Der christliche Glaube wird weltweit in tausenden unterschiedlichen Konfessionen gelebt. Diese Vielfalt ist ein großartiger Reichtum; aber sie ist auch ein Ärgernis, gerade wenn Christen sich gegenseitig wegen theologischer Kleinigkeiten vom Abendmahl als Sakrament der „Kommunion“ (= „Gemeinschaft“) ausschließen. Jesus wusste, warum er um die Einheit seiner Jünger gebetet hat: „Ich bitte auch für die, die an mich glauben werden, damit sie alle eins seien“ (Johannes 17,20f). Immer wieder haben Christen versucht, die Gräben zu anderen Christen zu überbrücken. Einer der bislang größten Versuche ist der „Ökumenische Rat der Kirchen“ (ÖRK) mit Sitz in Genf. Ihm gehören 352 Kirchen aus 120 Ländern an, die weltweit 580 Millionen Christen vertreten. Die römisch-katholische Kirche ist nicht Mitglied.
Alle acht Jahre kommt der ÖRK zu einer großen Vollversammlung zusammen. Dieses Ereignis findet vom 31. August bis 8. September 2022 zum ersten Mal in Deutschland statt; und zum ersten Mal seit 1968 wieder in Europa. Die Christenheit hat heute nicht mehr ein europäisch-dominiertes Gesicht. Über 800 Delegierte und über 4.000 Teilnehmer aus aller Welt werden in Karlsruhe erwartet.
Das Thema dieser Vollversammlung lautet: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt.“ Allein schon diese Themenformulierung bringt für mich drei gravierende Schwachpunkte vieler Kirchenäußerungen auf den Tisch.
Erstens: Kirchliche Selbstüberschätzung
Das Motto heißt nicht: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint Menschen“. Das Motto heißt auch nicht: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Kirchen“. Nein, solche Bescheidenheit kennt der ÖRK nicht. Wenn schon Versöhnung und Einigung, dann muss es die ganze Welt sein, und zwar sichtbar und fühlbar hier und jetzt in der Gegenwart. Also nicht erst in der zukünftigen Welt Gottes. Auch nicht verborgen unter dem Kreuz, nur im Glauben erkenntlich, was für die Offenbarung Gottes in Christus zentral ist und woran jedes christliche Kreuz immer wieder erinnert.
Der ökumenische Rat der Kirchen proklamiert mit selbstsicherer kirchlicher Allmachtsphantasie die Einigung der Welt. Eine gegenwärtige Einigung der Welt kann aber nur irdisch und politisch verstanden werden. Der Politisierung und Moralisierung des christlichen Glaubens ist damit Tür und Tor geöffnet.
Der ÖRK wagt solche hochtrabenden Aussagen, obwohl doch alle Welt sehen kann, dass selbst den Kirchen die Versöhnung und Einigung schwerfällt. Ein aktuelles Beispiel ist der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I., der Putin für ein „Wunder Gottes“ hält und der dafür von der weltweiten Christenheit nicht unbedingt versöhnt und vereint geliebt wird. Oder war es ein Beispiel für Versöhnung und Einheit, als Christen in Deutschland bei den Appartheidsgottesdiensten Heiligabend 2021 draußen bleiben mussten, weil sie zwar gesund getestet, aber nicht geimpft waren? Von den sexuellen Missbräuchen in allen Kirchen ganz zu schweigen. „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt“ – auf dem Hintergrund der Realität kann dieses Motto nur als Hohn verstanden werden, sofern man den Kirchen zumindest einen Zipfel der Liebe Christi zugesteht.
Zweitens: Kirchliche Floskelsprache
„Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt.“ Das hört sich alles sehr lieb und nett an: „Liebe Christi“, „bewegen“, „versöhnen“, „einigen“ und „Welt“, alles tolle Begriffe; da kann man eigentlich nur mit dem Kopf nicken. Doch die Satzkonstruktion in ihrer geballten, unkonkreten und abstrakten Fülle klingt in meinen Ohren blutleer, schwammig und phrasenhaft.
Nach vielen Jahren Theologiestudium und kirchlicher Arbeit bin ich vielleicht an diesem Punkt überempfindlich; denn auch wenn ich selbst oft genauso predigen sollte, dieser Kirchensprech hilft meines Erachtens nicht weiter.
Drittens: Kirchliche Harmonieliebe
„Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint.“ Ja, Kirche mag es gerne ohne Konflikte harmonisch vereint. So wie beim Rundfunk Berlin-Brandenburg, wo die Ex-Intentandin Patricia Schlesinger zusammen mit der Ex-Vorsitzenden des Kontrollgremiums, Pfarrerin Friederike von Kirchbach, über Jahre hinweg versöhnt und vereint die öffentlich-rechtliche Misswirtschaft verwalteten.
Harmonie hat man in der Wohlfühlkirche ebenfalls, wenn der Zeitgeist von einer übergroßen Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird und Kirche sich diesem dann satt in den Schoß legen kann, selbst wenn man an der einen oder anderen Oberfläche ein bisschen herumkritisiert, weil man ja auch ein kritischer Geist sein möchte.
Wenn ich auf Jesus Christus schaue, dann lese ich in den Evangelien erstaunlich andere Dinge:
Seine Angehörigen und seine Nachbarn hielten Jesus für „verrückt“: „Und als das die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten, denn sie sprachen: Er ist von Sinnen“ (Markus 3,21). Mit den Schriftglehrten und Pharisäeren war Jesus auch nicht so ganz versöhnt und vereint, als er ihnen ein Kapitel lang das „wehe euch, ihr Heuchler“ entgegenrief (Matthäus 23). Jesus machte sich so viele Feinde, dass bereits nach kurzer Zeit die Menschen harmonisch vereint riefen: „Kreuzigt ihn!“ (Matthäus 27,23).
Bei dem ökumenischen JESUS VON KARLSRUHE kommt mir im Tagungsmotto dieser JESUS VON NAZARETH zu kurz: Der Jesus, der im Kampf der Weltanschauungen sich friedlich und frei als Erlöser einbringt, selbst wenn Menschen dadurch in Streit und Zwietracht geraten. Die Beziehung zu Gott, die Jesus uns eröffnet, ist zu wichtig, um sie von kirchlichen Welteinigungsphantasien, Worthülsen und Harmoniesehnsüchten verdrängen zu lassen.