Wozu bin ich da? Was ist eigentlich der tiefere Sinn meiner Existenz auf dieser Welt? Derlei tiefgründige Fragen stellen sich nicht mehr nur einzelne Menschen in der Sinnkrise, sondern im 21. Jahrhundert auch ganze Unternehmen in der Kommunikationskrise. Innerhalb dieser Organisationen wird die Frage naturgemäß kosmopolit formuliert, komplett auf deutsch wäre zu simpel für gehobenes Konzernmanagement. Auf den Teppichetagen heißt es daher: Was ist eigentlich unser „Purpose“? Leitbilder, pardon „Code of Conduct“ war gestern, heute zählt dort nur noch der Purpose. Ausreichend Studien haben eindeutig ergeben, dass Unternehmen wirtschaftliche Vorteile davon haben, wenn sie „höhere“ Ziele besitzen als nur den wirtschaftlichen Erfolg. Profitstreben, Nachhaltigkeit und gesellschaftliches Engagement müssen zwecks Profitstreben vereint werden. Wer den Planeten und die Gesellschaft überzeugend genug rettet, die Ethik nach vorne stellt, der erhält öffentliches Wohlwollen… und am Ende des Tages vielleicht ein ganz klein wenig Geld dafür. Was man nicht alles so tut, um dem profanen Stigma von Verkauf, Absatz und Vertriebsmaßnahmen zu entkommen.
Endlich. April 2020 ist der finale Durchbruch geschafft. Endgültig hinfort mit der typischen geldgeilen Werbung irgendwo zwischen lächelnder (Achtung! Genderübertretung) Zahnarztgattin (m/w/d), stullenschmierender Hausfrau (m/w/d – ist der Begriff überhaupt noch erlaubt? Was wäre die neutrale Bezeichnung? Hausmensch?) und würstchenverzehrendem Kraftfahrer (m/w/d). Die idealisierenden Trug- und Vexierbilder sind perdu. Schließlich ist der Mensch unserer Epoche klüger, aufgeklärter, analytischer als all die Hornochsen und Hupfdohlen (m/w/d) aus vordigitaler Zeit. Deswegen ist der Mensch auch ein reiner Verbraucher und schon längst kein geschätzter Kunde mehr. Darauf erst einmal einen Chai Tea Latte mit Sojamilch in Kanistergröße und Bambus-Rührstäben so lang wie das Ruder einer venezianischen Gondel.
Das alles wird unter „Purpose“ gefasst, also einen wirklich relevanten (höheren) Zweck, den heutzutage eine Marke beinhalten sollte, will sie überhaupt noch für die Öffentlichkeit relevant sein. Der Zweck des Tisches an dem ich gerade diesen Text schreibe, ist es mir zu ermöglichen, meine wirklich gute „Pasta Arrabiata“ zu kredenzen oder aber eben Schriftgut zu erledigen. Manchmal sogar phantasiereiche Playmobil-Aufstellungen meiner Söhne zu ermöglichen, die später der Hauskater umreißt. Dieses Verständnis von „Purpose“ ist allerdings vollkommen fehlgeleitet und falsch – Sancta Simplicitas!
Denn dahinter steckt eine andere Überzeugung: Die Leistung eines Unternehmens selbst ist zutiefst austauschbar und daher nicht berichtenswert. Retten kann uns nur der „added value“, der inzwischen den Sendungscharakter von „Urbi et Orbi“ verdrängt hat. Zweck heißt ausschließlich eine ethische Zweckhaftigkeit. Der zutiefst ernsthafte Mensch der Hyper-Moderne will auch den Verzehr einer Runkelrübe mit Sinnhaftigkeit verknüpfen. Nicht die Sättigung steht im Vordergrund, sondern vor allem das sehr gute Gefühl, etwas überaus Richtiges zu denken und zu tun. Schließlich verdeutlicht jede Kaufentscheidung wie wir uns selbst sehen und gesehen werden wollen. Und wir sind besser, viel besser als alle zuvor.
Nun also dieses Virus. Eine herausragende Chance für viele Unternehmen und deren Kommunikationsabteilungen zu zeigen, was sie alles für die Allgemeinheit leisten. Beispielsweise stellen die Verkäufer (m/w/d) an den Kassenzonen „draußen im Lande“ (Zitat: Helmut Kohl) die Versorgung zuverlässig sicher. Ganz einfach, ganz simpel und so wichtig.
Wie saturiert und abgehoben können Marketingfachleute (m/w/d) in den altbaulastigen Vierteln der Metropolen eigentlich sein, wenn ihnen nichts Besseres einfällt, als einen (weiteren) rührenden Emotional-Spot im medialen Äther zu versenken. Aber schön ist es ja und „endlich mal etwas anderes, was die Menschen wirklich abholt …“ Dass alle in der identischen Emotionalboullion rühren, scheint nebensächlich. Dass ein Discounter gerade jetzt in dieser Ausnahmesituation eine einmalige Möglichkeit besäße, seine ureigenen Leistung für die Menschen emotional darzustellen und damit echte Resonanz zu erzeugen, macht die Sache noch absurder. Hauptsache kurze, heftige Effekte, die sich nicht unbedingt in der Kasse niederschlagen müssen, ist ja nur eine „Imagewerbung“ ist dann die akzeptierte Ausrede. Haben Sie einen einzigen der Emotionalspots der letzten Jahre dauerhaft mit einer Marke verknüpft? Falls ja: Haben sie, weil sie bei dem von Saturn so geweint haben, sogleich dort einen neuen Dampfgarer und eine VR-Brille erstanden? Geht`s gleich morgen zu Penny, und werden sie jetzt nur noch dort einkaufen? Wenn es wirklich zählt, wenn es wirklich relevant wird, zählt stets einzig und allein die konkrete Leistung und kein Geheule.
In der Penny-Kampagne entstehen mit Sicherheit tolle Gefühle in jedem von uns, wie in jeder gut gemachten Emotionalkampagne (z.B. mit einem einsamen enkellosen Großvater an Weihnachten), aber die Orientierung, wofür die Marke Penny steht, nämlich für gute Produkte zu einem günstigen Preis, zentral erreichbar, ist zwar nicht prosaisch, dafür eine wirklich gute Leistung. Diese gilt es in der Kommunikation dezidiert herauszustellen und in Szene zu setzen.
Wahrer Gemeinsinn ist, wenn Kunden, Lieferanten und Rohstofferzeuger auf allen Ebenen für ihre Leistungen, einen adäquaten Gegenwert erhalten. Aber all dies beruht auf echter Arbeit. Es ist zwar traurig und klingt vielleicht spießig, ist aber nichtsdestotrotz nach wie vor wahr: Der entscheidende Purpose eines Unternehmens ist es, das Vertrauen von Kundschaft und erweiterter Öffentlichkeit in die eigenen Leistungen zu erhalten – und zwar primär durch richtig gute Leistungen, nicht durch Kommunikation. Dies zeigt Gemeinsinn, denn der beständige Kreislauf von Geld im Austausch gegen Vertrauen in die Qualität der Produkte sorgt dafür, dass der Unternehmer seine Angestellten bezahlen kann und Beiträge zum Gemeinwohl leisten kann, in Form von Steuern aber auch gerne darüber hinaus. Das ist weitsichtiger Gemeinsinn.
Prof. Dr. Oliver Errichiello/Dr. Arnd Zschiesche sind Gründer und Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung in Hamburg. Vor kurzem erschien ihr Buch „Marke statt Meinung“.