Wenn der Jurist und Verbindungsstudent Karl Marx vor einer kurzen Ewigkeit einen Tatbestand mit Recht bewusst gemacht hat, dann diesen: Waren sind vergegenständlichte Sozialbeziehungen. Nur „Verbraucherschützer“ glauben, dass der Mensch einfach nur „verbraucht“. Das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch wählt, wägt ab, freut sich, präferiert, verwirft oder kauft „trotzdem“, gerade weil alle rationalen Gründe dagegen sprechen. Den „Homo oeconomicus“ gibt es nur in Lehrbüchern. Wer einmal auf einem Schulhof beobachtet hat, dass sich Kinder in Gruppen von „Marken-„ und „No-name-Sportschuhen“ teilen, weiß wie wirksam die soziale Botschaft eines Produktes ist. Der Schlachtruf „No logo“ funktioniert nicht … immer weniger. Denn Marken sind die übergreifenden Botschaftsträger unserer Epoche. Sie sind zeitlos, universell und kulturübergreifend.
Mit jedem Produkt sagen wir auch immer etwas über uns und unser Selbstverständnis aus. Ein Gegenstand ist nicht leblos; er ist aufgeladen mit Vorstellungen, Zuschreibungen und Bildern. Waren sind erst als Subjekte Objekt; erst wenn sie uns etwas bedeuten, üben sie Anziehung aus. Indem wir ein spezifisches Produkt auswählen, demonstrieren wir der Welt um uns herum auch immer, wie wir verstanden werden wollen: Porsche oder Dacia, Hugo Boss oder C&A, Studiosus Reisen oder Tui, Adidas oder Nike, Tchibo oder Starbucks … mit jeder Entscheidung bestimmen wir unsere Position in der Welt. Jeder Warenkauf ist ein symbolischer Vorgang, der voraussetzt, dass unsere Aussage verstanden wird.
Produkte als Symbole wirken nur, wenn möglichst viele Menschen verstehen, was die „Aussage“ der Ware ist: Eine Rolex-Uhr macht nur dann Sinn, wenn global klar ist, dass es sich bei einer Rolex um eine teure Uhr handelt. Der Käufer will in seiner Entscheidung – wortlos – verstanden werden. Ein Unternehmen hat über seine Kommunikation sicherzustellen, dass dieser Botschaftswille realisiert wird. Vor diesem Hintergrund ist es umso entscheidender, dass es einer Ware gelingt, eindeutige Inhalte unter ihrem Namen zu verdichten. Vertrauen und Bindung entsteht, wenn das Unternehmen für etwas steht und eben durch dieses Bekenntnis Orientierung, Verlässlichkeit und Teilhabe an einer Gemeinschaft ermöglicht. Im Begriff „Vertrauen“ ist bereits die wichtigste Bedingung für „Vertrauen“ enthalten: treu. Es wird nur dem vertraut, der sich in erster Linie selbst treu ist.
Jeder Mensch will an der Welt nicht nur teilnehmen, sondern auch teilhaben: Er macht sich die Dinge dieser Welt zu eigen. Menschen suchen die Nähe zum eigentlich Entfernten, die Verbindung zu Epochen und Ereignissen, die längst vergangen sind oder in weiter Zukunft liegen – Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit. Nicht jeder Ort weckt für alle Menschen die identischen Begehrlichkeiten, aber nur die Dinge, die in irgendeinem Detail besonders sind, haben das Potential, unsere Vorstellungswelt zu besetzen und damit Teil unserer eigenen Geschichte, unserer Persönlichkeit zu werden. Dabei ist das Besondere immer konkret: Es besteht aus Gebäuden, Menschen, Tieren, Landschaften oder einem Stil. Ja, auch Dinge können Heimat sein.
Waren oder Dienstleistungen bieten das Potential, sich ihnen anzunähern und Teil von ihnen zu werden. In Hinblick auf das „soziale Wesen Mensch“ ist die Ökonomie daher ein einflussreiches Netzwerk, dass ein fundamentales Bedürfnis – die Überwindung der Isolation und Einsamkeit – in strukturierter Form befriedigt. Ökonomie überwindet die Einsamkeit, indem es Soziales schafft.
