Tichys Einblick
Von Pit Gottschalk, mediapreneure.de (02.09.2015)

„Die moderne Journalisten-Welt von heute?“

Die moderne Journalisten-Welt von heute

Das Büro, meine kleine Welt. Ein Mac, ein Telefon, ein Fenster zum Innenhof. So begann meine Karriere 1994 bei Axel Springer. Ich konnte nicht glücklicher sein. Wann immer ich zum Telefonhörer griff, ging es um die Fußball-Bundesliga. Ich musste als Reporter von Sport-Bild Nachrichten über Borussia Dortmund heranschleppen. Geschichten aus der Umkleidekabine. Interviews. Skandale. Schlagzeilen. Ich konnte das sehr gut.

Als Journalist ganz am Anfang

Jeden Mittwoch erschien Sport-Bild als gedrucktes Magazin am Kiosk, nicht selten mit einer Schlagzeile, die ich recherchiert hatte, mal mehr, mal weniger reißerisch. Nach ein paar Tagen kamen die ersten Prognosen, wie der Verkauf der Ausgabe verlaufen ist. Ob der Abverkauf von der Schlagzeile beeinflusst worden ist oder vom Regenwetter: Keiner wusste es so genau. Längst wurde die nächste Printausgabe produziert. Weiter geht’s.

Heute verkaufe ich unter anderem Hundetransportboxen – ja, richtig gelesen – und Autopolitur. Das Geschäft läuft in der virtuellen Welt. Auf http://www.kombi.de habe ich die Texte so geschickt präsentiert, dass sie mithilfe von Google ihre Leser finden. Längst geht es nicht mehr um Skandale und Schlagzeilen. Sondern um Nutzwert und Keyword-Dropping. Manchmal verkaufe ich zwei Dutzend Flaschen Autopolitur am Tag. Um genauer zu sein: Ich kriege nur eine Provision für den Verkauf. Stichwort Affiliate. Was wissen schon Journalisten davon?

Was ist die moderne Journalisten-Welt?

Ist das die moderne Journalisten-Welt? Natürlich nicht. Es ist die Form von Arbeit, die wir Journalisten damals von jenen Kollegen erledigen ließen, die wir abschätzig „Flanellmännchen“ nannten: Vermarkter, denen wir mit journalistischer Arbeit ein Werbeumfeld geboten haben. Wenn die keine Anzeigen verkauften – nicht unsere Schuld. Wir waren für gute Texte und Fotos zuständig. Leute auf der anderen Seite des Verlages: nicht unsere Welt.

Heute ist diese Grenzlinie nicht mehr so eindeutig. Plötzlich können wir Journalisten uns nicht mehr darauf verlassen, dass die Texte uns und unserem Umfeld gefallen. Unsere Performance ist inzwischen messbar: Hat unser Text eine hilfreiche Sichtbarkeit in den Suchmaschinen erreicht? Wie lange hat sich der Leser, der jetzt User heißt, mit unserem Text beschäftigt? Kurzum: Wie viele Ad Views hat der Text geschafft und welchen RPM?

Reichweite definiert den modernen Journalisten mit

Ad Views, RPM… Müssen Journalisten das wirklich wissen? Wieder sage ich: Natürlich nicht – schaden kann es aber nicht. So wie die meisten Fernsehjournalisten schon immer von der TV-Quote abhängig waren, bemisst sich der Wert des schreibenden Journalisten zunehmend an seiner Reichweite. Kürzlich erschien hier ein Text mit Richard Gutjahr, der alle Rekorde brach. Er ist offenbar ein wertvoller Journalist – er hat Reichweite.

Bei Forbes.com in den USA sucht Lewis DVorkin seine Kolumnisten auch danach aus, wie viele Follower sie auf Twitter und wie viele Freunde sie auf Facebook haben. Wenn diese Autoren auf seiner Plattform einen Text veröffentlichen, kalkuliert er offen mit deren Bekanntheit im Internet; denn mehr Bekanntheit bedeutet mehr Traffic bedeutet mehr Werbung bedeutet mehr Geld. Forbes.com ist heute das erfolgreichste Forbes-Asset.

