In dem zweiten Hauptabschnitt ihres Programmantrags setzt sich die AfD mit ihrer eigentlichen „Kernkompetenz“, mit „Euro und Europa“, auseinander. Sie fasst hier im Wesentlichen ihre bereits bekannten Positionen zusammen, nicht allerdings ohne die ursprünglichen Ansätze ihrer Parteigründung deutlich zu erweitern:
- Keine „Europäische Union“.
- Keine „Vereinigten Staaten von Europa“.
- Kein Europa als Bundestaat.
- „Freiheit der europäischen Nationen vor Bevormundung“.
- Abschaffung des Euro als Währung.
Insbesondere mit dem letzten Punkt geht die AfD nun deutlich weiter, als von ihrem Gründer Bernd Lucke dereinst gedacht. Hielt Lucke noch an der Grundidee einer Gemeinschaftswährung fest, aus der er nur jene Staaten ausschließen wollte, deren Wirtschaftskraft und politische Integrität nicht kompatibel mit den vertraglich festgeschriebenen Stabilitätskriterien waren, erklärt die AfD den Euro nun faktisch für gescheitert.
Das Kind mit dem Bade ausschütten
Allerdings verrät sie nicht, was sie statt dessen setzen will. Da sie jedoch von „Rückabwicklung“ spricht, wird wohl die Wiedereinführung nationaler Währungen – und damit für Deutschland so etwas wie die Mark – angestrebt sein.
Insgesamt ist bei diesem Abschnitt des Programmentwurfes festzustellen, dass seiner Situationsanalyse zur mangelhaften Umsetzung des vertraglich Vereinbarten in nicht wenigen Punkten zugestimmt werden kann. Die AfD fasst diese Situationsanalyse mit einem einzigen Satz trefflich zusammen: „Doch die Europäische Union hat sich im Lauf der Jahre Kompetenzen angeeignet, für die es in den europäischen Verträgen keine Grundlage gibt“ – wobei hier offensichtlich auch die EZB institutionell unzutreffend der Europäischen Union zugeordnet wird.
Statt nun aber den Ansatz darauf zu legen, den Vertragserhalt einzufordern, wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Alle konkret aufgelisteten Kritikpunkte dienen so nur der Begründung, die EU insgesamt abzuschaffen und zum früheren Modell der uneingeschränkt souveränen Nationalstaaten zurück zu kehren.
Vorwärts ins Zurück – doch wohin?
Um dieses Ziel leichter verdaulich zu präsentieren, wird als Alternative der „Alternative für Deutschland“ eine Rückkehr zur Situation pro ante EU und damit zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) eingefordert. Dabei wird verkannt, dass jene Wirtschaftsgemeinschaft, wenn sie ernst gemeint sein soll, die beständig engere Verknüpfung der nationalen Ökonomien zwingend einfordert und seinerzeit eingefordert hat mit dem Ergebnis der EU-Gründung. Andernfalls handelt und hätte es sich nicht gehandelt um eine „Wirtschaftsgemeinschaft“, sondern bestenfalls um bi- und multilaterale Verträge wie Freihandels- und Zollabkommen.
Bei all dem ist die AfD in sich selbst inkonsequent. Wer definitiv das Ende der Europäischen Union einfordert, der muss sich keine Gedanken darüber machen, wer möglicherweise noch vor diesem Ende hinzukommt. Dennoch stellt die AfD eindeutig fest – und wird dabei auf breite Zustimmung stoßen: „Einen Beitritt der Türkei zur EU lehnen wir ab.“ Jedoch könnte und müsste das der AfD doch völlig egal sein – wenn, wie sie erwartet, die EU ohnehin zu Grabe getragen wird.
So deutet denn doch manches darauf hin, dass die AfD in ihrer Fundamentalkritik sich eher als radikale Opposition des Bestehenden denn als Kraft, die in der Lage sein wird, ihre Vorstellungen produktiv zu realisieren, versteht.
Alle Verträge unter nationalem Vorbehalt
Zieht man nun jedoch nicht nur die teils fundierte und berechtigte Kritik an der Umsetzung und Nicht-Umsetzung geltender Vertragswerke heran, so laufen die Vorstellungen der AfD – allem Wortgeklingel zum Trotz – auf ein Zurück auf vor EU und Montanunion, und damit letztlich auf vor 1933 hinaus, da die Deutsche Republik vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten behutsam auf eine Annäherung der Völker Europas hinarbeitete.
Wenn man ganz genau hinschaut, können allerdings selbst an dieser Feststellung Zweifel aufkommen. Denn einmal mehr hat die AfD in einem scheinbaren Nebensatz eine Vorstellung verpackt, die – ich wiederhole mich da – entweder der Unerfahrenheit und Unfähigkeit der Programmschreiber zu schulden ist – oder aber nun doch tatsächlich im Sinne eines Kleingedruckten die tatsächlichen Zielsetzungen durchblicken lässt.
