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Realitätscheck für die SPD gesucht

25-Stunden-Woche – die Jusos machen die SPD verrückt

Die von der Parteijugend gekaperte SPD will die 25-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich einführen. Es ist eine Vision ohne realwirtschaftliches Fundament. Nicht um die Verteilung von Wohlstandsgewinnen geht es, sondern um die Verteilung von Wohlstandsverlusten.

Die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken beim SPD-Konvent in Berlin, 05.11.2022

IMAGO / Metodi Popow

Die SPD setzt einen neuen Akzent in der Arbeitsmarktpolitik. Auf ihrem Debatten-Konvent mit 150 gewählten Delegierten, der als ‚kleiner‘ Parteitag zwischen den eigentlichen Parteitagen politische und organisatorische Fragen klären soll, wurde die Einführung der 25-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich als offizielle Parteilinie beschlossen. Der verabschiedete Leitantrag ging offenbar weiter, als es sich die beiden Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken gewünscht hatten.

Jessica Rosenthal, Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende der Jusos, hatte den Antrag im Namen der parteieigenen Jugendorganisation eingebracht. Dabei nutzten die Jusos die Gunst der Stunde. Denn für ihren Antrag „Mehr Zeit für das, was zählt: Arbeitszeitverkürzung jetzt!“, erreichten sie die erforderliche Abstimmungsmehrheit, als sich bereits viele Delegierte auf dem Heimweg befanden.

Weltfremd, abgehoben und „verrückt“

Sogleich ging der Koalitionspartner FDP auf Distanz. Die Forderung nach einer 25-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sei „absurd und völlig deplatziert“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Konstantin Kuhle, denn das sei ein „staatliches Beschleunigungsprogramm für die Krise“. Aber auch das von Hubertus Heil (SPD) geführte Arbeitsministerium distanzierte sich von dem Beschluss. Auf die Frage, wie sein Ministerium mit der neuen Line umgehen werde, hieß es, die Einführung einer gesetzlichen 25-Stunden-Woche sei „nicht geplant“. Zudem sei die Gestaltung der Arbeitszeiten gemäß Rechtsverordnung ohnehin den „Tarifvertrags- und den jeweiligen Arbeitsvertragsparteien“ überlassen.

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Diese Distanzierung kommt nicht überraschend, denn der SPD-Beschluss hat es in sich: „Um eine Arbeitswelt zu schaffen, die Beschäftigten Lebensqualität und Selbstbestimmung einräumt“, so der Beschluss, müsse die Arbeitszeit auf 25 Stunden begrenzt werden. Und weiter: „Damit Beschäftigte keine Gehaltseinbußen erfahren, braucht es einen vollen Lohnausgleich. Gleichzeitig darf es nicht zu einer Verdichtung und Intensivierung der Arbeit sowie zu erhöhtem Leistungsdruck führen.“ Da die Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht als Voraussetzung für den vollen Lohnausgleich gesehen wird, würde sich die dann von den Erwerbstätigen noch geleistete Wertschöpfung reduzieren. Die Wertschöpfung von Vollzeiterwerbstätigen, die gegenwärtig durchschnittlich etwa 41 Stunden pro Woche arbeiten, würde sich bei nur noch 25 Stunden Arbeitszeit um etwa 40 Prozent vermindern. 

Damit das verfügbare Angebot an Waren und Dienstleistungen dennoch auf dem gleichen Niveau bleibt, soll die Reduzierung der Arbeitszeit nach den Vorstellungen der SPD daher „bei vollem Personalausgleich“ erfolgen. Demnach müsste die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland ebenfalls um 40 Prozent steigen – und das, obwohl die demographische Entwicklung diametral entgegengesetzt verläuft.

Die in dem SPD-Beschluss transportierten Vorstellungen sind weltfremd, abgehoben und „verrückt“, wie der ehemalige Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb (SPD), meint. Der Beschluss liefert keinen Ansatz, wie Arbeitszeitverkürzungen ohne Einkommenseinbußen möglich gemacht werden könnten. Man suggeriert einfach, dass entsprechende Verteilungsspielräume bereits existieren und dass allein der politische Wille zur Umsetzung erforderlich sei. Um dies zu untermauern, behauptet Rosenthal an anderer Stelle, dass „in den letzten Jahren […] Unternehmensgewinne und die Produktivität wahnsinnig gesteigert wurden“, wozu insbesondere die Digitalisierung beigetragen habe. 

Traurige Wahrheit

Die ökonomischen Realitäten sehen jedoch völlig anders aus. Noch in den 1950er und 1960er Jahren glänzte die deutsche Wirtschaft mit jährlichen Arbeitsproduktivitätssteigerungen von bis zu 10 Prozent. Bereits seit Mitte der 1970er Jahre schwächte sich die zuvor rasante Produktivitätssteigerung in den entwickelten Volkswirtschaften und so auch in Deutschland jedoch immer weiter ab. Schon vor der Corona-Krise setzte eine Stagnation ein. Von 2007 bis 2019 ist die pro Erwerbstätigenstunde erzeugte Wertschöpfung daher nur noch um durchschnittlich etwa 0,6 Prozent pro Jahr gestiegen. Schon vor dem Beginn der Corona-Pandemie trat ein faktischer Stillstand ein: 2018 stieg die Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigenstunde gar nicht, 2019 um magere 0,4 Prozent. Nicht besser sieht es in anderen EU-Ländern aus, und die Schweiz erreichte in diesem Zeitraum ebenfalls nur noch ein Plus von 0,8 Prozent jährlich.