Journalisten brauchen eine Online-Autorität

Neu ist ein solches Denken nicht. Auch bei Zeitungen verpflichten Chefredakteure Kolumnisten, die einen prominenten Namen haben und mit deren Bekanntheit Auflage zu machen ist. Neu ist, dass die Wirkung von Bekanntheit erstens online messbar geworden ist und zweitens von jedem Journalisten im Internet erarbeitet werden kann. Nico Lumma nennt diese Form von Reputation sehr treffend „Online-Autorität“.

Online-Autorität ist für Journalisten bares Geld wert. Für festangestellte Journalisten wie für Freelancer. Als Roland Tichy seine Arbeit als Chefredakteur der Wirtschaftswoche beendete, verlegte er sein journalistisches Sendungsbewusstsein zuerst in die Bild-Gruppe und dann auf seine eigene Website „Tichys Einblick“ mit allen Distributionskanälen. Der Erfolg: 1,5 Mio. Page Impressions im August – jetzt kann er ans Monetarisieren denken.

Moderne Journalisten-Welt: Was bedeutet das konkret?

Exakt so funktioniert die digitale Transformation. Basierend auf alle journalistischen Tugenden, die man in seiner Karriere gelernt hat, geht es jetzt darum, seine eigenen Leser zu gewinnen. Das heißt konkret für die moderne Journalisten-Welt:

Apple bietet zum Beispiel kostenlose Kurse an, Videoschnitt zu lernen. Mediapreneure lädt ebenfalls zu kostenlosen Online-Schulungen am Computer-Bildschirm ein, zu so genannten „Webinaren“. Die zwei Beispiele zeigen: Es gibt eine Menge an Möglichkeiten der Fortbildung. Und viele gute Vorbilder, wie die moderne Journalisten-Welt funktioniert.

Moderner Journalismus am Beispiel Roland Tichy

Und das Beispiel von Roland Tichy zeigt: Online-Autorität ist keine Frage des Alters (er ist Jahrgang 1955), sondern der Art, wie er sendet: zielgenau in die Leserschaft, klar in der Haltung, unternehmerisch im Denken. Ja, unverwechselbar. So hat er eine eigene Leserschaft aufgebaut, die bei Twitter über 33.000 Follower beträgt (Stand Mitte 2015). Nicht so viele wie bei Armin Wolf vom ORF (190.000), aber immerhin: Sein Wort zählt.

Ob Herr Tichy davon leben kann? Keine Ahnung. (Aber wir werden ihn zeitnah fragen.) Wir bewundern ihn nur dafür, wie er nicht nur eine digitale Visitenkarte ins Netz gesetzt hat, sondern mit „Tichy Einblick“ ein Online Business gestartet hat, das Aufmerksamkeit erzielt und zu weiteren TV-Auftritten und Beraterverträgen führt. Wie eben Gutjahr zu seinem Kolumnistenvertrag bei der Rheinischen Post.

61 Prozent der Freien zwischen 40 und 60 Jahre alt

Jungen Journalisten, die frisch von der Journalistenschule kommen, muss man die Bedeutung von Social Media und den Auswüchsen in der digitalen Welt nicht erklären. Es geht um die Journalisten zwischen 40 und 60 Jahren, die zu erfolgreich in der Printwelt waren, um sich um die Online-Welt kümmern zu können – und jetzt noch zu lange arbeiten müssen, als dass sie das Digitale in ihrer Arbeitswelt ignorieren könnten.

Es geht um Journalisten wie mich.

Umfragen belegen: 61 Prozent der Freien Journalisten sind zwischen 40 und 60 Jahre alt. Allein mit Honoraren, die von Verlagen gezahlt werden, ist offenbar kein Auskommen mehr: Ihr Durchschnittsverdienst liegt unter 2500 Euro im Monat. Auch festangestellte Journalisten können nicht sicher sein, dass ihre Arbeitsplätze bis zur Rente bestehen. Die Lage ist ernst – und eröffnet doch ungeahnte Möglichkeiten.

