Tichys Einblick
Söders Kraft-durch-Schrecken-Rhetorik

Als würde jeden Tag ein Politikergehirn abstürzen

Bayerns Ministerpräsident Söder stößt mit „Die Todeszahlen sind aktuell so hoch, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen“ in völlig neue Corona-Toten-Vergleichs-Dimensionen vor. Übereinandergestapelt reichen die Politikerbinsen mittlerweile bis zum Mond.

picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Mit einem Hauch von Frivolität versucht die Münchner Abendzeitung die neuen Lockdown-Ankündigungen der Politik auf ihrer Titelseite so zu beschreiben, dass der Kaufimpuls potentieller Leser die rote Linie überschreitet: „Noch härter. Noch länger.“

Ob sich die früher bewährte Mischung von Eros & Thanatos am Kiosk auszahlt, bleibt eine wacklige Vermutung. Die Zeile beschreibt allerdings ein grundsätzliches Problem in Coronazeiten: Wer sich erst einmal entschieden hat, das Infektions- und Sterbegeschehen mit einem Bänkelgesang aus Katastrophenbildern und täglich neu explodierenden Zahlen zu begleiten, der muss sich irgendwann etwas einfallen lassen. Erstens, um sich von anderen im Wettbewerb des Schreckens abzusetzen. Und zweitens, weil Überbietungsmetaphern mittlerweile knapp werden wie Toilettenpapier im Frühjahr.

Als Politiker, der im Wettbewerb um die geringsten Covid-Infektionszahlen zwar nicht ganz vorn liegt, dafür aber in der Kraft-durch-Schrecken-Rhetorik, stößt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder jetzt in ganz neue Dimensionen vor. „Wir dürfen keine Zeit verlieren“, meint der Ministerpräsident: „Die Todeszahlen sind aktuell so hoch, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen.“ Die Größenordnung stimmt ungefähr, das Umrechnen von an und mit Corona Gestorbenen in Passagiere beispielsweise einer Boeing 747 bietet sich als naheliegender Vergleichsmaßstab an. Pro Tag sterben in Deutschland etwa 2.400 bis 2.600 Menschen, was etwa sieben Flugzeugabstürzen entspricht. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts fallen in Deutschland jährlich 10.000 bis 20.000 Menschen so genannten nosokomialen Infektionen durch Krankenhauskeime zum Opfer.

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Auch diese Zahl ließe sich wieder durch die Einheit einer wöchentlich abstürzenden Groß- beziehungsweise täglichen Kleinmaschine plastisch machen, wahlweise durch ein bis zwei explodierende Atomkraftwerke. Fragt sich nur: wem? Wen und was glaubt Söder damit zu erreichen? Sehr viele Deutsche wissen, dass es sich bei Covid-19 um eine gefährliche und vor allem für Ältere und Vorerkrankte potentiell tödliche Atemwegserkrankung handelt. Sie gehen nicht leichtsinnig mit dem Risiko um, zumal es sich gerade im Spätherbst und Winter nicht um die einzige Infektionsmöglichkeit handelt. Die meisten brauchen also keinen Ministerpräsidenten, der ihnen Corona- als Absturztote vorrechnet beziehungsweise umgekehrt, ohne damit den allerkleinsten Erkenntnisgewinn zu erzeugen. Wer dagegen nicht an die letale Wirkung des Virus glaubt, dürfte sich auch von Söders Desasterologie nicht beeindrucken lassen.

Politiker und ihre PR-Stäbe lieben plastische Vergleiche, beispielsweise den von übereinandergestapelten 100-Euro-Scheinen, die bis zur Spitze eines schmelzenden Eisbergs reichen, der seinerseits einen Bodensee von anderthalbfacher Saarlandgröße füllen könnte. Ist doch nur eine Metapher!

Das Problem der rhetorischen Kapazitätsüberlastung zeichnete sich schon im Spätsommer ab, als Markus Söder mit Blick auf Corona sagte: „Die Krankenhäuser laufen voll“. Damals lag die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Covid-Patienten in Bayern im zweistelligen Bereich, deutschlandweit im niedrigen dreistelligen.

Steigen dann die Zahlen der Erkrankten und Beatmeten tatsächlich an – wie für den Herbst zu erwarten – dann muss ein Politiker, der schon alle herkömmlichen Warnbegriffe verbraucht hat, zwangsläufig in exotische Bereiche ausweichen.

