Tichys Einblick
75 Jahre Grundgesetz

Skeptischer Blick aufs Heute: Hält das Grundgesetz, was es versprach?

Die Nachkriegszeit war auch eine Zeit großer Illusionen. 1948 wurden die Menschenrechte erklärt, ein halbes Jahr später kam das westdeutsche Grundgesetz. Hängen die jüngsten Verhärtungen in unserem Staatswesen vielleicht auch mit einer übertriebenen Verweichlichung politischer Grundsätze an seinem Anfang zusammen?

Das Grundgesetz (Grundrechte, Artikel 1-19) der Bundesrepublik Deutschland als Installation im Berliner Regierungsviertel

picture alliance / Moritz Vennemann | Moritz Vennemann

In den Niederlanden hat man es bemerkt. Eine große Zeitung schrieb in diesen Tagen: „Es ist der Geburtstag der östlichen Nachbarn, aber es gibt keine Volksfeier“. Trotz 75 Jahren Grundgesetz komme keine „festliche Atmosphäre“ auf. Auch nicht auf dem Kunstrasen am Brandenburger Tor, ausgerollt schon für die Fußball-EM, auf der geschichtsträchtigen Straße des 17. Juni, wo in den nächsten Tagen ein „Demokratiefest“ der Bundesregierung stattfinden soll, angeblich mit Bier und Currywurst.

Merkwürdig mutet ein Satz aus der offiziellen Ankündigung des Festes an. „Alle Bürgerinnen und Bürger sind herzlich eingeladen, mitzufeiern und dazu beizutragen, dass das Fest zu diesem wichtigen Jubiläum als Feier unserer Demokratie würdig in Erinnerung bleibt“, heißt es da. Man kann sich noch daran erinnern, wie manch ein Einheitstag von wütenden Protesten gestört wurde. Sollten etwa auch die 75 Jahre des Grundgesetzes zu ähnlichen Unmutsbekundungen der Bürger Anlass geben? Die Regierung scheint besorgt.

Der Verfasser dieser Zeilen wurde in die zweite, westliche deutsche Republik hineingeboren, als sie sich selbst schon in ihrer dritten Verpuppung befand: Auf die Aufbaujahre, die viele noch sehr bescheiden verbrachten, folgten die optimistischen Zwischenjahre. Diese Swinging Sixties waren nun aber schon den trüben Siebzigern gewichen, in denen sich nach allgemeinem Glauben erste „Grenzen des Wachstums“ zeigten. Es war das Geburtsjahrzehnt der Grünen, die eigentlich die Opposition zu diesem Staat der engeren Nachkriegszeit verkörperten, den ihre Exponenten teils sogar mit der Brechstange bekämpft hatten.

Heute setzt vor allem der Osten der Vergrünung etwas entgegen

Dann kamen die Achtzigerjahre, in denen die Wirtschaft sich noch einmal irgendwie stabilisierte, die solide gemauerten Eigenheime blühten, vielleicht in einer Art letzter Sumpfblüte. Vielleicht war die internationale Wende hin zu Thatcher, Reagan und Kohl schuld. Tatsächlich war der Durchmarsch der Grünen damals quasi schon beschlossene Sache, wie die Kohl-Dämonisierung durch den Spiegel und andere zeigte. Die Torwächter-Elite der Bundesrepublik war bereits strukturell links, ebenso die Lehrerkollegien mit wenigen Ausnahmen. Heute ist es auch der hinzugekommene Osten des Landes, der dieser strukturellen Vergrünung etwas entgegensetzt – mit noch immer und gerade in diesen Tagen wieder unvorhersehbaren Folgen.

Redaktionsschluss zu 75 Jahre Grundgesetz
Was ist das Grundgesetz noch wert?
Es folgte ein längerer Niedergang, zuerst im Schröder-Kabinett sichtbar, durch das der Begriff „Nachbesserung“ in die politische Debatte einfloss. Gesetze wurden nun nicht mehr besprochen und beschlossen, sondern mussten immer wieder nachgebessert werden, vermutlich weil die politische Realität nicht mit der Ideologie eines Jürgen Trittin zusammenpasste (beispielsweise).

Der Niedergang ging weiter, als sich eine schwarz-gelbe Koalition unversehens als „Gurkentruppe“ bloßstellte, während „Große Koalitionen“ das Land jahrelang in eine undemokratische Debattenkultur abgleiten ließen. Nun wurden gar keine Gesetze mehr beschlossen, sondern nur noch Abschaffungen verkündet: der Bundeswehr, der Kernkraft, der Landesgrenzen. Es gab anscheinend kein Aufbauwerk mehr zu leisten, dafür Abbrucharbeit. Das gilt leider auch für die deutsche Verfassung.

Was die Annahme des Grundgesetzes durch die westlichen Länderparlamente vor 75 Jahren angeht, muss man heute beinahe sagen, dass es sich um ein Gebiss ohne Zähne – oder mit falschen Zähnen – handelt. Welcher Satz gilt hier noch uneingeschränkt, verlor auch während drei Jahren Corona-Notstand nicht seinen Wert?

