Zehntausend sollten kommen zur islamischen Demo gegen Gewalt und Terror. Am Ende waren es, drückt man beide Augen großzügig zu, allenfalls 800 bis 1.000, die sich vor der aufgebauten Bühne auf dem Kölner Heumarkt einfanden, um gemeinsam mit den Initiatoren unter dem Motto #NichtMitUns ein Zeichen gegen den islamistischen Terror zu setzen. Man trat mit der Absicht an, das aufzuzeigen, was die Islamlehrerin Lamya Kaddor in den letzten Jahren nahezu in jeder öffentlich-rechtlichen Talkshow äußerte: Die Mehrheit der Muslime ist friedlich und integriert. In Berlin waren es dann eine Woche später wohl um die 100 Teilnehmer, die ein „Zeichen des gegenseitigen Respekts, des friedlichen Miteinanders zwischen Muslimen und Andersgläubigen“ setzen wollten. Zeitgleich kam es zu einer Demonstration, die sich offen gegen Israel richtet: Am Al-Quds-Tag ruft der Iran jährlich zur Eroberung Jerusalems auf: Die Juden sollen ins Meer getrieben werden. Al-Quds ist der arabische Name für Jerusalem – nichts da mit friedlich und Respekt und Miteinander.
Es gibt keine Verpflichtung, zu Demonstrationen zu gehen, die selbsternannte Islam-Vertreter ausrufen. Aus dem Scheitern einer Politaktivistin kann man nicht unbedingt schließen, welche Haltung unter Muslimen hierzulande für die Mehrheit steht und welche nicht. Aber die Zeichen mehren sich. Wer Energie findet, zu Tausenden in Europa auf die Straße zu gehen, um gegen Karikaturen zu demonstrieren, wer es zu jeder Großveranstaltung eines türkischen Politikers landauf, landab schafft, anzureisen, wer sich die Mühe macht, Shuttle-Busse aus kleineren Städten (wie z.B. aus meiner Heimatstadt) zur nächsten Wahlurne zu organisieren, um in einem Land, in dem man nicht einmal lebt, für die Diktatur zu stimmen, der hätte es, wenn er gewollt hätte, auch im Ramadan zu einer Demonstration gegen den islamistischen Terror geschafft. Zumindest, wenn er im Umland lebt. Was fehlt, ist nicht die körperliche Kraft, es ist der Wille, die Überzeugung, ein Zeichen setzen zu wollen und vor allem auch ein Zeichen setzen zu müssen.
Hendryk M. Broder sprach einst in einem Interview mit WeltN24 über die Erdogan-Anhänger hierzulande von Menschen, die auf einem anderen Planeten lebten, genau das bringt es auf den Punkt. In der Tat handelt es sich um Leute, die mittlerweile nicht nur in Bezug auf die Ausübung ihrer Kultur und Religion, sondern auch in Bezug auf ihre generellen politischen Ansichten nicht mehr erreichbar scheinen. An denen jegliche Informationen deutscher Medien abprallen und nur das zählt, was im türkischen Staatsfernsehen, auf linken Verschwörungsseiten und in der eigenen islamischen Community berichtet und erzählt wird. Der Riss hierbei könnte nicht tiefer sein und zeigt einmal mehr, wie wenig gemeinsame Lebenswelt zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen auch hierzulande tatsächlich existiert. Erkannt wird die Tragweite des Problems dennoch nicht. Dafür ist man immer noch zu sehr mit dem vermeintlich „abgehängten Wutbürger“ beschäftigt. Die einst vornehmlich „linke“ Kritik an Auslandseinsätzen und Waffenlieferungen hat sich tief in die Mitte der Gesellschaft getragen und ist längst hipper Konsens in sämtlichen Medien und unter sämtlichen „Stars“. Sie ist auch nicht gänzlich unbegründet, aber in der Sache unterkomplex. Vor allem aber nährt sie das Selbstverständnis vieler auch hier lebender Muslime als Opfer des Westens, die für alles, was passiert, von Terror bis Krieg in den Heimatländern, nichts können. Und schon gar nicht der Islam – selbst wenn die innerislamischen Konflikte älter sind als jede US-Intervention.
Wie wenig viele hier lebende Muslime mit unseren, im Grundgesetz verankerten Werten, den Ansichten der Mehrheitsgesellschaft, mit dem, was als gesellschaftlicher Konsens eigentlich lange Zeit nicht mehr verhandelbar war, zu tun haben, zeigt sich jedoch noch mehr an anderer Stelle und wirft erneut die Frage auf, mit wem wir eigentlich in diesem Land zusammenleben und welche Gefahren von ihnen für die Stabilität der liberalen Demokratie ausgehen.
Seyran Ates kennt sich mit Anfeindungen aus. Bereits 1984 wurde sie bei einem Attentat in der Frauenberatungsstelle für türkische und kurdische Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, in der sie während ihres Jurastudiums arbeitete, lebensgefährlich verletzt. Ihre Klientin Fatma E. starb. Erschossen während der Beratungszeit, von einem Mann, der später als Mitglied der nationalistischen türkischen Gruppe der Grauen Wölfe identifiziert wurde und als Auftragskiller gearbeitet haben soll. Der Mann wurde freigesprochen und lebt bis heute unbehelligt in Kreuzberg. Seither veröffentlichte Ates mehrere Bücher zum Thema Islam und sah sich im Laufe ihres Lebens immer wieder gezwungen, für gewisse Zeit abzutauchen. Es dürfte sie also nicht überraschen, dass sie auch jetzt zur Gründung ihrer liberalen Moschee erheblichen Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt ist.
Was Ates und andere liberale Muslime und Islamkritiker nicht überraschen dürfte, ist dennoch kaum zu ertragen. Denn die Kritik kommt nicht nur, wie zu erwarten, aus arabischen Ländern, sondern eben auch aus Deutschland. Es wirft nicht nur die Frage nach den fragwürdigen Ansichten derer auf, mit denen wir hier zusammenleben, sondern auch die grundsätzliche Frage, wie liberal und demokratisch ein Land überhaupt noch ist, in dem man fürchten muss, von anderen Einwohnern mit dem Tod bedroht zu werden, nur, weil man es wagt, eine Moschee zu gründen, in der Männer und Frauen gemeinsam beten dürfen, keine Verpflichtung zum Tragen eines Kopftuchs herrscht und es eine Imamin gibt. Sicherlich, eine weibliche Priesterin wäre bis heute in der katholischen Kirche ebenfalls ein Skandal, aber würden sie deshalb Hunderte ernstzunehmender Morddrohungen aus der Mitte der Gesellschaft erreichen? Wohl kaum.
Damit wird ersichtlich: Um die Integration steht es noch viel schlechter, als die Mehrheit der Bevölkerung und vor allem jene Deutschen, die auf einer Demo gegen Terror anstelle der Muslime ihre Schilder für den Frieden und die multikulturelle Gesellschaft hochhalten, immer noch wahrhaben wollen. Es wirft in zweiter Instanz die Frage auf, wie man mehr als 1,5 Millionen aus dem islamischen Kulturkreis, aus Ländern, gegen die die Türkei wie eine blühende Demokratie erscheint, integrieren will, wenn es in mehr als 50 Jahren nicht einmal bei den anderen gelungen ist. Bei Menschen mit Migrationshintergrund, deren hier geborene Kinder und Enkel häufig noch konservativer und in der Ausübung ihrer Religion noch radikaler sind, als sie selbst es jemals waren.
Damit haben wir letztlich nicht nur den wenigen liberalen Muslimen und ihren Reformbestrebungen einen Bärendienst erwiesen, sondern auch uns selbst und der gelebten Freiheit in diesem Land. Denn was sind unsere Werte und unsere im Grundgesetz verankerten Rechte noch wert, wenn ein Ausleben in der Praxis schon jetzt in manchen Aspekten nicht mehr möglich ist? Wie viel radikalen Islam, wie viel Übergriffe auf „Ungläubige“, spärlich besuchte Demos gegen den Terror und Morddrohungen gegen Reformer und Kritiker verträgt eine Demokratie, bevor sie keine mehr ist, bevor sich ihr eigentlicher Sinn entleert hat? Dies ist die Debatte, die endlich geführt werden muss.