Was bei Söder, einem Karl Lauterbach und anderen auf Dauerbetrieb gestellten Sirenen überhaupt nicht mehr durchdringt, ist die Erkenntnis, dass Viren, Epidemien, Infektionen und auch der Krankheitstod zu den Lebensrisiken zählen, die sich nicht im Bild einer technischen Katastrophe beschreiben lassen. Es ist richtig, Covid-19-Infektionen so weit wie möglich zu verhindern, besonders gefährdete Personen besonders zu schützen und Erkrankte so gut wie möglich zu therapieren, so, wie es auch nötig ist, Krankenhauskeime zu bekämpfen und eine ganz reguläre Grippewelle wie die von 2017/18 einzudämmen, die damals etwa 25.000 Tote in Deutschland forderte. Aber auf Null werden sich Infektionsrisiko, Krankheit und Tod nicht drücken lassen. Schon gar nicht mit Textbausteinen, die so klingen, als würde ein Kanzlerkandidatenkandidat schon einmal für seine Lebensverfilmung üben.

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Die Frage allerdings, wie weit sich Todesfälle reduzieren lassen, und mit welchen Mitteln: die sollte ein Politiker durchaus stellen, zusammen mit der Überlegung, ob er von anderen etwas lernen könnte. In Frankreich liegt die Zahl der an und mit Covid-19 Verstorbenen aktuell bei 50.327, in Spanien, das im Frühjahr den härtesten Lockdown der Welt über die Bevölkerung verhängte, bei 43.668. In Japan beläuft sich die Zahl der Toten laut Johns Hopkins Research Centre bis jetzt auf 500, in Vietnam auf 35, in Singapur auf 28, in Taiwan auf sieben.

Skeptiker können und werden einwenden: die drastisch niedrigeren Zahlen aus Ostasien sind alle gelogen. Aber auf Dauer sollte es den Regierungen auch dort  schwer fallen, tausende Tote zu verstecken, zumal es sich bei den Ländern nicht durchweg um Despotien beziehungsweise autokratische Herrschaften handelt. Auch in Neuseeland und Australien, wo sich die Behörden eher an den ostasiatischen Beispielen orientierten, liegt die Todesrate deutlich unter der in Frankreich, Spanien und anderen westeuropäischen Ländern.

Für den sehr viel besseren Corona-Verlauf in Ostasien gibt es etliche Gründe. Nach der Erfahrung mit SARS waren sie besser auf eine Virusepidemie vorbereitet, sie ergriffen sehr früh Maßnahmen wie Einreisekontrolle und Quarantäne, während in Europa noch im März Großveranstaltungen stattfanden.

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Es hilft, dass in der ostasiatischen Kultur körperliche Nähe eher gemieden wird, ganz anders als in der südeuropäischen. Dafür ist die Neigung größer, staatliche Maßnahmen zu akzeptieren. Im Vergleich fällt aber auch auf, dass die Regierungen ostasiatischer Länder sehr früh ihre Maßnahmen setzten, und sie dann beibehielten. Sie muteten ihren Bürgern keinen ständigen Strategiewechsel zu, keinen Noch-länger-noch-härter-Überbietungswettbewerb, kein Crescendo der Katastrophenrhetorik. Vor allem fehlt in Ostasien augenscheinlich eins: Der Versuch wie in Westeuropa, Corona als Schwungmasse für Gesellschaftsumbaupläne zu nutzen, für den „Great Reset“, den großen Neustart, den beispielsweise der Chef des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab bewirbt, aber auch die EU-Kommission, die Grünen und ihre medialen Trabanten.

Zwischen Singapur und Seoul kommen Fernsehprediger wie ARD-Chefredakteur Rainald Becker kaum vor, die das Virus geradezu als Helfer für den großen Sprung nach vorn feiern: „Der Status quo ante – also zurück – ist vielen Wirrköpfen, die sich im Netz unter Widerstand 2020 und anderen Namen tummeln, geradezu ein Herzensanliegen“, trommelte Becker bekanntlich: „All diesen Spinnern und Corona-Kritikern sei gesagt: Es wird keine Rückkehr zur Normalität mehr geben.“
Die nächste Runde mit Angela Merkel, Markus Söder und den anderen apokalyptischen Vorreitern könnte sich doch einmal mit der Frage befassen: ‚Glauben Sie, dass das Gerede vom großen Neustart und Nie-mehr-Normalität der Akzeptanz alltäglicher Corona-Maßnahmen a) eher nützt oder b) eher schadet?’

