Gestern beim Discounter. Ich habe meine Waren auf das Kassenband gelegt. Da kommt hinter mir als nächste Kundin die Aktivistin Annalena Grün.
Sie nimmt heldenhaft-aktivistisch meinen Kakao vom Kassenband, hält ihn hoch und spricht laut und energisch durch ihre Maske hindurch: „Kakao gibt es hier bei Aldi auch fair gehandelt. Wie können Sie als Pfarrer nur diesen unfairen Kakao kaufen?“
Ich spüre, wie einige Kunden und Mitarbeiter neugierig die Augen zu mir heben. So ein öffentlicher Schauprozess bei Aldi scheint eine magnetische Anziehungskraft zu besitzen. Spannend. Hier am Kakao entscheidet sich Sein oder Nichtsein, hier entscheidet sich Kirche oder Heidentum, hier entscheidet sich Pfarrer oder Ketzer.
Was soll ich antworten?
„Ich habe sehr wohl einen achtsamen Lebensstil. Darum lassen Sie bitte Ihre moralinsauren Finger von meinen Einkaufssachen und kümmern Sie sich bitte um ihren eigenen Kram.“ Das wäre eigentlich eine gute, ziemlich passende Antwort, könnte aber vom Sprachduktus her für drei Kirchenaustritte sorgen. Geht also nicht; würde nur zu einer dienstrechtlichen Nachilfestunde bei meinem Vorgesetzten führen.
Vielleicht sollte ich es etwas witziger und intellektueller machen: „Sorry, ich kaufe keinen fairen Kakao, denn ich bin kein Fairisäer.“ Aber wer würde diesen subtilen Humor verstehen?
„Also, immer schön ehrlich bleiben, wie du es deinen Kindern beigebracht hast“, denke ich. Und ich antworte wahrheitsgetreu und laut und deutlich durch meine Maske hindurch: „Sorry! Mir schmeckt der unfaire Kakao einfach besser.“
Meine Ehrlichkeit ging voll in die Hose.
Entsetzt starrt mich Annalena Grün an. Und dann legt sie los.
„Wegen 10 Sekunden Geschmack in ihrem Mund muss das 14-jährige Mädchen aus Ghana 100 kg schwere Säcke tragen, während pausenlos Flugzeuge über dieses Mädchen hochgiftige Pestizide aussprühen…..“
Der Beginn einer Gardinenpredigt gefüllt bis an den höchsten Rand mit Weltschmerz, der selbst durch die FFP2-Maske hindurch nichts an Schärfe und Korrektheit verlor.
Ich bewunderte die Kassiererin. Die bleibt ganz cool und tut so, als würde sie nichts mitbekommen. Ich frage sie: „Wussten Sie eigentlich, dass Sie in Ihrem Betrieb Kinderarbeit auf den Kakao-Plantagen in Ghana unterstützen?“
„Damit habe ich nix zu tun. Ich bin nur Kassiererin.“
Ich gebe der Kassiererin großzügig Trinkgeld, oder besser gesagt Schmerzensgeld für den moralischen Overkill. Sie war in diesem Augenblick mein rettender Engel. Und dann machte ich mich ziemlich schnell aus dem Staub. „Führwahr, hier laufe ich, ich kann nicht anders.“
Draußen auf dem Parkplatz habe ich tief durchgeatmet. Ich klopfte mir innerlich auf die Schulter: „Gerade noch mal ohne schwere Blessuren rausgekommen aus der Nummer. Halleluja. Jetzt hast du eine Belohnung verdient.“ Und da fiel mir etwas Wohltuendes ein.
Das Beerdigungsinstitut vor Ort wirbt mit folgender Anzeige: „Unsere Stadt-Gesellschaft scheint politisch gespalten wie nie zuvor. Aber wenn Menschen zu uns kommen, dann spielt es keine Rolle mehr, zu welchem politischen Lager sie gehören. Wenn sie zu uns kommen, dann sind sie einfach nur noch Trauernde, für die wir da sein wollen.“
Was im nachhaltigen Aldi, was in den Medien, was bei Feiern mit Verwandten immer seltener wird, ja, was selbst in meiner Kirche oder auf dem Kirchentag kaum noch möglich ist – es gibt tatsächlich noch Orte in Deutschland, wo ich jenseits von politischen Lagerkämpfen einfach nur Mensch sein darf.