Es gibt genau zwei Arten, einen Markt unternehmerisch zu be-greifen. Die erste Variante geht davon aus, dass die Menschen in der westlichen Welt bereits alles besitzen und dass ausschließlich eine exakte Marktforschung Marktlücken und latente Bedürfnisse zutage fördert, damit man Nischen erkennen und individualisierte Produkte konzipieren kann. Das ist die klassische, amerikanische Marketingdenke gesättigter Märkte.
Die zweite Variante kennzeichnet Experten, Erfinder oder Visionäre, die ausgehend von ihrem Erfahrungsschatz grundsätzlicher denken: „Ich habe eine Idee: Man müsste dieses Produkt realisieren.“ Der „Markt“ ist ihnen in den ersten Überlegungen egal, sie denken von der Leistung, von innen her. Das ist die traditionelle, europäisch geprägte Vorstellung des Unternehmertums, das seinen Ausgangspunkt vor allem während der Industrialisierung nahm.
Die bahnbrechenden Markenentwicklungen der letzten Jahrzehnte, auch aus den USA, haben sich stets am europäischen Optimierungsgedanken orientiert. Ein Steve Jobs hat nicht gefragt, ob die Welt ein Smartphone benötigt – er hat es erdacht und gebaut (Apple hat noch nie Marktforschung betrieben). Die erste Variante versteht sich als Empfänger und Marktentwickler: Wahrnehmer. Die zweite Variante als Sender und Marktschöpfer: Wahrgeber. Die heutige Marketingwelt unterwirft
sich immer stärker der Vorstellung, dass Leistungen in erster Linie die Folge einer Marktabschätzung sind. Nicht das beste Produkt gewinnt, sondern die dezidierteste Marktforschung. Je konzerniger ein Unternehmen, desto mehr bezieht sich die Führung auf „Zahlen und Analysen“, während den klassischen Unternehmer „ein Bauchgefühl“ prägte, das zu gestalterischem Handeln führte. Die immer feineren digitalen Kundendatenanalysen und tagelange Powerpoint-Schlachten mit Medianen und Marktsoziografien entsprechen der übergreifenden Versicherungsmentalität unserer modernen Welt: Alle Entscheidungen sind zurückführbar auf Zahlen – damit werden selbst Fehlschläge entpersonalisiert. Das Problem: Wer nur zählt, hört auf zu denken.
Ware mit „emotionalem Mehrwert“
Da alle Unternehmen den identischen Markt mit den gleichen Instrumenten, einem ähnlichen analytischen Kontext vor dem Hintergrund einer berufsbiografisch homogenen Mitarbeiterschaft beobachten und bewerten, sind die praktischen Ableitungen relativ ähnlich. In der Folge werden Vertrieb und Marketing immer „gleicher“.
Dieser Umstand verstärkt sich mit der weitverbreiteten Meinung in den Marketing- und Vertriebsabteilungen, dass die eigenen Produkte und Dienstleistungen austauschbar seien (Stichwort: „me too“ oder „commodities“, auf Deutsch: Brot-und-Butter-Produkte). Meist sehen die eigenen Ingenieure und Produktentwickler das durchaus differenzierter, aber das Silodenken in den Unternehmen bietet den eigentlichen Produktmachern in der heutigen Zeit keinen Raum.
Die Folge ist allerdings fatal: Wenn im Grunde alles gleich ist, dann schafft seit circa 30 Jahren nur noch der sogenannte „added value“ Abhilfe: Die Aufgabe des Marketing sei es, mit einer Ware einen emotionalen Mehrwert zu verknüpfen: Gefühle! In der Realität klingt dies etwas vornehmer: Markenimage.
Bei Nike kaufe ich nicht nur Schuhe, sondern ein Siegerdasein. Mit Porsche bin ich erfolgreich, mit Alnatura besonders achtsam, mit Coca-Cola jung und hip und überhaupt.
Doch die Argumentation allein über „tiefe Gefühle“ verfängt im Vertriebsalltag kaum, sondern muss sich an harten Fakten messen lassen. Trotzdem erreicht die Orientierung am emotionalen Mehrwert eines Produkts seit geraumer Zeit eine weitere Stufe: Nicht mehr ein abstraktes, individuelles „gutes Gefühl“ steht im Fokus der Betrachtung, sondern der Kampf für alles Gute in der Welt. Werbung wird politisch.
Unternehmen sind die UNO im Kleinformat, Verkünder der frohen Botschaft, der kategorische Imperativ in den Gewerbegebieten dieser Welt: Pepsi macht eine Peace-Kampagne (vor Ausstrahlung gescheitert), Fritz Cola thematisierte G 20, Gillette den neuen Mann (nach der Ausstrahlung gescheitert), Dove das natürliche Aussehen (massive Umsatzeinbrüche), Coca-Cola sponsert die Christopher Street Days („Hate can’t celebrate“).