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Die Tendenz in Richtung stagnierender Arbeitsproduktivität konnte zudem – entgegen der Behauptung von Rosenthal – zu keiner Zeit durch die, in der Tat zunehmende Digitalisierung umgekehrt werden. Zwar haben die Unternehmen in allen entwickelten Volkswirtschaften stark in die Digitalisierung investiert; davon ausgehende Produktivitätsfortschritte sind, abgesehen von einer kurzen Phase in den USA, nicht eingetreten. Auch die vor etwas mehr als zehn Jahren in Deutschland ausgerufene Initiative „Industrie 4.0“, mit der eine Transformation der industriellen Produktion prognostiziert wurde, und die in eine „vom Internet getriebene 4. industrielle Revolution“ münden sollte, hat ebenfalls nur ein „Produktivitätsparadoxon“ produziert.

Sogar den sonst so erfolgreichen deutschen Maschinenbauern gelingt es nicht, hohe Digitalisierungsaufwendungen in Produktivitätsgewinne umzumünzen. Die „rasche Verbreitung einer umfassenden, intensiven Digitalisierung in der Produktion des Maschinenbaus“, so eine Studie aus dem Jahr 2016, „trägt […] nicht zu Produktivitätsgewinnen bei“. Für Investitionen in Software zeige sich im Gegenteil „sogar ein negativer Produktivitätseffekt“.

Aufgrund der dürftigen und zuletzt ausbleibenden Produktivitätsfortschritte fehlt es schlicht an Wohlstandsgewinnen, die verteilt werden könnten. Zudem sind die in den vergangenen Jahrzehnten nur noch minimalen Wohlstandsgewinne längst verteilt. So stiegen die durchschnittlichen Reallöhne seit Mitte der 1990er Jahre nur noch dürftig um gut 0,5 Prozent pro Jahr, womit sie in etwa das Niveau der Produktivitätsentwicklung erreichten.

Verluste statt Gewinne verteilen

Die SPD braucht einen Realitätscheck. Denn die ausbleibenden Produktivitätssteigerungen zeigen in aller Deutlichkeit, dass der gesellschaftliche Wohlstand in Deutschland nicht mehr wächst, sondern allenfalls stagniert. Dennoch wird, nicht zuletzt mit Hilfe steigender Staatsverschuldung, die Illusion aufrechterhalten, dass die in früheren Zeiten wegen steigender Arbeitsproduktivität tatsächlich existierenden sozialpolitischen Verteilungsspielräume noch immer bestünden.

Vor der EZB-Ratssitzung
Die Ära sinkender Reallöhne hat begonnen
Vielmehr haben sich die Vorzeichen der Wohlstandsentwicklung umgekehrt. Während die Stagnation der Arbeitsproduktivität nicht als wirtschaftspolitisches Problem adressiert wird und daher keinerlei Aussicht auf Besserung besteht, wirkt die in Deutschland und in weiten Teilen Europas verfolgte ökologische Klimapolitik sogar produktivitätssenkend.

Diese Klimapolitik setzt einerseits auf die im Vergleich zu fossilen und atomaren Energien deutlich weniger produktiven und daher teureren erneuerbaren Energien und zudem auf extrem kostspielige – und ebenfalls die Arbeitsproduktivität senkende – Energieeinsparungen durch Energieeffizienzverbesserungen.

Daher geht es nun nicht mehr um die Verteilung von Wohlstandsgewinnen, sondern um die Verteilung von Wohlstandsverlusten. Mit schockartig gestiegenen Energiepreisen liefert die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Energiekrise einen Vorgeschmack auf die mit der ökologischen Klimapolitik einhergehenden Energiepreissteigerungen. Dieser Wohlstandsverlust ist nun in vollem Gang. Im zweiten Quartal dieses Jahres sind in Deutschland die Reallöhne um 4,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Der Einkommensverlust ist seitdem weiter fortgeschritten, denn Löhne und Gehälter steigen weit weniger als die Verbraucherpreise.

In den anstehenden Tarifverhandlungen, so der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, gehe es letztlich um nichts anderes als darum, zwischen den Tarifpartnern die „Verluste zu verteilen“. Dass nun die Verteilung von Einkommensverlusten ansteht, bekräftigte kürzlich auch der Chefökonom der EZB, Philip R. Lane. Um zu einer niedrigeren Inflation zurückkehren zu können, sei die „Erkenntnis notwendig“, dass „die Rentabilität der Unternehmen sinken“ werde, „und dass die Löhne auch eine Zeit lang nicht mit der Inflation Schritt halten können“.

Der Wohlstandsmotor ist zusammengebrochen. Die von den Jusos als Vision gefeierte Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich hat daher kein Fundament. Die SPD und ihre Jugendorganisation sollten sich – wie viele andere auch – der harten Realität stagnierender Arbeitsproduktivität stellen und Ideen entwickeln, wie diese überwunden werden kann, anstatt die eigentlich gute Idee der Arbeitszeitverkürzung der Lächerlichkeit preiszugeben. Denn wer Visionen jenseits der Realität entwickelt, sollte, wie der ehemalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt einst formulierte, „zum Arzt gehen“.  


Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.

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