Ende 2016 der Berliner Weihnachtsmarkt, am vorhergehenden Silvester 2015 die Kölner Domplatte. In der starken Hoffnung, dass sich diese schrecklichen Heimsuchungen nicht als Beginn einer unheilvollen Serie erweisen mögen, sollten wir alle unsere Möglichkeiten und Netzwerke noch stärker nutzen, um im neuen Jahr von allzu bösen Überraschungen verschont zu bleiben.
Ich vermute, dass ich nicht der einzige aus dem Kreis meiner schreibenden Kollegen bin, dem es angesichts der Ungeheuerlichkeit des Berliner Terrorfalls und der Absurditäten seiner Aufklärung erneut die Sprache verschlagen hat. Die starke Verunsicherung, die einen Großteil der Bevölkerung erfasst hat und die mit entsprechendem Druck die innenpolitische Auseinandersetzung bestimmt, ist zwar auch, aber weniger der Angst vor dem Ansturm der Migranten als vielmehr der damit einhergehenden – zunächst befürchteten und dann tatsächlich eingetretenen – Terrorgefahr zuzuschreiben.
Es ist daher nicht von der Hand zu weisen, wenn Jasper von Altenbockum in der FAZ „den Zusammenhang von Asylrecht und den geradezu absurden Möglichkeiten, die sich Kriminellen bieten“, als einen der Gründe der Misere benennt und dass er denjenigen, die dies leugnen, vorwirft, „das Asylrecht als Fetisch (zu) behandeln“. Auch für Stefan Aust macht der Terrorfall Anis Amri deutlich, wie sehr „das deutsche Asyl-System an seine Grenzen gekommen ist“. Er spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem Totalversagen des Staates.
Schon im September letzten Jahres habe ich an dieser Stelle die Studie von Thilo Sarrazin zitiert, nach der bei 1,07 Millionen Entscheidungen über Asylanträge, die von 2007 bis Mitte 2016 getroffen wurden, lediglich in weniger als ein Prozent aller Fälle das Recht auf politisches Asyl gem. Art. 16a GG zugesprochen wurde. Es ist ein der Schildbürgerei verhaftetes Staatsverständnis, die eigenen Grenzen für obsolet zu erklären und jeden, der will, hereinzulassen, um dann mit dem Einsatz des gesamten Staatsapparats (der eigentlich für die dringenden Anliegen der Staatsbürger da ist) aus den 100 Prozent Zugewanderten das eine Prozent berechtigter Asylbewerber herauszufiltern – und dann auch noch die aussortierten 99 Prozent Abgewiesener unter Berufung auf einen „Humanitären Imperativ“ weiterhin im Lande zu belassen – zur Dauerbelastung einer Staatskasse, die für eine gleiche freigiebige Unterstützung von unterprivilegierten einheimischen Gruppen nicht zur Verfügung steht.
Die Politik war schon einmal weiter
Dass man sich der Sache auch mit ganz normaler Staats- und Rechtsauffassung annehmen kann, zeigt dieser Auszug aus einem Parteitagsprotokoll: „Manche unserer Gegner können es sich nicht verkneifen, uns in der Zuwanderungsdiskussion in die rechtsextreme Ecke zu rücken, nur weil wir im Zusammenhang mit der Zuwanderung auf die Gefahr von Parallelgesellschaften aufmerksam machen. Das, liebe Freunde, ist der Gipfel der Verlogenheit (…). Deshalb werden wir auch weiterhin eine geregelte Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung fordern.“
Was sich für politisch korrekt eingestellte Ohren wie ein Statement von Frauke Petry auf dem AfD-Parteitag 2016 anhört, ist tatsächlich eine Standortbestimmung der CDU, wörtlich zitiert nach dem Parteitagsprotokoll des CDU-Parteitags 2003 in Leipzig, aus der Rede der Parteivorsitzenden Angela Merkel. Es ist kein Wunder, dass der 180-Grad-Schwenk der Bundesregierung bei der Adressierung der Flüchtlingskrise zu einer sowohl innen- wie außenpolitischen Zerreißprobe geführt hat. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen empfindet die unkontrollierte Invasion hunderttausender Fremder mit überwiegend muslimischer Religion, verbunden mit der Aufforderung, sie als „Neubürger“ zu begrüßen, nach wie vor als Nötigung, zumal sich die Befürchtungen eines damit einhergehenden Kriminalitätsimports und einer leichtfertigen Zulassung terroristischer Gefährdung inzwischen bitter bestätigt haben.
