„Wir sollten ein AfD-Verbot prüfen.“ Die bayerische SPD-Bundestagsabgeordnete Carmen Wegge nutzt die Gelegenheit, auf der frischen Welle der Anti-AfD-Stimmung etwas in die Schlagzeilen zu surfen. Derzeit ist das leichter als sonst: Im Moment reicht schon die Forderung, jetzt müsse man aber nun wirklich endlich Gebrauch von der im Grundgesetz verankerten Möglichkeit machen, Parteien vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungskonformität überprüfen zu lassen.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser, beide bekanntlich auch Sozialdemokraten, haben sich bisher nicht in diese Richtung geäußert. Dass sie es wegen ihrer gesetzlichen Pflicht zur parteipolitischen Neutralität in der Amtsführung nicht tun, ist eher unwahrscheinlich: Darauf haben beide bisher ja schon oft gepfiffen.
Viel naheliegender ist, dass sie diese Diskussion gerne ihren Hinterbänklern überlassen. Denn so steht ein mögliches AfD-Parteiverbot zwar dauerhaft als der große Elefant im Raum. Aber da bleibt er halt auch stehen, ohne dass darüber hinaus irgendetwas Ernsthaftes passiert.
In Wahrheit wollen Scholz und Faeser kein Verbotsverfahren.
Juristisch aussichtslos
Zum einen wissen beide, dass der Gang vor das Bundesverfassungsgericht juristisch aussichtslos wäre. Die Heerschar an meinungsstarken, aber leider wissensschwachen Haltungsjournalisten erweckt derzeit den Eindruck, dass die AfD durch das jüngste Urteil vom Oberverwaltungsgericht Münster schwer angeschlagen sei. Ein Blick in die Urteilsbegründung zeigt aber, dass das Gegenteil stimmt. Die Münsteraner Richter haben zwar die Einstufung der AfD durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln als „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ bestätigt. Gleichzeitig haben sie aber deutlich gemacht, warum ein Verbotsverfahren erkennbar keine Chancen hätte.
Das OVG macht ungewöhnlich eindeutig klar, dass im vorliegenden Verfahren viel niedrigere Anforderungen gegolten haben, als in einem Parteiverbotsverfahren gelten würden. Ausdrücklich heißt es:
„Was für einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen ausreicht, führt (…) nicht zwangsläufig zur Annahme einer erwiesen extremistischen Bestrebung.“
Heißt: Für den „Verdacht“, eine Partei sei extremistisch, gelten viel niedrigere Hürden als für den „Beweis“ – oder gar ein Parteiverbot.
Die Münsteraner konnten und wollten es sich auch nicht verkneifen, dem BfV eine ordentliche Ohrfeige zu verpassen: Zwar kämen aus der AfD demokratiefeindliche Äußerungen – aber „nicht in der Häufigkeit und Dichte wie vom Bundesamt angenommen“. Heißt: Viele Vorwürfe des Verfassungsschutzes sind falsch oder nur konstruiert.
Eine versteckte Warnung an die Verfechter eines AfD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht haben die Richter dann in diese Formulierung verpackt:
„Der Senat war nicht gehalten, weitere Aufklärungsmaßnahmen betreffend die sogenannte Staats- und Quellenfreiheit der AfD zu ergreifen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parteiverbot bzw. zum Ausschluss von der Parteienfinanzierung folgt nicht, dass auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über die Beobachtung durch den Verfassungsschutz etwaige Quellen ‚abgeschaltet‘ werden müssen.“
Das ist juristischer Sprengstoff. Etwas verklausuliert sagt Münster damit: Wir haben nicht geprüft, ob die AfD nicht möglicherweise durch agents provocateurs des BfV überhaupt erst so extremistisch geworden ist, wie das BfV behauptet. Und wir haben das deshalb nicht geprüft, weil wir es nicht mussten. Das Bundesverfassungsgericht müsste es aber prüfen.
An dieser Stelle erinnert man sich an das erste NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Damals kam heraus, dass knapp ein Dutzend Führungsfiguren der NPD als Spitzel für das BfV tätig waren. Wie stark diese Leute die Politik der NPD bestimmt hatten, war nicht ganz klar. Aber der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen: Hier war es der Verfassungsschutz selbst, der – zum Nachweis der eigenen Existenzberechtigung – einen albernen NS-Memorabilia-Verein erst zu einer echten Partei und dann zu einer angeblichen Bedrohung für die Demokratie hochgezüchtet hatte.
In einem AfD-Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht müsste das BfV wieder alle seine Spitzel bei den Blauen abschalten. Niemand weiß, wie viele das sind – und wie viele der jetzigen Extremismus-Vorwürfe dann noch übrigbleiben würden.
Machttaktisch unsinnig
Ein AfD-Verbotsverfahren wäre aber nicht nur juristisch aussichtslos – es wäre aus Sicht von SPD und Grünen auch machttaktisch unsinnig.