Das in den späten 1980er-Jahren mit Verve vorgetragene Credo Oliviero Toscanis hat sich durchgesetzt: „Die Werbung ist ein lächelndes Aas. Schluss mit der Verdummung durch Werbung.“ Der italienische Werber nutzte in seiner Benetton-Kampagne Kinderarbeit, Umweltverschmutzung oder Aids als Werbemotive für Pullis (und führte damit die Firma Benetton in die Krise …). Eines sollen Unternehmen auf kommunikativer Ebene nicht mehr sein: Firmen, die Geld verdienen.
Der Treiber für die ethische Aufladung der Werbung beruht auf einem simplen Grundverständnis: Unternehmerischer Erfolg und Gewinnorientierung gelten als verwerflich. Die Annahme: Ein Unternehmen, das hohe Margen erwirtschaftet, kann dies nur auf dem Rücken der Beschäftigten oder der Umwelt. Nach Flight- und Car-Shaming sollten wir von Profit-Shaming sprechen. Der alte Kapitalist mit Zylinder und Zigarre ist wiederauferstanden. Selbst mit einem nicht unbedingt konservativen Grundverständnis der Ökonomie ist klar, dass in einer hochkomplexen Welt die Vorstellung vom „Guten“ und vom „Bösen“ in der Wirtschaft nicht mehr greift. (Fast) alle Wertschöpfungsstufen sind Profiteure und Verantwortliche in einem auf Arbeitsteilung und Spezialisierung ausgerichteten, entgrenzten Weltwirtschaftssystem.
Die Zielgröße heißt Hyperrelevanz
Mit großer Sensibilität hinsichtlich der Vermeidung dieses Stigmas versucht die kreative Elite, das Bild des Unternehmens umzupositionieren: Betrachtet man die großen Namen der New Economy, so schreiben sie sich als Idealtypus eines neuen Wirtschaftsmodells öffentlich nichts weniger auf ihre Fahnen als die Verbesserung der Welt. Google-Gründer Larry Page schreibt zu den Zielen seiner Holding: „Improving the lives of as many people as we can („Die Verbesserung des Lebens so vieler Menschen wie möglich“). Die Entwürfe eines postkapitalistischen Wirtschaftssystems stammen also schon längst nicht mehr von aufrechten marxistischen Theoretikern, sondern von Menschen wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg. Die Welt ist ein verrückter Ort geworden. Im Marketing schreibt man übrigens diesbezüglich von der Zielgröße „Hyperrelevanz“.
Gleichzeitig heißt dies aber auch: Ein Schrat und Menschenfeind, wer seinen Unternehmenszweck heute noch mit „Geld verdienen“ definiert! Nicht ohne Grund inszeniert sich die Start-up-Szene gern zugänglich in T-Shirt und Sportschuhen. Das Zeichen ist klar: Wir sind harmlos, wir sind wie ihr, wir sind die Guten. Dass allerdings die Voraussetzungen für das Gute in der gnadenlosen Verdrängung, Abschöpfung und Skalierung bestehender ökonomischer, meist lokaler Strukturen liegt (Stichwort: Plattformökonomie), tritt kaum zutage.
Zur globalen Kunstform stilisiert
Die Marketing- und Werbewelt greift diese Großvisionen gern auf, kämpft doch auch die schöne Kommunikationswelt mit dem 500 Jahre alten Kainsmal der Unredlichkeit und Verführung. Im Handwerk galt Werbung bis vor wenigen Jahrzehnten noch als Blendwerk, war teilweise sogar per Zunftordnung verboten – ein gutes Unternehmen warb allein über seine guten Leistungen. Werbung entstand an den Rändern des Wirtschaftssystems, sie ist ein Schmuddelkind der Kommunikation. Indem sich allerdings die Werbebranche seit gut 100 Jahren selbst zu einer globalen Kunstform stilisierte, gelang es ihr, Sehnsuchtsort für viele ambitionierte Kreative zu werden, die doch noch irgendwie ihre Rucksacktouren nach Angkor Wat, zum Surfen auf Hawaii oder nach Vancouver Island zu bezahlen hatten.
Dieser spannende, kosmopolitische, gut gebildete Mikrokosmos von Marketing und Werbung ist der Tonangeber bei der Ausrichtung von Werbung. Warum? Weil die Lebenserfahrung zeigt, dass die eigentlich bahnbrechenden Ideen und Konzepte von der jungen, ungebundenen, erfahrungsoffenen Generation vorangetrieben werden.
Kreativität war immer schon die Domäne der „Jungen“. Das ist keinem vorzuwerfen, sondern liegt in der Natur des Älterwerdens. Unser Ich – das Wohnzimmer der Seele – richtet sich erst nach und nach ein. Revolutionen begannen selten in Geriatrien oder Reihenhaussiedlungen. Die drei „K“ Kinder, Kredit und Kamin haben bisher noch (fast) jeden Barrikadenhelden sediert.
