Tichys Einblick
Parteienstaat letztes Stadium

Gegen die republikanischen Spielregeln

Die etablierten Parteien verwehren der AfD den Vorsitz in einigen Bundestagsausschüssen. Mit ihrem Foul gegen die republikanischen Spielregeln schaden sie dem Staat mehr, als es die AfD je könnte.

imago images/photothek

Dreimal haben die im Bundestag vertretenen Parteien der AfD die rote Karte gezeigt: Sie ließen die nominierten Vorsitzenden im Innen-, Gesundheits- und Entwicklungsausschuss durchrasseln. Es ist ein singuläres Ereignis in der deutschen Demokratie seit 1949. Hatte die Parteienriege aus CDU/CSU, FDP, SPD, Grünen und Linken bereits die Geschäftsordnung verändert, um einen Alterspräsidenten Alexander Gauland zu verhindern und in der letzten Legislatur der AfD sogar den Posten eines Vizepräsidenten des Bundestages verwehrt, so mehren sich mittlerweile auch die Beschwerden vonseiten der Blauen, dass ihre parlamentarischen Anfragen von der Bundesregierung nicht mehr beantwortet würden. Die Verhinderung der Ausschussvorsitzenden hat jedoch eine neue Qualität: In der letzten Legislatur gab es nämlich keine Querelen bei diesem Thema. Die AfD wird als Vertreterin von 4,8 Millionen Wählern zum Paria der Politik degradiert.

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Man kann den Fall auf zweifache Weise analysieren. Da wäre zuerst die konkrete Agitation gegen die AfD. Die Argumentation steht auf wackligen Füßen. Angeblich sei die AfD im Innenausschuss ein Sicherheitsrisiko wegen des Zugangs zu sensiblen Informationen. Warum ein Vorsitzender des Innenausschusses mehr Zugang zu solchen Informationen haben soll als die Obleute oder gewöhnlichen Mitglieder, bleibt ein Geheimnis der Ausschussangehörigen. Die einzige Partei, die bisher wegen Geheimnisverrats auffiel, ist die Linkspartei, die 2014 sensible Informationen an militante Anti-Militaristen weiterleitete. Schlüsselfigur dabei: Ulla Jelpke, bis 2021 selbst Mitglied im Innenausschuss.

Womit wir bei der nächsten schiefen Wahrnehmung sind: Warum die Linkspartei mit Petra Pau jetzt den Vorsitz übernimmt, und warum die Linkspartei um so vieles mehr auf den Grundsätzen dieser Republik stehen soll, konnte bisher noch niemand ohne ideologische Schlagseite erklären. Auch der vorgeschlagene AfD-Abgeordnete Martin Hess steht als langjähriger Polizist sicherlich nicht im Verdacht der Staatsverachtung, sondern gilt im Gegenteil als gemäßigtes, konstruktives Mitglied der AfD-Fraktion. Und zuletzt: Warum sich die AfD letztes Jahr noch dafür qualifizierte, Ausschussvorsitzende zu stellen – allen voran im Haushaltsausschuss mit Peter Boehringer, der trotz aller Ressentiments selbst bei politischen Gegnern Respekt genoss –, dieses Jahr aber plötzlich nicht mehr, lässt eine reine Symbolpolitik und Profilierungssucht vermuten.

Dass die übrigen Parteien es verschliefen, sich selbst in Stellung zu bringen, um über Schlüsselressorts wie Innenpolitik und Gesundheitspolitik zu verfügen, ist nicht Schuld der AfD. Und dass die AfD keine amorphe Partei, sondern auf Ebene des Bundestages eine mit Wählerauftrag ausgestattete Fraktion ist, die nicht nur ihre Funktionäre, sondern Millionen Menschen vertritt, scheint ebenso vergessen. Die Parteien bestrafen nicht nur eine andere Partei, sie bestrafen einen Teil des Souveräns.

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Doch neben dieser auf rein aktuelle politische Konstellationen zentrierten Sichtweise gibt es noch ein viel bedeutenderes Feld: nämlich den Schaden, den die Parteien durch ihr mangelndes Fairplay der Republik als Ganzes zufügen. Immer wieder wird die Demokratie beschworen; doch den demokratischen Regeln, die zuletzt immer rein nach Mehrheit funktionierenden Mechanismen unterliegen, sind die republikanischen Regeln vorangestellt. Sie unterscheiden sich von den demokratischen Regeln in ihrem Bekenntnis zur Staatsraison. Das heißt: Keine politische Partei, kein Gremium, keine irgendwie geartete Macht darf im Staat ein Übergewicht gewinnen. Politische Minderheiten bedürfen eines Mitspracherechts, um Fehler des Systems zu korrigieren. Der republikanische Teil eines politischen Systems beruht darauf, dass er Korrektive einführt, weil er weiß, dass der Erhalt des Staates als solches ein hoher Wert ist.

Zum republikanischen System gehört die Idee sich gegenseitig kontrollierender Mechanismen. In Amerika laufen sie unter dem Stichwort Checks and Balances. Dazu gehört einerseits die Gewaltenteilung. Auch dort hat sich in den letzten Jahren ein markanter Vorfall ereignet. In 16 Jahren Unionsregierung haben sich die parlamentarischen Regierungsparteien nicht mehr als Korrektiv der Exekutive verstanden, sondern als Statthalter der Exekutive in der Legislative. Wenn ein Teil des Parlaments sich nicht mehr an seine ureigenste Aufgabe – die Vertretung des Souveräns – gebunden sieht, sondern an die Vertretung der Regierung, dann hat das langfristige Erosionserscheinungen republikanischen Denkens zur Folge. Der Abgeordnete einer Regierungspartei sieht sich vornehmlich Partei und Regierung verpflichtet. Der legislativ-parlamentarische Eigencharakter geht verloren. Ein solcher Verlust republikanischen Denkens zeigt sich auch daran, wenn Parteipolitiker des Bundestages in den Richterstuhl des Bundesverfassungsgerichts wechseln und sich später zu einem zweifelhaften Dinner beim Regierungschef einladen lassen. Die Gremien des Landes sehen sich nicht mehr als gegenseitig kontrollierende Organe, sondern als harmonisches Kollektiv, das der Exekutive untergeordnet ist.

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Andererseits fällt der Opposition die Rolle der Kontrolle zu. Das ist neuerlich ein republikanischer, kein demokratischer Gedanke: Als Vertreterin der Minderheit hat sie ein vitales Interesse daran, der Regierung auf die Finger zu schauen und im Zweifelsfall auf diese zu klopfen. Die Regierung hat einen Auftrag zur Herrschaft, da aber auch eine mit Mehrheit gewählte Regierung nicht a priori auch richtig oder gar „gut“ regieren muss, kommt der Opposition das Ventil zu, diese im Zweifel regulieren oder wenigstens konstruktiv beeinflussen zu können. Daher hat sie in jeder republikanischen Staatsform Rechte. Die Besetzung der Ausschüsse ist eine Form eines solchen Ausgleichs. Wer die Opposition stellt, wie sie tickt und wer ihre Vertreter sind, ist dabei nachrangig. Es handelt sich um ein Prinzip, dessen Beachtung nicht vom Gusto anderer Vertreter abhängt, sondern ein inhärenter Faktor des politischen Systems ist. Ob die Partei AfD, Graue Panther oder Anarchistische Pogo-Partei heißt – wenn sie im Parlament sitzt, vertritt sie einen Teil des deutschen Volkes und muss auf dieser Ebene gleichgestellt sein, so bitter dies in einigen Fällen sein mag. Das ist der saure Apfel der Demokratie.

Die Abänderung der Spielregeln, um unerwünschte Erscheinungen aus dem Parlament herauszuhalten, schwächt die Verfasstheit des Staates langfristig deutlich mehr als die kurzfristige Bannung einer subjektiv empfundenen Gefahr. Sie macht das demokratisch-republikanische System unglaubwürdig, weil die Aufnahme oder Nicht-Aufnahme neuer politischer Elemente willkürlich ist. Dabei deklassiert schon der bloße Eindruck von Willkür ein System, das sich selbst als Spitze der staatlichen Evolution darstellen will. Die Aufhebung der Gewaltenteilung, der Ausschluss politischer Opposition, die willkürliche Auslegung der Geschäftsordnung und nicht zuletzt die Selbststilisierung zur „demokratischen“ Partei im Gegensatz zu anderen, bieten den Eindruck von Verfall und Dekadenz im Bereich republikanischer Tugenden, die essenziell sind für das Überleben des politischen Systems.

Will die Politik also den Eindruck erwecken, dass der deutsche Parlamentarismus in der Krise ist, dann haben die Verantwortlichen ganze Arbeit geleistet. Für den bundesrepublikanischen Staat ist es dagegen nur ein weiterer Sargnagel. Auch das ist eine Transformation: weg von einer demokratisch-parlamentarischen Republik hin zu einer „limitierten Demokratie“, die eher oligarchisch-bürokratisch organisiert ist.

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