Die deutsche Wiedervereinigung fand am 1. Januar statt. 1957. Zumindest die erste deutsche Wiedervereinigung nach dem Krieg: die des Saarlands mit dem „Reich“, wie ältere Menschen westlich von Kaiserslautern immer noch über die Bundesrepublik reden. Eigentlich spräche jede rationale Vernunft dafür, das westlichste aller Bundesländer 67 Jahre danach in Rheinland-Pfalz aufgehen zu lassen – oder nach einer Reform zum Teil eines noch größeren Bundeslandes zu machen.
Doch dagegen spricht das Bewusstsein, das die Saarländer entwickelt haben. Eigentlich erstaunlich, gibt es dieses Konstrukt doch gerade mal 105 Jahre. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war das Gebiet zwischen Nied und Blies ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Herrschaftsgebieten. Die Preußen regierten an der Saar, Trier, Saarbrücken-Nassau, Oldenburg und sogar die von der Leyens hatten dort einen kleinen Streifen Territorium. Zwischendrin lag Michelbach. Keine 1.000 Einwohner, aber ein eigenes „Reichsdorf“.
Allein durch räumliche Nähe entsteht kein gemeinsames Bewusstsein. Die Mainzer, Koblenzer oder Ludwigshafener betonen auch gut 75 Jahre nach der Gründung von Rheinland-Pfalz immer noch mehr ihre Unterschiede als ihre Gemeinsamkeiten. Bewusstsein entsteht durch gemeinsame Erfahrungen: ausgeschlossen sein, arm, abgehängt, dann später verlacht – das hat die Saarländer zu einer Einheit werden lassen. Sie haben ihr Bewusstsein zwar auch selbst entwickelt. Vor allem aber waren es Außenstehende, die ihnen gesagt haben, sie seien Saarländer – und die sie damit überhaupt erst zu Saarländern gemacht haben.
35 Jahre ist die andere deutsche Wiedervereinigung her. Wer damals 30 Jahre alt war, ist heute Rentner. Wer heute 30 Jahre alt ist, hat die DDR nicht mehr erlebt. Trotzdem bildet die mittlerweile imaginäre Grenze immer noch einen Markstein im Bewusstsein. Eine 32 Jahre alte Ärztin erzählt: Sie ist in Thüringen geboren, hat in Franken studiert und lebt nun in West-Berlin. Wo auch immer sie ist, müsse sie sich rechtfertigen: in Franken als Ostdeutsche, in Thüringen als Rübergemachte. Die DDR hat sie nie erlebt, doch die DDR bestimmt trotzdem massiv ihr Bewusstsein. Es sind Außenstehende, die sie zur Ostdeutschen machen. Ob sie will oder nicht.
Ein Bewusstsein ist etwas, das schwer zu fassen ist. Die Versuche, sich ihm mit Zahlen zu nähern, müssen kümmerlich enden. Das Einkommen ist schlechter, dafür sind die Preise niedriger. Die soziale Infrastruktur ist ausgereifter, deswegen mag das Unternehmertum weniger stark ausgeprägt sein. Die Nähe zu Russland ist eine andere – geografisch wie historisch – vielleicht macht das vorsichtiger darin, für einen guten Auftritt in einer Talkshow den „Krieg nach Russland tragen“ zu wollen.
Doch der Versuch, ein Bewusstsein mit Zahlen erkunden zu wollen, endet genauso wie das Vorhaben, den Ausgang eines Fußballspiels mit den darin erreichten Touchdowns bestimmen zu wollen. Bewusstsein ist ein Gefühl. Es hat mit individuellen Erfahrungen zu tun, die zu kollektiven Erfahrungen werden und somit einen gemeinsamen Erfahrungsschatz bilden – und einen gemeinsamen Umgang mit diesem Schatz. Vor allem ist es aber die Summe dessen, was einem Außenstehende an Eigenschaften einreden – und was davon man bereit ist anzunehmen.