Die Kombination aus Entstigmatisierung des Tätigkeitsfelds bei gleichzeitiger Ungebundenheit der kreativen Köpfe macht Werbung zu einem Feuerwerk visionärer Vorstellungen. Die Werbung übernimmt die Aufgabe eines pionierhaften Senders, der vermittelt, wie die Welt „eigentlich“ zu sein hätte – unabhängig von verwurzelten Strukturen, Traditionen und Gewohnheiten. Sie ist zutiefst vernünftig, rational und jetzt- getrieben – ein Zustand, den der Begründer der deutschen Soziologie mit „gesellschaftlich“ umschrieb.
Werbung macht Politik, weil Politik keine Politik mehr macht – und darf ungestraft autoritär sein
Sozialitäten sind allerdings nicht nur „gesellschaftlich“ geprägt. Es wirkt auch ein Zusammenhang, der seine Entsprechung in der Gemeinschaft hat: Hier wirken kaum rationale Regeln, sondern Emotionen, Verbundenheiten, Geschichte und gemeinsame Geschichten. Die Sprache ist ein deutlicher Indikator für die unterschiedlichen Bezugsqualitäten: Wir sprechen von der Familiengemeinschaft, aber nicht von der Familengesellschaft – eine Aktiengemeinschaft hingegen ist uns fremd.
Auf den ersten Blick kann jeder zustimmen, wenn es um Frieden, Freiheit und Achtsamkeit geht. Politische Werbung moralisiert ihr eigenes Tun ethisch und lässt das Geldverdienen des Unternehmens in den Hintergrund treten. Dabei wendet sie sich weiterhin an die Menschen, die wie die Macher selbst ungebunden, weltgewandt und meist nur für sich selbst verantwortlich sind.
Die Zielgruppe der „Silver Ager“ wird zwar ständig aufgrund ihrer wirtschaftlichen Ressourcen beschworen, aber de facto zeigt 90 Prozent der gesamten Werbung weiterhin Menschen zwischen 20 und 35 Jahren. Das Signal der Kommunikation vermittelt Aufbruch und Haltung vor einem idealtypischen Kontext und agiert als „Überzeugungsinsel“ vor dem Hintergrund einer Politik, die aufgrund ihres Komplexitätsgrads schon längst keine einfachen Antworten mehr geben kann. Werbung macht Politik, weil Politik keine Politik mehr macht.
Werbung wird „gut“, weil sie eine menschenfreundliche Botschaft hat – die sich (wie man hofft) automatisch auf das werbende Unternehmen überträgt. Dabei nutzt sie ein Paradox geschickt aus: Weil man Werbung Parteilichkeit unterstellt, darf sie ungestraft autoritär sein – in diesem Fall für das vermeintlich „Richtige“. Dass die Botschaft höchst universell und damit austauschbar ist, bleibt der kleine ökonomische Schönheitsfehler in dieser Denke: In Erinnerung bleibt nicht das Unternehmen, sondern die gute Mission.
Politische Kampagnen haben zusätzlich den Effekt, dass sie schnell „Aktivität“ veranschaulichen und viel billiger sind als beispielsweise eine grundsätzliche Anpassung des Geschäftsmodells in Richtung mehr Gerechtigkeit und Fairness, etwa was die Steuerleistung multinationaler Unternehmen betrifft. Jedoch: Sie bleiben an der Oberfläche. Sie sind Blendwerk.
Die Welt ist eben nicht Werbung
Tröstlich ist, dass politisch-ethische Werbung stets nur kommunikative Strohfeuer bleibt: Kein Unternehmen wirbt dauerhaft politisch. Selbst eine systematische „Weltverbesserungskampagne“ wie Doves „Initiative für wahre Schönheit“ musste seltsam entschärft werden: Zu viele „stramme Kurven“ schadeten der Kasse. Und Pepsis „Black lives matter“ gelangte niemals an die breite Öffentlichkeit – zu groß war die öffentliche Empörung.
Mag sein, dass die Kundschaften, also die Geldgeber, ein sensibles Gespür für autoritär-pädagogisierende Wertvorstellungen haben. Weil die Welt eben Welt und nicht Werbung ist und weil eine kommunikative Mitmachwirtschaft noch nie funktioniert hat. Der Ausbruch aus dieser Logik ist keine Heldentat, denn die Marke ist – das ist ihr Zweck – auf Differenzierung und Abgrenzung angelegt. In der Folge stehen gute Erträge, die ganz real dem Gemeinwesen zugutekommen sollten.
Oliver Errichiello und Arnd Zschische – Marke statt Meinung: Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten (Dein Business)