Flüchtlingspolitik hat Deutschland in Europa isoliert
Wie zur Zerrissenheit im Innern hat der Bruch mit rechtsstaatlicher Praxis zu einer Isolierung Deutschlands in der Europäischen Union geführt, die ihren heftigsten Ausdruck im Brexit der Briten gefunden hat. Entgegen der Regierungspropaganda, die anderes vorgibt, geht die Ablehnungsfront innerhalb der EU weit über die osteuropäischen Mitgliedsstaaten hinaus. Bis auf die Beneluxländer und die von den Migranten-Anlandungen unmittelbar betroffenen Küstenländer Italien und Griechenland, die zu Recht aber vergeblich solidarische Unterstützung von ihren europäischen Nachbarn fordern, besteht unter den übrigen EU-Mitgliedern kaum Bereitschaft, dem deutschen Beispiel einer Zulassung sich ausbreitender orientalischer und afrikanischer Parallelgesellschaften mit der Übernahme sich dynamisch aufbauender Soziallasten zu folgen.
Zumal die Unglaubwürdigkeit der regierungsamtlichen Kommunikation ein übriges dazu beiträgt, die Aversion in der einheimischen Bevölkerung gegen die Zumutungen einer Massenzuwanderung zu schüren. Wenn der Bundesfinanzminister mitteilt, die Flüchtlingskrise habe 22 Milliarden Euro gekostet, wird dadurch nicht nur der falsche Eindruck erweckt, dass damit dieses Kapitel abgeschlossen sei. Mit dieser gigantischen Summe sind tatsächlich nur die unmittelbaren Lasten der (bisherigen) Unterbringung und des Lebensunterhalts erfasst. Die indirekten Kosten der dauerhaften Inanspruchnahme der staatlichen (Bund und Länder) sowie kommunalen Verwaltungen, der Polizei, der Justiz, der Bildungseinrichtungen, des Gesundheitswesens sowie die ausufernden Versicherungs- und Personenschäden aus dem Kriminalitätsimport werden der Öffentlichkeit wohlweislich vorenthalten. Es wird trotz der erwiesenen 1-Prozent-Anerkennungsquote bei Asylanträgen weiterhin an der „open border“-Politik für die 99 Prozent Scheinasylanten mit der Begründung festgehalten, dass es sich dabei überwiegend um Kriegsflüchtlinge handele. Dabei sollte es sich inzwischen auch bis in die Berliner Amtsstuben herumgesprochen haben, dass es sich bei den nahöstlichen und afrikanischen Zuwanderern auch um Opfer internationaler Menschenhändlersyndikate handelt, die in den Flüchtlingslagern und an den nordafrikanischen Sammelstellen nach wie vor zu hohen Schleuserkosten mit dem Versprechen sicherer Sozialleistungen in Deutschland in seeuntüchtige Schlauchboote gelockt werden.
Anreizsystem für illegale Zuwanderung beseitigen
Der regierungsfreundliche Medienverbund tut ein übriges, die beiden wichtigsten Anreizfaktoren für die Aufrechterhaltung dieses unseligen menschenverachtenden Schleuserwesens mit dem Mantel des Schweigens zu verdecken. Der unsichtbare, aber gleichwohl wirkungsmächtige Motor der Schleusung über das Mittelmeer ist das europäisch-afrikanische Währungsgefälle. Da jeder von Europa nach Afrika überwiesene Euro in afrikanische Heimatwährungen umgerechnet einen im Durchschnitt um das zehnfache höheren Betrag ergibt, ist der Anreiz oft enorm, in der deutschen und europäischen Fremde im Wege von Beschaffungskriminalität, Drogenhandel und Sozialbetrug möglichst hohe Euroeinnahmen zu generieren. Ein von entsprechendem staatlichen Willen getragenes Grenzregime, das illegale Zuwanderung unterbindet, statt sie mit bedingungslos feilgebotenen Sozialleistungen für jedermann anzulocken, könnte ein wirksamer Beitrag zur Lösung des Problems sein.
Dasselbe gilt für die europäische maritime Grenzsicherung im Mittelmeer, die sich mangels politischer Rückendeckung nicht in der Lage sieht, ihren eigentlichen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Auf diese Weise ist die maritime Grenzsicherungsflotte „EUNavFor MED“ zur Erfüllungsgehilfin der internationalen Schleuserbanden degradiert worden. Dabei kann den in Seenot geratenen Menschen durchaus geholfen werden, ohne den kriminellen Menschenhändlerbanden die von ihnen erwarteten und einkalkulierten Handlangerdienste zu leisten. Dem skrupellosen und opferreichen Geschäftsmodell ist dadurch ein Riegel vorzuschieben, dass der hilfreiche Einsatz bei der Rettung in Seenot geratener Menschen mit dem Aussetzen von Anreizen für die Schleuser einhergeht, ihr teuflisches Spiel immer wieder aufs Neue zu beginnen. Nach Lage der Dinge kann dies nur durch einen Aufnahmestopp für die geretteten Opfer in Europa und ihre Rückführung an die Herkunftsküsten gelöst werden, wie dies in anderen Teilen der Welt erfolgreich praktiziert wird.