Welcher Artikel gilt eigentlich noch zur Gänze?

Es geht los mit der Würde des Menschen, deren Schutz die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Aber die Schutzlosen können darauf nicht immer vertrauen. Das merkt spätestens, wer von Alter und Krankheit betroffen ist. Flaschensammeln ist da noch das am wenigsten Würdelose. Was zu anderen Zeiten, teils noch in anderen Ländern, zu oberst stand, steht bei uns inzwischen fast zu unterst, ist schon zum sechsten Rad am Wagen geworden: das Alter.

Artikel 2 bringt die „körperliche Unversehrtheit“, und jeder weiß, wie es darum steht, nachdem Pfleger und Soldaten zu Injektionen in ihre Körper – bei Androhung von Jobverlust und Berufsverbot – gezwungen wurden.

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Dann Artikel 3 und 4: „Niemand darf wegen … seiner … politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Die „Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ sei „unverletzlich“. Man befrage nur Mitglieder der viel gescholtenen AfD, deren Kinder zum Teil nicht ihren Wunschausbildungsplatz bekamen, die auch selbst natürlich jede Art von Diskriminierung hinnehmen müssen, bis zurück zu Artikel 2.

Artikel 5: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Das würden viele heute bestreiten, und wenn es nur die Facebook- oder Twitter- (inzwischen manchmal auch X-) Zensur ist. Artikel 6 spricht vom besonderen Schutz von Ehe und Familie. Auch hier kann man Fragezeichen setzen: Sind die beiden Institutionen wirklich noch etwas Besonderes in unserem Verfassungsgewebe? Ebenso der Satz: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Welche Gemeinschaft?

Artikel 7: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ Und die Koranschulen? Und die Ditib-Religionslehrer an staatlichen Schulen? Es geht so weiter, mit freiem Versammlungsrecht, dem freien Vereinsrecht (und beider Grenzen), dem Brief- und Fernmeldegeheimnis (!) und der Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Heute soll die Freizügigkeit weit über das Bundesgebiet gelten, für Bürger, Einwohner und Weder-noch. Aber bei Gesundheitsnotstand kann sie für Gesunde eingeschränkt werden.

Weichlicher Fortschrittsglaube und harte Demo-Kontrolle

Das Versammlungsrecht wird längst höchst selektiv genutzt, um nicht genehme Demonstrationen zu verbieten und andere gewähren zu lassen. Das betrifft ebenso das Links-Rechts-Schema wie die Corona-Kritik und die Unsicherheit des deutschen Staates in Bezug auf die neuen „Mitbürger“, die für ihre Version des Islam oder gegen einen Krieg in Gaza aufmarschieren. Oft schränkten die Behörden in den letzten Jahren gerade die Minderheiten ein, die anderer Auffassung waren. Auch hier meldete sich der Osten mit einer eigenen Stimme und aufgrund eigener Erfahrungen besonders laut. Kurz gesagt: die politische Führung gilt hier noch nicht als sakrosankt wie in vielen Teilen der westdeutschen Gesellschaft.

War das Leben in den 1950er- und 1960er-Jahren besser? Viele behaupten das Gegenteil, doch Arnold Gehlen hat schon früh – in Moral und Hypermoral (1969) und teils mithilfe von Artikeln aus dem Spiegel und der Zeit – gezeigt, dass die Bundesrepublik aus seiner Sicht auf dem absteigenden Ast war, sich nach dem Krieg durch den Verlust einiger Institutionen auf dem sicheren Weg in den harmlosen Eudämonismus (also das Streben nach Glück in der Ruhe) befand. Und so kam es auch, auch wenn es einige Jahrzehnte brauchte. In die alte Bundesrepublik ragten noch andere Generationen hinein, wie sich in Bild- und Tondokumenten sehen lässt.

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Aber das weichliche Fortschritts- und Aufstiegsversprechen, das sie der jüngeren Generation gaben, konnte die nicht mehr zu Höchstleistungen beflügeln. Es folgte, übrigens international, die Generation X, die nicht mehr wusste, wohin mit ihren Energien, weil eindeutige Wertvorbilder im allgemeinen Laissez-faire fehlten. Erst danach kamen die Grünen und nun die Woken, die sich bemühen, auch noch die letzten Inseln des Sinns zu schleifen und durch eigene künstliche Konstrukte zu erzeugen. Der Grundfehler war aber schon durch die wohlfahrts-liberale Ausrichtung der Gründerjahre gegeben. Ja, und hängt am Ende sogar die harte Demonstrations-Kontrolle der Neueren zusammen mit dem weichlichen Fortschrittsglauben der Älteren? Und diese Demo-Kontrolle erscheint am Ende natürlich auch als Demos-Kontrolle und langfristige Aufstandskontrolle, wie kurzsichtig das auch immer sein mag.
Sonderkapitel: Asyl fürs Grundgesetz?