In Singapur gibt es das Programm TraceTogether; wer sich durch die Stadt bewegt, muss sich mit seinem Smartphone im öffentlichen Verkehr, in Läden und in Restaurants ein- und auschecken und damit eine umfassende Datenspur hinterlassen. Dafür bleibt aber das Wirtschaftsleben mit kleinen Einschränkungen intakt. Diesen stillschweigenden Gesellschaftsvertrag scheinen die meisten Einwohner zu akzeptieren. Es mag deutsche Politiker irritieren: Aber offenbar überzeugt der Versuch, so viel Normalität wie möglich zu erhalten, die meisten Menschen besser als das Gegenteil. Vor Kurzem stellten Marina Rudyak vom Centrum für Asienwissenschaften der Universität Heidelberg, der Experte für globale Technologiepolitik Maximilian Mayer von der Universität Bonn und der Soziologe Marius Meinhof in der „Neuen Zürcher Zeitung die Frage: Warum sind die meisten Politiker hierzulande so wenig bereit, von asiatischen Ländern zu lernen? „Statt einer gesunden Portion Neugier darauf, welche politischen, organisatorischen, technischen und medizinischen Maßnahmen den fulminanten Erfolg gegen Covid-19 in Asien ermöglicht haben“, stellen die Autoren fest, „dominiert Ignoranz“.

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Mustergültig zeigt sich das an der Berichterstattung der „Tagesschau“ vom 18. November, dem Tag, als Bundestag und Bundesrat das „Dritte Bevölkerungsschutzgesetz“ im Eilverfahren verabschiedeten. Neben ihrem Tatütata-Journalismus über die bevorstehende Invasion Berlins durch protestierende Reichsbürger und Nazis meldeten die ARD-Medienschaffenden auch atemlos einen „neuen Tagesrekord“ von Covid-Neuinfektionen in Tokio, um diese Zahl dann gleich mit Spekulationen über die Olympischen Spiele 2021 zu verknüpfen. Der Subtext lautete: auch in Asien brechen gerade alle Dämme. Die Zahl der Neuinfektionen für Tokio lag an diesem Tag bei 493; in der Stadt leben gut 38 Millionen Menschen. „Tagesrekord“ bedeutet also: an den anderen Tagen des Jahres 2020 rangierte die Zahl der Covid-Neuinfektionen in der Metropole noch unter dieser schon extrem niedrigen Quote.

Markus Söder als ausgewiesener Star Trek-Liebhaber mag sich als Captain Kirk der Pandemiepolitik sehen. In Wirklichkeit ähnelt er eher Kapitän Francis Queeg in dem Film„The Caine Mutiny“ („Die Caine war ihr Schicksal“), einem Kommandeur, der sich in Details verbeißt, ständig Disziplin und Ordnung fordert, konfuse Befehle erteilt und die Mannschaft mit seinem rastlosen Herumfuhrwerken in den Wahnsinn treibt. Am Ende verliert er übrigens sein Kommando.

Die Länder Ostasiens bleiben offenbar nicht nur von tausenden Corona-Toten verschont, sondern auch von Politikern und Kommentatoren, die im aufmerksamkeitsökonomischen Wettbewerb auf keinen wöchentlichen Inzidenzwert von maximal 50 blödsinnigen Sprachbildern und Vorschlägen mehr achten. Was Söder das abstürzende Flugzeug, ist Karl Lauterbach das Böllerverbot zu Silvester, Saskia Esken der nächste Plan für coronabegründete Steuererhöhungen und Margot Käßmann die theologische Engführung, warum es kein Recht auf das Weihnachtsfest gibt. Deren Begründung lautet: weil auch Maria und Joseph damals nur im kleinen Kreis zusammenfanden. Allerdings gab es in der Heiligen Nacht auch noch keine Kirche und keine Staatskirchenleistungen. Es gab noch nicht einmal VW-Limousinen, Bommerlunder und Ampeln in Hannover, und es gibt bis heute kein Recht für die Schreckschraubenbeauftragte der EKD, ernst genommen zu werden.

In dieser Kakophonie gehen leisere Stimmen wie die des Mediziners Matthias Schrappe fast unter. Der frühere stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrates Gesundheit plädiert beispielsweise dafür, bei PCR-Tests nicht nur einfach zwischen positiv und negativ zu unterscheiden, sondern anhand des CT-Werts auch zu fragen, ob eine Person tatsächlich infektiös ist. Er wirbt auch dafür, nicht flächendeckend allen das Gleiche zu verordnen, sondern besonders gefährdeten Gruppen einen deutlich besseren Schutz zu bieten. Er schlägt also vor, die Gefahr zu skalieren. Das ist natürlich anstrengender als die Erfindung dpa-tauglicher Umrechnungsgrößen für Tote.

Das Recht der Bevölkerung, von seinen steuer- und abgabenfinanzierten Forderern, Fuchtlern und Fernsehgrößen nicht in den Wahnsinn getrieben zu werden, gibt es dagegen durchaus, unter anderem abgeleitet aus dem ersten Verfassungsartikel.
Corona samt seiner ökonomischen Folgen ist schon schlimm genug. Die Begleitmusik dazu muss nicht auch noch so klingen, als würde jeden Tag ein Flugzeug auf dem Hausdach landen.

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