Ich verkaufe nicht nur Hundetransportboxen und Autopolitur, sondern auch:

So viel verrate ich: In Summe liege ich mit diesem Hobby weit über dem Durchschnitt.

Entrepreneurial Journalism oder Digital Publisher

Das eine ist das Geschäft, das andere: Was ich aus dem Thema journalistisch mache. Und da kehre ich schon an die Anfänge des Reporterlebens zurück. Wenn ich zum Beispiel beim Zukunftsforscher Nick Sohnemann Datenbrillen von Oculus Rift teste. Oder den Schlagersänger Gunter Gabriel und seinen Kombi-Song für meine Kombi-Site filme. Man muss heute ein bisschen die Hemmungen verlieren. Als Gunter Gabriel („Hey Boss, ich brauch‘ mehr Geld“) auf einem Geburtstagsfest zu seinem Song „Der letzte Wagen ist immer ein Kombi“ ansetzte, griff ich beherzt zum iPhone, filmte jede Sekunde des Auftritts (man sieht, wie ich mich durch die Stuhlreihen nach vorne kämpfte) und schnitt die Videosequenzen selbständig zu einem kurzen, aber wirkungsvollen Video. Jetzt arbeitet sich der Videoschnitt durch die Google-Rankings und verschafft mir eine Aufwertung sowohl auf der Website selbst als auch bei YouTube. Nicht viel – aber wieder eine Traffic-Quelle mehr. Ich gewinne meine eigenen Leser, Schritt für Schritt. Durch das Digitale werden die Darstellungsformen breiter und gleichzeitig besser.

Der Journalistenbegriff zeugt von einer gewissen Romantik. Niemals werde ich die gesellschaftliche Bedeutung von Journalisten als Kontrollorgan infrage stellen. Wir müssen alles tun und alles versuchen, die Anerkennung von Journalisten zu erhöhen und Leser dazu zu bringen, für guten Journalismus zu bezahlen, damit Qualitätsjournalismus erhalten bleibt. Aber jeder Journalist muss von seinem Beruf leben können.

Der New Yorker Professor Jeff Jarvis spricht deshalb von „Entrepreneurial Journalism“, also von einem unternehmerischen Denken bei Journalisten. Ich selbst bevorzuge „Digital Publisher“. So oder so, werden zwei Eigenschaften miteinander enger beim „selbstbestimmten Publizieren“ (Karsten Lohmeyer) verbandelt: Journalismus mit Geschäftssinn. Traditionelle Journalisten mögen jetzt kurz die Nase rümpfen.

Unternehmerisches Denken im modernen Journalismus

Die Wahrheit ist: Schon immer mussten zumindest die Freien Journalisten weitgehend unternehmerisch denken. Angebote schreiben, auf die Auftragsbestätigung warten, die Arbeit abnehmen lassen und gegebenenfalls korrigieren, mit dem Abdruck in einer bekannten Zeitung oder Zeitschrift hausieren gehen und neue Auftraggeber akquirieren, Umsatzsteuer, Werbungskosten – das ganze Programm eines Kleinunternehmers.

Das Internet ändert lediglich die Kundenbeziehung zu Verlagen. Jetzt kann ein jeder Journalist, siehe oben, sein eigenes Business starten und Geld verdienen. Aber zuerst gilt: Einfach mal loslegen! Über das Geld, so Tichy, „habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht – es ging um das Produkt“. Genau so soll es sein. Und tatsächlich gibt es noch Spannenderes zu verkaufen als Hundetransportboxen und Autopolitur…

Pit Gottschalk hat als Entrepreneurial Journalist und Digital Publisher Medienmarken wie Sport-Bild und Top.de aufgebaut und geprägt. Er ist Board Member in der International News Media Assoziation (INMA) und berät weltweit Medienunternehmen.

Im Web: mediapreneure.de und bei Facebook

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