Ein spezielles Kapitel innerhalb der Geschichte des Grundgesetzes nimmt die Geschichte des bundesrepublikanischen Asylrechts ein, wie eine Debatte vom letzten Sommer zeigt. Auf den Seiten der FAZ stritten sich da der Historiker Heinrich August Winkler https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/asylrecht-kleine-ursache-grosse-wirkung-19122512.html und der Jurist Klaus Ferdinand Gärditz https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/heinrich-august-winkler-und-das-asylrecht-19134835.html (wirklich bedeutend sind beide Beiträge nicht, trotzdem hier anbei die Links). Winkler hatte den Aufschlag gemacht und behauptet, das deutsche Asylrecht wäre um einiges praktischer, konziser und begrenzbarer, wenn man einen ursprünglich vorgeschlagenen Nachsatz im Text belassen hätte; Artikel 16 habe nämlich zuerst heißen sollen: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts.“

Auf die letzten fünf Worte verzichtete man, weil der Rechtsprofessor Carlo Schmid (SPD) sie für überflüssig hielt: Das Völkerrecht sollte ja ohnehin den unerschütterlichen Rahmen für das Grundgesetz bilden, obwohl es gerade in jener Zeit noch ziemlich im Fluss war, wie es in Artikel 25 auch beschlossen wurde. Die junge Bundesrepublik wollte und Deutschland sollte hier (plötzlich) Avantgarde sein. So wie man schon nach 1918 als eines der ersten Länder das Frauenwahlrecht einführte, weil eben gerade Revolution in Deutschland war. Nichts gegen das Frauenwahlrecht, aber en solchen Lagen machen sich die Deutschen offenbar gern zu Treibholz im aufgepeitschten Ozean.

Heinrich August Winkler verbindet die fünf Wörter mit Klarheit und vermiedener „Verwirrung“, aus der laut ihm auch der Erfolg der Republikaner um 1990 wie der heutige der AfD folgten. Als ob es mit dem Zusatz zu keiner Überlastung gekommen wäre. „Verwirrung“ – das passt allerdings nicht schlecht zur aktuellen Asyl- und Einwanderungspolitik, auch wenn man nicht glauben sollte, die Regierenden ließen dieses Geschehen aus purer Desorientierung zu.

„Asyl nur für Deutsche“ – das war immerhin konsistent

Nun wurde die Genfer Flüchtlingskonvention erst 1951, also drei Jahre nach der Annahme des Grundgesetzes, unterzeichnet, wie Gärditz richtigerweise erwähnt. Sie kann es also nicht gewesen sein, die die Verfassungs-Eltern 1949 inspirierte. Tatsächlich wurde aber schon im Dezember 1948 in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ ein allgemeines Asylrecht proklamiert, das es in dieser Form noch nie gegeben hatte. Schon in dieser Menschenrechtserklärung gibt es aber zwei Einschränkungen: die erlittene Verfolgung musste politisch sein und die auslösenden (politischen) Handlungen des Schutzsuchenden durften den Zielsetzungen und Prinzipien der Vereinten Nationen nicht zuwiderlaufen. Ein qualitativ-deskriptives und ein inhaltlich-normatives Kriterium.

Übrigens kannte die Entstehung des deutschen Asylrechts laut Gärditz noch weitere „verschrobene Arabesken, so den Vorschlag, Asyl nur Deutschen zu gewähren oder das Eintreten ‚für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit oder Weltfrieden‘ zu prämieren“. Das ist in der Tat verschroben, wird aber gerade durch die Altparteien CDU und SPD wiederbelebt, die so tun, als ob man die Asylbewerber nach politischer Anschauung aussieben könnte: Bekenntnis zum Wertewesten – dann hinein! Islamofaschisten – hinaus! Aber ist es so einfach? Nein.

Die Forderung „Asyl nur für Deutsche“ war da immerhin konsistent, weil mit der Nationalität meist gewisse Werte tradiert werden. Daneben soll im Parlamentarischen Rat die Angst umgegangen sein, bald könnten Massen von italienischen Faschisten in der jungen Bundesrepublik um Asyl bitten, was irgendwie auch nicht geschah, obwohl es später bei den Gastarbeiteranwerbeabkommen natürlich keine Gesinnungsprüfung gab. Dasselbe gilt vom heutigen Asylbetrieb, wo ebenso wenig auf radikale Islamauslegung geschaut wird. Im Gegenteil: Man überlasst den Salafisten sogar die Schlepperrouten.

Aber wir kommen vom Thema ab. Man bemerkt jedenfalls: Auch 1949 ging es beim Asylrecht schon um den Grundsatz „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Es war nicht alles perfekt bei den „Vätern und Müttern des Grundgesetzes“, und ihre Söhne und Töchter haben den Deutschen 1990 die Revision des Textes beziehungsweise den Beschluss einer regelrechten Verfassung vorenthalten.

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