Es ist nicht leicht, Minister zu sein. Der mittlerweile legendär gewordene Video-Schnipsel der ARD, in dem Vizekanzler Robert Habeck sein Leid klagt, mag stellvertretend dafür stehen. Wer – so Habeck – tut sich derlei schon freiwillig an? Wer so viel Verantwortung tragen muss wie der Vorzeigegrüne, der braucht mehrere Schultern, um sie zu verteilen. Da ist einerseits Sven Giegold, der Abgeordnete des EU-Parlaments, der nun als Staatssekretär nach Berlin umzieht und bereits davon träumt, einige hässliche Wälder zugunsten wunderschöner Landschaften mit Windkraftanlagen abzuholzen. Viel wichtiger und berüchtigter ist dagegen der andere Mann, der als „Energieexperte“ gehandelt wird, und ebenfalls Staatssekretär werden soll: Patrick Graichen.
Bei der Taufe standen 2012 die Stiftung Mercator und die European Climate Foundation (ECF) zur Seite. Die Stiftung Mercator verbindet eine enge Kooperation mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Seit 2018 ist Ottmar Edenhofer, der Chef des eigenen Klima-Instituts MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change), auch Direktor des PIK. Die European Climate Foundation indes ist als Tochter der Climate Works Foundation (CWF) ebenfalls keine Unbekannte. Die CWF gilt nicht nur als einer der größten privaten Geldgeber der für ihre Abmahnungen berüchtigten Deutschen Umwelthilfe (DUH), sondern ist auch stark mit dem International Council on Clean Transportation (ICCT) verbandelt. Der ICCT brachte 2015 den Diesel-Skandal ins Rollen, die CWF unterstützte danach Organisationen wie die DUH, um Kapital aus der Angelegenheit zu schlagen, wie sie in einem internen Papier selbst zugab.
Spannend sind dabei einige personelle Verflechtungen. Den ICCT rief unter anderem der einstige Abteilungsleiter im Bundesumweltamt, Axel Friedrich, ins Leben. Friedrich war später Sachverständiger bei der DUH und trieb hierzulande die Affäre an. Die Verbindung zur DUH ist deswegen vielsagend, weil der Dachverband, unter dem die Agora fungiert – die Smart Energy for Europe Platform gGmbH (SEFEP) – und der von Mercator wie ECF als Trägergesellschaft verwendet wird, zuerst von Rainer Baake als Geschäftsführer geleitet wurde. Baake war auch erster Direktor der Agora.
Rainer Baake gehört einem weitläufigen, immer noch einflussreichen Netzwerk aus der rot-grünen Ära an, das trotz des Endes der Schröder-Jahre über verschiedene Organisationen weitreichenden Einfluss auf die Energie- und Klimapolitik Deutschlands hat. Die Agora, die DUH, die SEFEP und andere sind nur Teile davon – was schon daran deutlich wird, dass jeder sie in irgendeiner Form durchläuft, wenn gerade kein politisches Amt oder wenigstens ein Posten in der Bürokratie offensteht. Baake verhandelte unter Jürgen Trittin das erste Atom-Ausstiegsgesetz und gilt als eigentlicher Vordenker der Energiewende und deren „Manager“. Die Agora ist eine Hüterin und Weiterdenkerin seines Erbes. Zu der weit angelegten „Connection“ gehört auch ein Referatsleiter im Bundesumweltministerium, der 2012 beurlaubt wurde, um seine Arbeit als Direktor der Agora Energiewende aufzunehmen. Sein Name: Patrick Graichen.
