreich) die Konstituierung des neu gewählten Parlaments leitet (und dabei eine Ansprache hält) macht keinen nennenwerten Unterschied.
Eine Änderung der deutschen Praxis von Lebensalter auf Dienstalter hat der amtierende Bundestagspräsident Norbert Lammert zu seiner persönlichen Sache gemacht. Die Tatsache, dass nach dem 24. September bei der bisherigen Übung einem Mitglied der AfD die Rolle des Alterspräsidenten zufallen könnte, lässt Politikeräußerungen, darum ginge es gar nicht, selbst dann unaufrichtig und dämlich aussehen, wenn sie in der Begründung der wünschenswerten Erfahrung zutreffen.
Die Büchsenspanner von Norbert Lammert, wenn schon nicht er selbst, hätten wissen müssen, dass die Parallele zur Suspendierung der Alterspräsidenten-Regelung am 21. März 1933 unter dem Vorsitz von Hermann Göring bei der Eröffnung des neu gewählten Reichstages gezogen werden würde. Der Vergleich stimmt mehrfach nicht, in durchaus erwähnenswerter Weise. Bei der Reichstagswahl 1933 handelte es sich nicht mehr um freie Wahlen. Göring brauchte – anders als heute im Bundestag – kein Votum des Reichstags zur Verfahrensänderung, diese hatte die „Fraktionsführerbesprechung vom 15. März“ einstimmig beschlossen. Das hier abgebildete gedruckte stenograpische Protokoll wurde am 1. April 1933 „ausgegeben“.
Damit könnten wir zur Tagesordnung übergehen. Wer die Eröffnungsrolle im nächsten Bundestag übernimmt, ist für die Geschicke der Republik ohne Belang – so rum oder anders rum. Aber mir fällt bei dieser Gelegenheit einmal mehr auf, wie sich der Umgang mit Nazi-Vergleichen geändert hat – sichtbar nur in der virtuellen Welt des Internets, da Äußerungen in der realen Welt ja nirgendwo protokolliert und veröffentlicht werden (bestimmte Zeitgenossen werden sagen: noch nicht). Im Netz kursieren Lammert-Göring-Vergleiche ohne Zahl, die den geplanten Vorgang im Bundestag dieses Jahres und den stattgefundenen im Reichstag 1933 – im „Jahr der Machtergreifung“, wie 1933 in der Sprache des „Dritten Reiches“ hieß, – eins zu eins gleichsetzen.
„Nazi“, „Faschist“ und so weiter schleuderten früher nur jene auf „Andersgläubige“, die sich selbst als „Links“, „Antifaschistisch“ und so weiter einordneten. Das hat sich mächtig gewandelt. Die als „Nazi“ und so weiter Bezeichneten, schleudern „Nazi“-und-„Faschismus“-Wurfgeschosse schlicht zurück. Kein Tag, ohne dass nicht mehrfach Ignazio Silone (Secondino Tranquilli) zitiert wird: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus‘. Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus'“ (ob das Zitat ein Original ist, steht nicht fest, spielt hier aber auch keine Rolle). Die Grünen treffen solche Geschosse öfter als SPD und Linkspartei. Allerdings sind unter den Werfern von „Links“ nach „Rechts“ Grüne auch in der Überzahl und in der Dimension der Geschosse ebenfalls, wie das „Tribunal“ gegen „Ökozid“ erschreckend demonstriert.
Dass diese Begriffe und noch viele mehr, hier nicht aufgezählte, allesamt so leichtfertig, weiter zunehmend in der Zahl und an Gedankenlosigkeit, eingesetzt werden, hat sie für jede ernsthafte Debatte unbrauchbar gemacht, zu bloßen Schimpfworten abgewertet. Wer miteinander tatsächlich diskutieren will, muss die Disziplin aufbringen, den ganzen Wort-Unschatz der politischen Gesäßgeografie außen vor zu lassen. Und übrigens: Wer als Journalist sachlich berichten und kommentieren will, sollte das auch tun.
Da solche Disziplin erfahrungsgemäß höchst selten ist, wird sich in absehbarer Zeit kaum noch eine Runde finden lassen, in der tatsächlich diskutiert wird. Na dann einen guten 1. April. Schicken Sie noch ein paar in denselben. Lachen ist gesund.