Die AfD schreibt: „Seine [Deutschland als souveräner Staat] Engagements in Europa und darüberhinaus in internationalen Organisationen stehen immer unter dem Vorbehalt der Reaktivierung der vollen eigenen Souveränität, sofern dies die eigene interessenpolitische Lage erfordert.“
Das scheint auf den ersten Blick geeignet, manchen zu kurzfristigem Beifall zu verleiten – doch es lohnt, einmal genauer hinzuschauen, was diese Formulierung bedeutet. So schreibt sie zwangsläufig fest, dass die AfD jede internationale Vereinbarung als Eingriff in die nationale Souveränität betrachtet – was letztlich eine zutreffende Feststellung ist, da in jedem Vertrag dem Gegenüber Rechte eingeräumt werden, die die eigene Entscheidungsfreiheit einengen. Auch redet sie unverhohlen der „Interessenpolitik“ das Wort – was Kompromissbereitschaft zwar nicht ausschließt, jedoch den uneingeschränkten Vorrang nationaler Ansprüche festschreibt.
Der hier festgeschriebene Vorbehalt bedeutet jedoch darüber hinaus, dass künftig kein Vertrag, den Deutschland auf internationalem Parkett zeichnet, tatsächliche Rechtswirksamkeit entwickeln kann. Denn der Vorbehalt beschränkt sich nicht auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, zu dem eine solche Prüfung auf die nationalen Interessen vielleicht noch hätte plausibel sein können (wenn man denn schon unterstellt, dass diese vor der Ratifizierung nicht ausreichend berücksichtigt wurden), sondern er steht gleichsam als Fußnote unter jeder einzelnen Vertragsklausel: „Das hier Vereinbarte gilt nur so lange, bis Deutschland in seinem nationalen Interesse zu einer anderen Auffassung gelangt.“
Faktisch werden Länder, die sich solche Vorbehaltsklauseln einräumen, international vertragsunfähig. Denn der Vertrag hängt nicht mehr vom vertraglich Vereinbarten ab, sondern von der ausschließlichen Beurteilung der jeweils politisch Agierenden und gilt damit nicht einmal auf Zeit, sondern nur auf Wohlwollen.
Wie die AfD diese generelle Vorbehaltsklausel mit jenen von ihr in Abschnitt 1 deklarierten „Rechtsstaatsprinzip und Vertragstreue“ verknüpfen will, bleibt ebenfalls unbeantwortet. Letztlich läuft es darauf hinaus, dass künftig jeder Vertrag als Non-Vertrag zu schließen und der Vertragsbruch selbst als Teil des Vertrages festzuschreiben wäre.
Volk – Nation – Großstaat
Zum Abschluss dieser Betrachtung des zweiten Schwerpunkts der AfD-Programmvorlage soll auch hier noch einmal ein kurzer Blick auf die Philosophie der AfD fallen. So ist dort zu lesen:
„Die Vision eines europäischen Großstaats läuft zwangsläufig darauf hinaus, dass die EU-Einzelstaaten mit den sie tragenden Völkern ihre nationale Souveränität verlieren. Aber nur die nationalen Demokratien, geschaffen durch ihre Nationen in schmerzlicher Geschichte, vermögen ihren Bürgern die nötigen und gewünschten Identifikations‐ und Schutzräume zu bieten. Nur sie ermöglichen größtmögliche individuelle und kollektive Freiheitsrechte. Nur sie können diese hinreichend sichern. Die Versprechen, durch multinationale Großstaaten und internationale Organisationen einen Ersatz für funktionierende demokratische Nationalstaaten zu schaffen, werden nicht eingehalten und sind nicht einhaltbar. Es handelt sich dabei um ideengeschichtlich alte Utopien. Sie zu realisieren, hat stets großes Leid über die Menschen gebracht.“
Einmal mehr trägt die AfD auch hier Glaubenssätze statt geschichts- oder politikwissenschaftlicher Erkenntnis vor. Zutreffend ist zwangsläufig noch, dass ein „europäischer Großstaat“ darauf hinausläuft, dass die „EU-Einzelstaaten mit den sie tragenden Völkern ihre nationale Souveränität verlieren“. Diese Feststellung ist tatsächlich banal – denn ein „europäischer Großstaat“ wäre unabhängig davon, ob die Europäische Union tatsächlich zu einem solchen zu entwickeln ist, erst einmal supranational.
Was kann der „Nationalstaat“, was der supranationale Staat nicht kann?
Die nachfolgenden Darlegungen allerdings kommen über den Charakter von Glaubenssätzen, von unbeweisbaren Annahmen nicht hinaus.
