Goethes Faust hatte zwei Seelen in der Brust. Ich fühle mich beim Impfen noch zerrissener. Da sind die Stimmen der medizinischen, epidemiologischen, psychologischen, ethischen Argumente, die FÜR die Impfung sprechen. Doch da sind zugleich medizinische, epidemiologische, psychologische und ethische Argumente, die GEGEN die Massenimpfung sprechen. Obendrauf kommen noch Gründe, die FÜR die Politisierung der Covidimpfung sprechen. Jedoch zusätzlich mindestens genausoviele Gründe, die GEGEN die Politisierung der Impfung sprechen. Und mit jedem guten Artikel, den ich lese, kommen auf der einen oder anderen Seite noch Argumente dazu.
Otto von Bismarck bringt diesen Zusammenhang von innerseelischem und gesellschaftlichem Pluralismus genial auf den Punkt: „Faust klagte über die zwei Seelen in seiner Brust. Ich beherberge aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es geht da zu wie in einer Republik.“
Dieser Zank und diese Ambivalenzen im Seeleninneren und in der Gesellschaft sind gewiss nicht leicht auszuhalten. Aber ein Staat könnte diese Spannungen entschärfen durch einen konsequent liberalen Kurs: „Leute, unser gesellschaftlicher Streit ist wichtig und hilfreich. Diese Coviderkrankung ist so neu, dass wir noch gar nicht allzu Sicheres und allzu viel über dieses Virus und seine Mutationen sagen können. Die Gen-Impfung ist ebenfall neu und noch nicht genügend in Wirksamkeit und Nebenwirkungen erforscht. Seid bitte nicht so naiv zu meinen, dass man da schon nach 18 Monaten gesellschaftlich eine einheitliche Linie gefunden haben könnte. Darum zankt tüchtig und evidenzbasiert weiter. Das ist Wissenschaft, das ist Demokratie. Wir sind selber gespannt, wohin die Antworten in Zukunft gehen werden. Bis dahin wollen wir mit einigen grundlegenden Infektionsschutzgesetzen Vorsicht walten lassen. Und wenn die Covid-Skeptiker und die Covid-Hardliner mit diesen gesetzlichen Not-Maßnahmen im gleichen Maße unzufrieden (!) sind, dann haben wir bei den grundlegenden Infektionsschutzgesetzen die goldene Mitte gefunden auf dem Weg hin zu besseren Lösungen in der Zukunft, wenn unser Wissen über das Virus und seine Bekämpfung fundierter sein wird.“
Damit ist aus Otto von Bismarcks innererseelischer und gesellschaftlicher Vielfalt folgendes Credo geworden: „Wir beherbergen nur eine einzige Seele in unserer Brust. Es geht da zu wie im Totalitarismus.“
Dieser Totalitarismus spricht auch aus den Worten von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht: „Alle (!) Argumente und Fakten sprechen für die Impfung.“ Die fachfremde Bundesjustizministerin brandmarkt die kritischen Argumente von zum Teil hochkarätigen Fachwissenschaftlern als völlig unberechtigt. Alle Liebhaber der Wissenschaft, der Demokratie und des Rechtsstaates sollten die Alamrglocken hören.
Schneller als man denkt, geht in Systemen mit totalitären Zügen im Namen der Solidarität die Solidarität vor die Hunde. Schneller als man denkt, wird in totalitären Systemen im Namen des Gesundheitsschutzes die Gesundheit geschädigt, zumal wenn jetzt Altergruppen durchgeimpft werden, wo das Risiko durch die Impfung wesentlich höher sein könnte als das Risko durch das Virus.
Wie immer in der Geschichte kommt auch dieses Mal der Totalitarismus im Namen des Guten – als „Wissenschaft“, als „Freiheit“, als „Sieg über die Pandemie“, als „große Transformation“, als „das neue Normal“, als „Gesundheitsschutz“, als „Weltrettung“.
Vielleicht werden wir eines Tages sehnsüchtig an den guten alten Faust denken, der zumindest zwei Seelen in seiner Brust haben durfte.