Folgender Satz von der Familientherapeutin Virginia Satir war in den letzten Wochen Nahrung für meine Seele: „Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die begrenzte Wahrnehmung anderer Menschen definiert.“
Da erzähle ich einer Kollegin, dass ich bei den Montagsspaziergängen in Mülheim „Für ein respektvolles Miteinander von Geimpften und Ungeimpften, für freie Impfentscheidung und gegen Diskriminierung“ engagiert bin. Und sofort spüre ich, wie ich von meiner Kollegin von oben herab als unsolidarischer Dümmling und Querkopf abgewertet werde. Dann folgt noch: „Darüber möchte ich jetzt gar nicht diskutieren.“ Selten ist es, dass ein Kollege nachfragt: „Oh, das ist für mich befremdlich. Aber das interessiert mich, warum du dich da engagierst. Erzähl mir doch mal von deiner Motivation.“
Aber der entscheidende Unterschied ist, ob ich meine Schubladen von anderen fest geschlossen halte und dadurch meine Menschenbeurteilungen in Stein meißele. Oder ob ich die Schubladen von meinen Mitmenschen halb geöffnet halte; immer wieder offen für neue Fragen, Wahrnehmungen und sogar Korrekturen.
Besonders schwer ist es, wenn Vorgesetzte oder andere Menschen, die Macht über uns haben, uns in ihre fest verschlossenen Schubladen stecken. Da droht der Erstickungstod. Bis in die engsten Familien hinein.
Darum dürfen wir es auf keinen Fall zulassen, dass wir deren Definitionen und deren begrenzte Wahrnehmung Macht über uns gewinnen lassen. Ein verbaler Schlagabtausch dagegen mag hin und wieder aus Gründen der Selbstachtung sinnvoll sein, bringt aber meistens nichts. Uns gelingt es nur selten, zubetonierte Vorurteile aufzubrechen. Aber wir können und müssen uns distanzieren: „Nein, ich füge mich nicht ein in diese Schublade. Nein, diese begrenzte Wahrnehmung ziehe ich mir nicht an. Nein, davon lasse ich mich nicht irre machen. Ja, ich bin mehr. Ja, ich bin viel mehr!“
Der Schriftsteller George Bernard Shaw soll einmal gesagt haben: „Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn ich zu ihm gehe, während alle anderen ihre eigenen Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten auch auf mich.“
Wohl auch den Menschen, die ihr Gottesbild nicht in Beton gegossen haben, sondern von ihm noch Überraschungen erwarten. Unser Land steckt in einer Krise der ideologischen Wahrnehmungsverengung. Da ist Hilfe von oben bitter nötig bei der Erweiterung der Perspektiven.