In dieser Woche sind die Kirchenaustrittszahlen für das Jahr 2020 bekannt gegeben worden. Über 440.000 Mitglieder haben allein im letzten Jahr ihre evangelische oder katholische Kirche per Amtsgericht verlassen. Im Jahr 2000 verließen 318.000 Mitglieder die beiden Kirchen, 2010 waren es 326.000 Menschen. Es fällt auf, dass die Zahlen im langfristigen Vergleich nicht abnehmen, obwohl die Substanz der Kirche immer kleiner wird. Die Kirchenaustrittsdynamik nimmt also eher zu als ab.
Erstaunlicherweise habe ich in meinen 30 Jahren als Pfarrer noch kaum ernsthafte Diskussionen beim Pfarrkonvent zu diesem Thema erlebt. Irgendwie sind Kirchenaustritte der große Elefant im Raum der Kirche, den man achselzuckend und deprimiert zur Kenntnis nimmt, um dann doch wieder schnell zum „business as usual“ überzugehen. Und alljährliche offizielle Krokodilstränen, „wir sind traurig über jeden einzelnen, der uns verlässt“, sind gewiss nicht falsch, eröffnen aber keine neuen Perspektiven.
Hilfreicher finde ich es, die vier Hauptgründe zu betrachten, die mir begegnen, wenn Menschen die Kirche verlassen:
Der erste Kirchenaustrittsgrund: „Die Kirchensteuer ist mir zu teuer.“
Es gibt Wege, die geistliche Substanz zu stärken und gleichzeitig den Kirchensteuerhebesatz für die allgemeine kirchliche Grundversorgung zu senken, zumal sich lebendige Projekte jenseits der kirchlichen Grundversorgung durch freiwillige Spenden tragen können.
Der zweite Austrittsgrund: „Ich glaube nicht mehr an Gott.“
Die Krise des Gottesbegriffs ist für den christlichen Glauben nicht neu. So sagt Paulus im Korintherbrief (1.Kor 1,23): „Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit.“ Gegen die Krise des Gottesbegriffs können Christen nur immer wieder mit Kopf und Herz auf den Schatz ihrer Gottesbeziehung hinweisen. Genau an diesem Punkt ist mir die Kirche oft zu schwach. Wenn Robert Habeck herablassend über Gott sagt: „Um zu glauben, habe ich wohl zu viele Philosophen gelesen“, dann erwarte ich auf einem Kirchentag, dass mit Habeck dort nicht nur über Klima diskutiert wird, was sowieso allerorten passiert. Wenn die christlichen „Theologen“ = „Gottesredner“ sowohl bei Atheisten als auch bei Muslimen nicht mehr brennend von ihrem Kernthema „die Beziehung zu Gott durch Jesus Christus“ reden, dann bedient die Kirche ihre eigene Abrissbirne.
Der dritte Austrittsgrund: „Die Missbrauchsskandale von Gottes Bodenpersonal widern mich an.“
Eine Kirche, die sich als moralisches Gewissen der Gesellschaft inszeniert, wird durch den Missbrauchsskandal mitten ins Herz getroffen. Priester im weißen Talar, als amtliche Stellvertreter Christi oberhalb der normalen Menschen, fallen durch den Missbrauchsskandal wie ein schlaffer Luftballon in sich zusammen. Gut, wenn ich einen schwarzen Talar tragen darf, der die Sterblichkeit und Begrenztheit von „Gottes Bodenpersonal“ eindrücklich vor Augen führt.
Der vierte Kirchenaustrittsgrund: „Die Kirchen sind mir zu politisch.“
Gottesdienste im Hambacher Forst, kirchliche Migrationsschiffe, links-grüne Weihnachtsgottesdiente und „Impfen ist Christenliebe-ARD-Wort-zum-Sonntag-Pharma-Propaganda“ – das kann sogar tiefgläubige Christen zum Kirchenaustritt zwingen.
Fazit: Kirchenaustritte werden mittlerweile nicht nur von Menschen vollzogen, die am Rande der Kirche stehen. Sie sind oft gut begründet. Sie sollten alle Kirchengremien dazu anregen, offen zu überlegen, wo eine stärkere Hinwendung zum göttlichen Fundament der Kirche notwendig ist und wo auf der anderen Seite mehr Freiheit, Weite und Kreativität zugelassen werden sollte.
„Von da an wandten sich viele seiner Jünger von Jesus ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm. Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt ihr mich auch verlassen? Da antwortete ihm Simon Petrus: Herr, wohin sollten wir gehen? Du alleine hast Worte des ewigen Lebens und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“
(Johannesevangelium 7,66-69)