Graichens Agora tritt nach außen transparent auf. Was aber genau zwischen den wichtigen Ratsmitgliedern besprochen wird, dringt nicht nach draußen. Die nicht-öffentlichen Ratssitzungen berufen sich auf die Chatham House Rule. In den Medien nimmt sie bei den Klimaschutz-Aktivisten als Referenz eine große Rolle ein. Im Wahlkampf hat Graichen offensiv versucht, Punkte zu setzen und das eigene Programm voranzutreiben: Die „grüne Null“ sei wichtiger als die „schwarze Null“, das Klimapaket der Großen Koalition bezeichnete er als „Zeitverzögerung, die man sich nicht weiter leisten“ dürfe, Deutschland brauche außerdem ein Ministerium für „Klimagerechtigkeit“. Bereits 2016 war für die Agora klar: Ab 2030 dürften keine Autos mit Verbrennungsmotor zugelassen werden (Video ab 12:30). Was damals noch als völlig abstrus galt, ist mittlerweile in vielen Überlegungen europäischer Regierungen die Regel. Ist die Agora demnach wirklich nur „Ausführerin“ politischer Klimaziele, oder ist sie nicht doch vielmehr die Treiberin?
Mit Jochen Flasbarth – lange Zeit verbeamteter Staatssekretär im Umweltministerium – hatte die Agora seit Jahren ein aktives Ratsmitglied, das die Weichen für die Agora-Politik auf Bundesebene stellte. Flasbarth war Mitbegründer des autofeindlichen Verkehrsclub Deutschland (VCD) und zehn Jahre lang Präsident des Naturschutzbund Deutschland (NABU). 2003 wurde das SPD-Mitglied Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium unter Jürgen Trittin. Von 2013 bis 2021 Staatssekretär, bestimmte er die Klimaschutzpolitik maßgeblich mit, gleich, ob die Ministerin Barbara Hendricks oder Svenja Schulze hieß. In der neuen Regierung unter Kanzler Scholz ist Flasbarth als Staatssekretär ins Entwicklungsministerium gewechselt.
Man könnte sich darüber die Augen reiben, dass ein einzelner Think-Tank so viel Macht in der Bundespolitik übernehmen darf. Doch das hieße, die Agora zu unterschätzen. Wie bereits mit Flasbarth angedeutet: Schon unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Agora Einfluss in der Bundespolitik. Graichen besetzt als Staatssekretär eine Stelle, die von seinem Vorgänger Andreas Feicht geräumt wird. Sie können es sich bereits denken: Natürlich war schon Feicht Mitglied im Rat der Agora. Am Samstag kam heraus, dass Feicht neuer Vorstandsvorsitzender der RheinEnergie werden soll. Ob das besser oder schlechter ist, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Feicht ist übrigens CDU-Mitglied.
Zudem handelt es sich bei den angesprochenen Vertretern nur um Mitglieder der Agora Energiewende. Die Agora verfügt aber noch über einen Schwesterverein: die Agora Verkehrswende. Neben Jochen Flasbarth gehört ihr auch der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir an. Oder der erst kürzlich ausgeschiedene CDU-Politiker Norbert Barthle, Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Ebenfalls Teil des Rates der „Verkehrswende“ ist der Präsident des Umweltbundesamtes Dirk Messner.
Ob Feicht von der CDU, Flasbarth von der SPD, Graichen von den Grünen oder Theurer von der FDP: Sie alle bezeugen, dass diese Energie- und Klimapolitik parteiübergreifend inszeniert wird. Die Agora steht für ein schlankes überparteiliches Konzept, das eleganter und effizienter funktioniert als die eigentliche Partei-Arbeit. Selbst der Parteienfilz kann gegen diese Organisationsform wenig ausrichten – so gab es in der vorangegangenen Legislaturperiode Abgeordnete, die laut eigenen Aussagen nicht einmal wussten, dass ihre Kollegen im Think-Tank waren und eine andere Politik verfolgten als die Parteilinie, etwa im Zuge der VW-, Diesel- und DUH-Affäre. Ein Zusammenschluss nicht-gewählter wirtschaftlicher und ideologischer Interessenvertreter hat entscheidenden Einfluss auf die politische Weichenstellung im Land, aber es hat anscheinend seine Richtigkeit. Graichen ist dabei nur ein Baustein von vielen.