Denn die Alternative für Deutschland nimmt weder den Sozialdemokraten noch den Grünen allzu viele Wähler ab. Tatsächlich schadet sie vor allem der Union – und am meisten der FDP (auch wenn Christian Lindner das nicht wahrhaben will). Das ist durchaus im Interesse der SPD.
Tatsächlich müssen Scholz und Faeser nur darauf achten, dass die AfD nicht so stark wird, dass sie irgendwann mal mitregieren kann.
Im Osten soll das Kleinhalten gerade Sahra Wagenknecht erledigen. Die schadet mit ihrer Komposition aus sozialistischen und nationalen Tönen ironischerweise am meisten den Blauen. Denn die AfD ist ja keine marktwirtschaftliche Partei, sondern eine staatswirtschaftliche (und eine nationalistische). Das kann man werten, wie man will. Die Beschreibung stimmt jedenfalls.
Falls auch Wagenknecht den Aufstieg von Höcke und den Seinen im Osten nicht wirksam aufhält, dann bilden die anderen Parteien halt eine Volksfront gegen die AfD. Man ist schon gespannt auf die CDU-BSW-SPD-Grünen-Koalition in Sachsen. Nach der letzten INSA-Wahlumfrage wäre dies das einzige Bündnis ohne AfD mit einer parlamentarischen Mehrheit. Gute Reise auch.
Im Westen ist das alles nochmal ein klitzekleines Bisschen schwieriger. Hier zieht Wagenknecht nicht so wie im Osten. Deshalb versuchen Scholz und Faeser, die AfD von möglichen Zuströmen aus dem bürgerlichen Lager abzuschneiden: indem man den potenziellen Anhängern Angst macht.
Mit allen administrativen (BfV) und medialen (öffentlich-rechtlicher Rundfunk) Mitteln versucht man, die Partei in der verfassungsfeindlichen Ecke festzunageln. Die Folge: Beamte und sonstige Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst werden sich zweimal überlegen, ob sie ihre Sympathie für die AfD öffentlich machen. Denn seit dem 1. April gilt auch noch eine neue Disziplinarordnung. Die macht es erheblich leichter, Mitarbeiter wegen angeblicher „verfassungsfeindlicher Bestrebungen“ aus dem Dienst zu entfernen.
Faeser wird auch weiter versuchen, Geldströme an die AfD und an deren Umfeld zu kriminalisieren – also an alles, was irgendwie „rechts“ ist, das heißt nicht zur herrschenden grün-linken Klasse gehört. All dies dient erkennbar dem Ziel, der Partei den Zugang zu Ressourcen – personellen wie finanziellen – sukzessive zu erschweren.
Insgesamt will man eine geschwächte AfD mit so um die 15 Prozent Wähleranteil. Denn dann sorgt die Brandmauer-Doktrin dafür, dass die Union – in Ermangelung einer echten absoluten Mehrheit – für eine parlamentarische Mehrheit immer mindestens SPD oder Grüne braucht. Und wenn das nicht reicht, holt man halt noch die FDP mit ins Boot.
Strategisch heißt das, dass es auf absehbare Zeit keine Regierung ohne SPD oder Grüne geben kann.
Vorbild CDU Berlin
Wir wissen ja nicht, ob das Schicksal einen Sinn für Ironie hat. Aber genau die eben beschriebene machtpolitische Strategie hat ausgerechnet die CDU erfunden: in Berlin, nach dem Mauerfall.
Dort zogen einst die Unions-Lokalgrößen Eberhard Diepgen und Klaus-Rüdiger Landowsky viele Jahre erfolgreich eine Brandmauer um die Linkspartei (die sich damals von SED in PDS umbenannt hatte). Die SPD sei schließlich im Osten mit der KPD zur SED zwangsvereinigt worden. Vor diesem historischen Hintergrund dürften die Sozialdemokraten doch unmöglich mit der PDS koalieren – also mit den Erben der Leute, die die Mauer bauen und Republikflüchtlinge erschießen ließen.
Selbst in der notorisch linkslastigen Berliner SPD wirkte diese moralische Erpressung viele Jahre – und sicherte der CDU eine scheinbar unendliche Regierungsbeteiligung. Erst ein gewisser Klaus Wowereit wollte da nicht mehr mitmachen – und wagte den Ausbruch aus der machttaktischen Sackgasse: Der SPD-Mann riss die Brandmauer zur PDS ein und ging ausgerechnet in der Stadt der Mauer eine Koalition mit den Erbauern der Mauer ein.
Am Ende blieb Wowereit 13 Jahre lang Regierender Bürgermeister von Berlin. Man darf gespannt sein, wie lange Friedrich Merz Kanzler bleibt – falls er es überhaupt jemals wird.