Dieser Gedanke steht in Widerspruch zu einer zeitgenössischen Ansicht, dass wirtschaftliche Prozesse den Menschen entwurzelten und „entfremdeten“. Ohne Zweifel: Der Mensch wurde zu Zeiten des ungezügelten Kapitalismus im 19. Jahrhundert als „Mittel zum Zweck“ begriffen mit unvermeidlichen sozialen Gegenaktionen, die im Aufbegehren die unerträgliche Situation zu verbessern suchte. Heutzutage scheint der soziale Konflikt (zumindest in der westlichen Welt umso mehr auf Kosten des Südens) eingedämmt und auf einem menschenwürdigen Niveau kontrolliert. Arbeit ist nur noch ein Teil der Bündnisbildung. Deutlich wird aber auch, dass die Intensität des Konsumierens und Kaufens allumfassend ist: Die Privatisierung ehemals landeshoheitlicher Bereiche (u. a. Post und Telekommunikation, Strom, Wasser, Bildung) sowie ein werblicher Overkill von 3.000 Werbebotschaften pro Tag dominiert das individuelle Denken inhaltlich. Hinzu kommt ein weiterer Befund: Das Selbstverständnis über die Aufgaben wirtschaftlicher Akteure verändert sich: War in der „old economy“ der legitime Zweck eines Unternehmens, mit seinen Produkten Geld zu verdienen (von denen alle in verschiedenen Graden profitierten), so schreibt sich heute die Avantgarde der globalen Wirtschaft nicht weniger auf ihre vor allem elektronischen Banner als die „Verbesserung der Welt“ – liest man die Selbstbeschreibungen und Mission Statements von Unternehmen wie Alphabet, Facebook, Microsoft, Amazon oder Ebay. Diese vermeintliche ethische Haltung verdeckt aber, dass die wirtschaftlichen Konzeptionen dieser Unternehmen in den untersten Stufen der Wertschöpfungskette darauf beruhen, Errungenschaften der vordigitalen Ära abzuschaffen: Jedem Menschen ist bewusst, dass Amazon seine Lagerarbeiter nicht ordentlich bezahlt, jeder weiß, dass Apple-Geräte unter zweifelhaften Bedingungen in chinesischen Fabriken gefertigt werden und jedem ist klar, dass Google für seine Mitarbeiter zwar Obstteller bereitstellt und abenteuerliche Firmenausflüge organisiert, dass aber ein geregeltes Privatleben nicht möglich ist (deswegen arbeiten größtenteils ungebundene Mittzwanziger dort). Dass überhaupt nahezu sämtliche Waren des heutigen Konsums irreparable Schäden hinterlassen, ist bereits bei oberflächlichen Nachdenken deutlich. In vielen Bereichen herrscht vorgeblich eine nahezu lückenlose „Ethik-Kette des guten Gewissens“, die allerdings nur das Ende der Wertschöpfungskette beachtet – aus gutem Grund.
Indem der Kauf einer Ware „edle Intentionen“ mit einschließt, wird der Konsum sozial akzeptabel und verdeutlicht den Willen zur Gemeinschaftsbildung. Allerdings: Gemeinschaften sind idealtypisch betrachtet nie ethisch – sie sind zutiefst moralisch. Im Alltag werden diese beiden Begriffe oftmals gleichgesetzt, obwohl sie etwas vollständig Gegenteiliges beschreiben. Moral beschreibt immer den Lebenszusammenhang einer Gemeinschaft, bspw. „Die Moral der Truppe“. Moralisch ist, was die Gemeinschaft zusammenhält. In der Gemeinschaft wirken Triebkräfte wie Ehre, Stolz und Tradition. Es ist – wieder idealtypisch betrachtet – ein Bündnis mit denen, die man nicht infrage stellt.
Ethik dagegen ist immer unmoralisch. Anders formuliert: „Ethik ist ein Bündnis mit anderen – sogar an sich Fremden. Ethik ist das gedachte Bündnis mit der Menschheit. Nicht die in einer historischen Örtlichkeit, in einem gemeinschaftlichen Umfeld, sondern die Brüderschaft mit allen Gleichen des Menschengeschlechtes drängt zu ethischem Handeln. Nicht nur alle Heutigen, auch alle noch nicht Geborenen gehören diesem Bündnis an. Mit Blick auf die Zukunft sollten wir Dies und Jenes heute nicht tun – so spricht die Ethik. Moral muss man uns nicht predigen, wir leben sie täglich. Ethik bedarf der ständigen Beschwörung. „Wir werden, wir wollen“ so spricht die Moral; „Wir müssten, wir sollten“ formuliert die Ethik“ , schreibt der Sozioökonom Alexander Deichsel.
Gerade weil wir in Zeiten leben in denen alles gleich gültig ist, aber eben doch nicht gleichgültig, bilden die wahrnehmbaren Ausprägungen ökonomischen Handelns – die Marken – die Möglichkeit, Moral als die wesensprägende Form menschlichen Sozialbewusstseins zu leben: Als BMW-Fahrer oder Apple-Nutzer vertreten wir die Moral unserer Truppe und bekennen uns zu ihr. Das ist die eigentliche Kraft der Marke.
Der Mensch ist von sich aus ein soziales Wesen. Und weil wir beobachten, dass die ganze Welt sich in Familien, Nationen oder Fußball-Clubs verbündet, werden wir ständig animiert, selbst Bündnisse einzugehen – um nicht allein zu sein. Die Art der Bündnisse in den vergangenen Jahrzehnten hat sich fundamental verändert. Es gilt: Ray Ban statt Religion. Allerdings: Das Auflösen tradierter Formen sozialer Bindungen hat das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft nicht reduziert – im Gegenteil.