Konservativer Aderlass folgt verletztem Rechtsempfinden
Der große Vertrauensverlust, den die Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage sowohl in weiten Teilen der eigenen Bevölkerung als auch unter der Mehrzahl der Mitgliedsländer der EU erlitten hat, ist vor allem im zeitweiligen und partiellen Entzug jenes Rechtssicherheitsrahmens begründet, auf den Staatsbürger in einem Rechtsstaat einen durch die Verfassung verbrieften Anspruch haben. So haben nicht wenige CDU-Mitglieder ihre Parteiaustritte auf ihr verletztes Rechtsempfinden zurückgeführt. Der beliebte Hamburger Innensenator Michael Neumann (SPD) hat seinen Rücktritt mit diesem Argument ebenso begründet wie die ehemalige Präsidentin des mächtigen Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach ihren Austritt aus der CDU-Fraktion des Bundestages und ihr populärer Fraktionskollege Wolfgang Bosbach sogar die Beendigung seiner politischen Karriere.
Dass in dieser Sache noch etliche weitere Prominente auf „gepackten Koffern“ sitzen, erfordert keine Hellsehergabe. Überraschend ist es aber doch, dass sich ausgerechnet Vizekanzler Sigmar Gabriel der Schar der Abtrünnigen zugesellt hat. Sein Vorwurf, dass die Bundeskanzlerin Deutschland und Europa in der Flüchtlingsfrage in eine Sackgasse geführt habe, mag sensationell klingen, wirft aber zugleich die Frage nach der Mitverantwortung seiner Partei für die jetzt als Desaster verschrieene Flüchtlingspolitik auf.
Mag die Bundeskanzlerin in einer höchst kritischen Lage eine fahrlässige Fehlentscheidung getroffen haben – die sich daran anschließende euphorische Willkommenskultur, die im „rot-grünen“ Meinungsmilieu bis heute virulent ist, hat gerade durch die SPD ihre stärkste Stütze erfahren. Da sich Sigmar Gabriel nicht das erste Mal im Schießen von Eigentoren gefällt, sollte er bei allem Verdienst, sich in der Sache selbst als lernfähig erwiesen zu haben, bei der Merkel-Kritik Zurückhaltung üben und auf Arnold Vaatz (CDU MdB) hören, der es für falsch hält, bei der verfehlten Flüchtlingspolitik nur alles auf die Kanzlerin zu richten: „Wir alle sind mit dabei gewesen und haben Fehlentscheidungen nicht verhindert. Nicht die Politiker, nicht die Medien und auch nicht die Bürger.“
Für reinigende Gewitter der Umkehr ist es nicht zu spät
Es wäre nicht das Schlechteste, wenn sich der Bundestagswahlkampf 2017 als reinigendes Gewitter zum Zurechtrücken mancher in Schieflage geratener Positionen erwiese. Die zeitlose Weisheit der Kaiserin von Österreich Maria-Theresia aus dem 18. Jahrhundert könnte dafür als Zielansprache das passende Motto sein: „Vertrauen ist der größte Ansporn. Fehlt das, so fehlt alles.“ Ein weiter gefasster Moralischer Imperativ, der nicht im Ausspielen der Interessen einer Gruppe gegen die der anderen sein Genüge sucht, sondern in der Bereitschaft der Gemeinschaft, der man den Amtseid geschworen hat, den Hebel zum Freisetzen der problemlösenden Kräfte zu sehen, ist hier gefordert. Nachdem die Bundesregierung eine gewisse Kehrtwende ihrer bisherigen Politik mit dem neuen Sicherheitskonzept von Bundesinnenminister Thomas de Maizière und (wie an dieser Stelle vor einem Jahr empfohlen) der Berufung des britischen Migrationsforschers Paul Collier zum Regierungsberater angedeutet hat, sollten weitere Schritte auf dieser Linie folgen. Mit Colliers Konzept, die Probleme Afrikas zwar mit kräftiger Unterstützung der Europäer aber nicht in Europa, sondern in Afrika anzugehen, ist die Richtung gewiesen, in der die Lösung zu suchen ist.
Natürlich gehört, zumal in der Politik, Mut dazu, Fehler einzugestehen. Die Bundeskanzlerin würde allen, ihren Landsleuten, den Europäern und sich selbst einen befreienden Dienst erweisen, wenn sie ihre im Alleingang getroffene Fehlentscheidung des „unconditional surrender“ vor dem unkontrollierten Flüchtlingsansturm im September 2015 als solche eingestünde. Gerade angesichts eines fast revolutionären Einbruchs in den internationalen Beziehungen zu Beginn dieses Jahres, in dem Europa, zumal durch den Brexit geschwächt, seine neue Stellung finden muss, braucht die EU eine unbelastete und unangefochtene Führung mehr denn je. Die aber ist nur um den Preis zu haben, dass dem beschädigten Rechtsempfinden einer großen Mehrheit der Europäer Genüge getan und der Anspruch auf Alternativlosigkeit des damaligen Vorgehens nicht länger erhoben wird.
Wolfgang Müller-Michaelis ist Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Honorarprofessor für Angewandte Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg.