Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Seelsorge und Selbstfürsorge in turbulenten politischen Zeiten

Es gibt zwei bewährte Wege der Selbstfürsorge. Erstens: Selbstfürsorge durch kreatives Ausleben des politischen Ärgers. Zweitens: Selbstfürsorge durch einen erholsamen Ausgleich vom politischen Ärger. Dazu kann auch Beten gehören.

In der Seelsorge begegnen mir immer mehr Menschen, die politisch verärgert sind und die eine Faust in der Tasche haben. Während sie den Staat gerne mehr auf Distanz hätten, rückt dieser ihnen immer aufdringlicher auf die Pelle.

Wie können diese Menschen angesichts solch eines übergriffigen Staates ihren inneren Seelenfrieden bewahren? Wie können sie ihre Lebensfreude bewahren, ohne dabei ihre politische Unzufriedenheit verneinen, verleugnen oder verstecken zu müssen?

Folgende zwei Wege der Selbstfürsorge, die sich bei mir bewährt haben, könnten dabei hilfreich sein.

Erstens: Selbstfürsorge durch kreatives Ausleben des politischen Ärgers

Vorwort zum Sonntag
Lasst uns streiten, um nicht zu spalten!
Im Augenblick sind die Montagsspaziergänge für mich eine selbstfürsorgliche Ausdrucksmöglichkeit meiner politischen Unzufriedenheit. Unser Motto lautet: „Für ein liebevolles Miteinander von Geimpften und Ungeimpften. Für eine individuelle Impfentscheidung.“ Da treffe ich interessante Menschen; ich nehme mir jeden Montag vor, mindestens drei neue Leute kennenzulernen. Ich spreche Fremde an und erlebe eine große Offenheit. Vielleicht werden wir sogar mit dieser „Selbsthilfegruppe Montagsspaziergang“ darüber hinaus noch politisch etwas erreichen, denn wir haben viele kluge Köpfe und Argumente auf unserer Seite. Mittlerweile staune ich über mich selber, dass ich sogar bei strömendem Regen dabei bin. Bei solchem Wetter gehe ich aus meiner Komfortzone heraus und hinterher bin ich überrascht, dass ich überraschenderweise in einer neuen Komfortzone gelandet bin.

Eine Freundin von mir traut sich nicht in die Öffentlichkeit der Montagsspaziergänge. Sie aber hat jetzt ihrem Bundestagsabgeordneten einen tollen Brief geschrieben. Der Inhalt ist sehr freundlich gehalten, aber doch auch klar und entschieden. Bisher hat sie noch keine Antwort bekommen. Doch es geht ihr ja in erster Linie um Selbstfürsorge, um Seelenhygiene, um Selbstklärung der eigenen inneren verletzten Gefühle. Und es geht ihr um Selbstachtung, weil sie nicht mehr alles mit sich machen lassen will. Als ein Bekannter von ihrem Brief erfährt, ist dieser voll des Lobes über dieses Herausgehen aus dem Schneckenhaus. Das tat ihr gut. Eine überraschende Zugabe an Wertschätzung als ungewollte Nebenwirkung.

Vorwort zum Sonntag
Wir dürfen uns nicht von anderen definieren lassen
Wie können wir unseren Ärger positiv ausleben, damit er nicht von innen unsere Seele auffrisst? Ich bin davon überzeugt: Wenn wir den Ärger unserer Seele wahrnehmen, ernst nehmen und positiv annehmen, dann werden wir Wege finden, dieses kraftvolle Gefühl konstruktiv ausleben zu können. Und da muss jeder seinen eigenen Weg finden. Oder sich einfach anderen Initiativen anschließen. Etwa wenn wir alternative Medien lesen und unterstützen, dann schließen wir uns indirekt einer großen Demonstration gegen die großen Nebelmedien an. Auch das ist eine positive, kreative Transformation negativer politischer Gefühle. Jeder rhetorisch gute Artikel, der in Ausdruck und Inhalt anregt, kann über Freude an Sprache, Denken und Kunst unser seelisches Wohlbefinden stärken.
Zweitens: Selbstfürsorge durch einen erholsamen Ausgleich vom politischen Ärger

Wirklich mal ein paar Stunden oder auch ein paar Tage politisch fasten. Ein Bekannter hat alle politische Diskussion in seinem Haus auf das Wohnzimmer begrenzt, wo auch der Fernseher steht. Alle anderen Zimmer sind politikfreie Zone. Sein Motto: „Ich möchte nicht auch noch in der Küche von Karl Lauterbach belästigt werden.“

Vielleicht können wir diesen spannenden Ansatz sogar auf unser „Seelenhaus“ übertragen. Dort gibt es neben dem Zimmer der Politik noch viele andere Zimmer und Korridore, in die wir gehen können: die Seelenzimmer der Arbeit, der Hobbies, der Familie und Freunde, der Kunst, der Muße. Wahrscheinlich ist unser Seelenhaus sogar von einem schönen großen Garten umgeben.

Pflegen wir diesen Seelengarten, renovieren wir abgelegene Seelenzimmer, um dort neue Kraft zu sammeln, aufzutanken; um dort unsere Seele wieder aufblühen zu lassen.

Bibel-TV macht im Augenblick eine bundesweite Werbekampagne für das Seelenzimmer der Religiosität: „Ich bete, weil meine Seele dabei auftanken kann.“ Unser Seelenhaus ist wohl größer und vielfältiger als wir denken.

Kommt runter, Obere
Wenn politisch ungehörte Stimmen sich gesellschaftlich vermeintlich unerhört benehmen
Eine ganz alltägliche Hilfe zum erholsamen Ausgleich ist auch die Achtsamkeit. Wenn ich mein Frühstück langsam und achtsam esse, dann werde ich so mit Geschmacksfreude überflutet, dass politischer Frust dahinter verblasst. Achtsam aus dem Fenster schauen, achtsam für mein Gegenüber da sein, achtsam auf meinen eigenen Körper hören – ein schneller Weg zur Selbstfürsorge in jedem Augenblick.

Ich wünsche uns allen, dass wir in diesen turbulenten Zeiten diese Balance einigermaßen hinbekommen: Unseren berechtigten Zorn auf politische Missstände bewahren, ohne von diesem Zorn in der Seele aufgefressen und zerstört zu werden. Dabei tröstet mich mein Glauben, dass es jenseits von meinen eigenen Kräften noch einen guten Hausmeister für meine Seele gibt, der mir bei dieser Gratwanderung beisteht, selbst wenn ich mal auf der einen oder anderen Seite vom Weg abkomme.

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