Warum beispielsweise sollte ein „europäischer Großstaat“ die „nötigen und gewünschten Identifikations- und Schutzräume“ nicht bieten können. Einmal abgesehen davon, dass ich als jemand, der sich lebenslang mit der Frage von Identität und Gemeinschaft beschäftigt hat, mit einem „Identifikationsraum“ begrifflich nichts anfangen kann, lässt die Wortwahl des „Schutzraums“ allein schon eine gewisse Bunkermentalität erkennen. Da Identität sich zwar bildet, aber bei einem dynamischen menschlichen Wesen ständiger Entwicklung und sogar Veränderung unterliegt, könnte ein „europäischer Großstaat“ sehr wohl durch die Identität seiner Bürger getragen werden, so sich diese als Europäer statt Nationalbürger begreifen.
Folgerichtig ist denn auch die Behauptung, „multinationale Großstaaten“ würden „ihr Versprechen, einen Ersatz für funktionierende demokratische Nationalstaaten zu schaffen“ nicht einhalten, keine Tatsachenfeststellung sondern Glaubenssatz. Dieses gilt erst einmal, weil zum einen nirgendwo der Anspruch per se erhoben wird, dass „multinationale Großstaaten“ einen solchen „Ersatz“ versprächen – vor allem aber wäre überhaupt erst einmal zu klären, welche konkreten Kriterien den „funktionierenden demokratischen Nationalstaat“ ausmachen, welche sodann vorgeblich nicht zu ersetzen sein sollen.
Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann finden sich „multinationale Großstaaten“ derzeit insbesondere in den USA, Russland und der Volksrepublik China. Eingeräumt: In zweien dieser drei Staaten ist es mit der „funktionierenden Demokratie“ derzeit nicht besonders gut gestellt – und selbst in der dritten lässt sich der eine oder andere Mangel konstatieren. Was nun allerdings die „Nation“ betrifft, so sind zumindest in den USA alle dort geborenen Menschen jenseits von Ethnie und Religion Mitglieder einer US-amerikanischen Nation und in China trotz einer Dominanz der Han-Chinesen alle Menschen Bürger eines chinesischen Nationalstaats. Dieses nicht erkennen zu wollen, bedarf der von mir in dem Artikel dargelegten, spezifisch deutschen Nicht-Unterscheidungsfähigkeit zwischen Volk als Ethnie und Nation als Staatsvolk.
Nicht national, sondern völkisch-nationalistisch
In diesem Sinne nun ist das AfD-Programm nicht einmal „national“, sondern „völkisch“ – auch wenn es die Begriffe ob mangelhafter Definition verwechselt und durcheinander bringt. Denn die Nicht-Differenzierung zwischen Ethnie, Staatsvolk und Nation von Staatsbürgern lässt nur den Schluss zu, dass die AfD-Programmatiker zu dieser Differenzierung entweder nicht fähig oder nicht willens sind. Und so bleibt die Programmvorlage denn auch die Antwort darauf schuldig, weshalb die tatsächlich gemeinten und abgelehnten supra-ethnischen Nationen als Bewahrer „individueller und kollektiver Freiheitsrechte“ nicht taugen und wann diese tatsächlich ideengeschichtlich nicht „alten“, sondern überaus jungen „Utopien“ nun „stets großes Leid über die Menschen“ gebracht hätten.
Historisch korrekt ist zumindest für die vergangenen 300 Jahre festzustellen, dass es nicht supranationale Utopien, sondern nationale Egoismen und Ansprüche waren, die „großes Leid über die Menschen“ gebracht hatten. Im „Völkerkrieg“ von 1914 bis 1918 vertrat bestenfalls das Kaiserlich-Königliche Österreich-Ungarn eine supranationale Staatsidee – die allerdings keine Utopie, sondern traditionalistisches Elitedenken repräsentierte. Alle anderen Beteiligten fochten für ihre „nationalen“ Interessen – nicht für einen supranationalen Großstaat. Und im Waffengang von 1939 bis 1945 dann waren es wieder nicht supranationale Ziele, sondern nun tatsächlich pseudowissenschaftlich-ethnische und somit völkische Motive, die die Unterwerfung anderer Nationen rechtfertigen sollten.
Daher bleibt nun am Ende dieser kurzen Betrachtung nur die Feststellung, dass die AfD offensichtlich aus der Überbewertung eines vermeintlichen Volksinteresses im Sinne jener deutschen Blutgemeinschaft des frühen Germanentums ein realitätsfernes Geschichtsbild entwickelt, um damit ihre spezifischen Vorstellungen und Forderungen zu begründen. Ein solches Vorgehen wird in der Wissenschaft gemeinhin als ideologisch bezeichnet – und wir kommen nicht umhin, die AfD-Programmmacher als Ideologen zu betrachten.
Bisherige Beiträge zum Programm-Entwurf der AfD: