„Das muss jede Frau selbst entscheiden.“ Eine Aussage zu Abtreibung, die liberal, emanzipiert und irgendwie selbstverständlich klingt. Wer denn sonst?
Allerdings liegen hier zwei Schwierigkeiten vor. Zum einen wäre da das eher abstrakte Problem, dass die Aussage oft implizieren soll, dass die Entscheidung dann und deswegen gut sei, weil eine Frau sich „selbst entschieden“ habe. Dabei liegt auf der Hand: Jeder Mensch trifft an jedem Tag Entscheidungen, sie sind aber nicht automatisch richtig und gut, weil jemand hinter seiner Entscheidung steht.
Zum anderen ist da die sehr konkrete Frage, was „selbst entscheiden“ bedeutet. Die Datenlage zu Gründen für Abtreibung ist notorisch schlecht. Das hat Gründe: Sehr viele Menschen in Deutschland sind direkt oder indirekt von Abtreibung betroffen. Es sind Mütter, die selbst eine Abtreibung haben vornehmen lassen, aber auch Eltern, die ihre Töchter nicht genügend unterstützt, Freundinnen, die die Frauen zum Eingriff gefahren, Männer, die ihre Partnerinnen dazu gedrängt haben.
Über Abtreibung zu sprechen, ist auch fünfzig Jahre nach der Stern-Kampagne „Wir haben abgetrieben“ nicht leicht. Und wird es niemals werden.
Dennoch ist von größter Wichtigkeit, zu wissen, warum Frauen abtreiben – und zwar nicht nur statistisch, sondern persönlich. Weil es – nicht nur, aber auch – eine sehr persönliche Sache ist. Das ist es ja auch, was „Das muss jede Frau selbst entscheiden“, eigentlich aussagen soll. Doch um überhaupt feststellen zu können, wie selbstbestimmt diese Entscheidung ist, fehlen eben Daten. Zwar kann jedermann von Hilfsorganisationen Infomaterial anfordern, und die sich die dort dokumentierten Fälle zu Gemüte führen, aber in der Breite legt man lieber einen Mantel des Schweigens über die Angelegenheit – oder eher einen Mantel des Nichtwissen-Wollens. Denn Wissen könnte die eigene Haltung unter Umständen erschüttern.
Die Hilfsorganisation Profemina legt jährlich einen Bericht über ihre Arbeit vor. Sie hat Daten aus Befragungen ausgewertet, und kommt zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass 66 Prozent der Frauen, die sich an Profemina wenden, und deren Partner die Schwangerschaft ablehnen, das Kind lieber bekommen würden – aber dies nicht ohne seinen Willen umsetzen wollen. Lediglich 9 Prozent der befragten Frauen wollten von sich aus eine Abtreibung vornehmen lassen.
Das feministische Märchen von der Gleichberechtigung ignoriert die Realität, dass Frauen, insbesondere Schwangere, des Schutzes und der Unterstützung bedürfen. Man sieht aktiv weg, um die Schwäche, die sich hier in hilfsbedürftigen Frauen offenbart, nicht wahrnehmen zu müssen.
Dafür spricht auch, dass 80 Prozent der von Profemina befragten Frauen ledig sind: Ein Kind allein aufziehen zu müssen, oder nicht sicher sein zu können, dass der Partner dauerhaft bleibt, übt Druck auf Frauen aus, die sehr wohl wissen, welche Belastung das Dasein als Alleinerziehende mit sich bringt – trotz aller Versuche, „alternative“ Familienmodelle als attraktiv und funktional darzustellen.
Über 40 Prozent der Frauen geben „biografische Gründe“ an, die sich bei näherer Betrachtung als individuell sehr unterschiedlich darstellen: instabile oder frische Partnerschaften, „andere Pläne“ für das eigene Leben, wie Ausbildung, Studium, aber auch „Reisen wollen“. Auch hier spielt also einerseits die notwendige Stabilität eine Rolle, aber auch ein von Hedonismus geprägtes gesellschaftliches Klima, das Frauen einredet – und zwar allzugern sowohl von „konservativer“ als auch von progressiver Seite, dass das Leben im Grunde vorbei sei, wenn ein Kind da ist.
Hier versagt ausgerechnet die konstruktivistische Linke, die doch sonst so gern behauptet, dass nichts biologisch vorgegeben und alles sozial konstruiert sei: Warum ist es unmöglich, eine Gesellschaft zu bauen, in der Frauen auch mit Kind am gesellschaftlichen Leben teilhaben, „etwas erleben“ und sie selbst sein und bleiben dürfen? Muss sich das Mutterbild verändern? Oder muss man ins Gedächtnis rufen, dass der Mensch nicht zu ewiger Infantilität berufen ist, sondern dazu, Verantwortung zu übernehmen? Womöglich eine Kombination aus beidem?
Wären in Deutschland verantwortungsvolle Familienpolitiker in führenden Positionen, würde etwa ein Bundesfamilienministerium umgehend Gelder bereitstellen, um Organisationen wie Profemina dabei zu unterstützen, die Datenlage zu verbessern. Einen zaghaften Ansatz bietet die Studie des ELSA-Forschungsverbunds. Sie liegt dem Bundesgesundheitsministerium seit Ende Oktober zur Prüfung vor. Der Forschungsschwerpunkt liegt allerdings auf der Versorgungssituation, und es bleibt abzuwarten, ob die Studie die sozialen Implikationen tatsächlich ausreichend erfasst.
Bestätigen sich die Zahlen, die Profemina vorlegt, über die eigenen Daten hinaus, würde offensichtlich, dass Abtreibung ganz maßgeblich mit „unterlassener Hilfeleistung“ zu tun hat, nämlich mit dem Unterlassen der Bereitstellung von Ressourcen – finanziell, psychologisch, sozial.
Die Politik sollte an solchen Daten ein handfest-pragmatisches Interesse hegen: Die Geburtenrate ist deutlich zu niedrig. Aber auch aus humanitären, rechtlichen und moralischen Gründen wären umfassende Datenerhebungen und -auswertungen deutlich gebotener, als über eine Änderung oder Abschaffung des Paragrafen §218 zu diskutieren, während entscheidende Informationen nicht vorliegen: humanitär, weil es nicht sein kann, dass in einem Land wie Deutschland Kinder abgetrieben werden, weil Mütter sie sich „nicht leisten“ können; rechtlich, weil sich Deutschland im Grundgesetz dazu bekennt, das Lebensrecht eines Menschen nicht an Bedingungen zu knüpfen, und moralisch, weil es hier um nichts weniger geht als über 100.000 Menschenleben pro Jahr.
Obwohl also eine Entscheidung nicht deshalb „gut“ genannt werden kann, sobald sie aus freien Stücken erfolgt, wäre durchaus angeraten, doch zumindest zu überprüfen, ob die Frauen in Deutschland überhaupt mehrheitlich frei und „selbst“ entscheiden – sind die von Profemina vorgelegten Daten repräsentativ, so kann man dies für einen erheblichen Teil der Frauen im Schwangerschaftskonflikt nicht annehmen. Und es wäre ein wichtiger Schritt, zumindest jeder Frau, die ihr Kind will, zu ermöglichen, es zu bekommen.