Das macht Sinn: Die Maxime der CDU lautet, keine Partei rechts von sich zuzulassen. Genau dort hat aber die AfD sich etabliert und im Osten sogar die CDU überholt. Der Kampf gegen sie ist für den ehemaligen Ostbeauftragten daher wichtiger, als sich der Aufgabe zu widmen, die der Name seines Amtes eigentlich vorgibt. Schließlich ist Wanderwitz nicht von den Ostdeutschen in sein gut bezahltes Amt gehievt worden, sondern von seiner Partei. Ihr dient er. Ihr Erfahrungshorizont ist der einzige, den anzunehmen Wanderwitz in der Lage ist.
Eigentlich schade, dass die an für sich hübsche Idee eines Ostbeauftragten Parteisoldaten wie Wanderwitz in die Hände fällt. Der Beauftragte könnte das Schauspiel beenden, das manche 35 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch betreiben: den Osten als Ventil benutzen, um über ihm unangenehme Gefühle abzulassen. Den Teil des eigenen Landes und somit der eigenen Identität nutzen, um ihm all das zuzuschreiben, was man in schwachen Stunden in sich selbst erkennt, aber sich nicht eingestehen mag.
Nach Ostdeutschland lassen sich alle unangenehmen Eigenschaften abdrücken: rechts, putinfreundlich, rückständig oder der Welt gegenüber verschlossen. Zu einem Bewusstsein gehört ein Außenstehender, der es einer Person oder einer Gruppe aufzwingt. Aber es gehören auch Personen und Gruppen dazu, die dieses Bewusstsein annehmen. Die in West-Berlin lebende, 32 Jahre alte Ärztin ist links, Feministin und maximal weltoffen. Trotzdem geht sie auf die Diskussionen ein, was es für sie bedeute, „Ostdeutsche“ zu sein, statt diese Debatten einfach mit dem Wort „Quatsch“ abzutun.
Die Westdeutschen haben nie die Demokratie errungen. Amerikaner, Briten und Franzosen haben ihnen nach dem Krieg Demokratie und Rechtsstaat befohlen. Die Ostdeutschen haben den menschenfeindlichen Sozialismus bekämpft, besiegt und abgestreift. Sie haben alles Recht der Welt, auf diesen Sieg stolz zu sein. Dieser Stolz rechtfertigt ihr Misstrauen gegen eine Regierung, die immer wieder vom Verfassungsgericht davon abgehalten werden muss, die Menschenrechte auf verfassungsfeindliche Weise einzuschränken. Und genau dieses Misstrauen rechtfertigt es auch, bei Wahlen durchaus die Parteien als Option zu prüfen, die sich dieser Politik als echte Alternative entgegenstellen, statt nur ein Koalitionspartner auf der Reservebank zu sein.
Sie haben einfach das genommen, was da war: ihre Arbeitsmoral, die in den Tagen des Bergbaus außergewöhnlich hoch war. Die Autarkie, die durch die Trennung entstanden ist, also für gerade mal eine Million Einwohner einen eigenen Landtag, ein Nationalbier, einen eigenen Flughafen und ein eigenes Staatsfernsehen zu haben. Oder ihre große Lust zu feiern und das Leben zu genießen, mit „Abschwenken“ an Silvester und „Anschwenken“ am Neujahrstag – wenn sie das erste und letzte Schweinefleisch des Jahres grillen. Wobei niemand Grillen sagen darf. Das heißt Schwenken. Wer ein starkes Selbstbewusstsein hat, bestimmt, wie die Dinge heißen.
Die Ostdeutschen müssen ihrem Bewusstsein ein Selbst hinzufügen. Sie müssten selbst bestimmen, was sie sind. Dann wird ein Selbstbewusstsein draus. Über einen Wanderwitz müssten sie lachen, wenn der versucht, sie für Parteipolitik zu missbrauchen. Die eigene Revolution im Nacken ist dafür schon einmal ein guter Anfang. Und sie müssten es erkennen, wenn ein (maximal) westdeutscher Autor versucht, ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Wenn das die Reaktion auf diesen kleinen Beitrag ist, wäre ein erstes Etappenziel schon einmal erreicht.