Für jeden gottgläubigen Menschen stehen die Gebote seines Gottes über den Ordnungen und Richtlinien der Menschen. Das kann gar nicht anders sein. Ein „Gott“, der unterhalb menschlicher Gebote stehen würde, wäre kein Gott. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, dieser christliche Grundsatz gilt für alle Religionen (Apostelgeschichte 5,29).
Wenn Friedrich Merz es nicht akzeptieren will, dass für einen Teil der Muslime die Scharia über dem Grundgesetz steht, dann offenbart er damit eine erstaunliche Unkenntnis und Naivität gegenüber echter Religiosität. Viele im säkularen Westen haben keinen inneren Zugang mehr zu traditionellen Religionen und ihren Anhängern.
Scharia bedeutet „Weg zur göttlichen Wasserquelle“. Für traditionelle Muslime können die Menschenrechte oder das Grundgesetz nur in den Passagen akzeptiert werden, die der Scharia nicht widersprechen.
Da das deutsche Grundgesetz zum großen Teil von Christen verfasst wurde, ist es logisch, dass christlicher Glaube und Grundgesetz miteinander kompatibel sind:
- Die Trennung von Staat und Kirche passt zu dem Jesuswort „mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36).
- Das Gewaltmonopol des Staates, auch wenn der Staat unchristlich ist (vgl. Römer 13), passt zum Gebot Jesu an seine Jünger, im Bereich des Glaubens gewaltfrei zu leben (Matthäus 26,52).
- „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (GG Art. 1) gilt bei Jesus auch gegenüber denen, die wie der „verlorene Sohn“ aus menschlicher Perspektive gescheitert sind (Lukas 15,11-24).
Das Grundgesetz lebt von Voraussetzungen, die es selber nicht garantieren kann. Die Botschaft des Evangeliums stärkt die Voraussetzungen, auf denen das Grundgesetz gedeihen kann.
Logischerweise ist der Islam weniger kompatibel mit dem Grundgesetz, da kein Muslim an der Verfassung des Grundgesetzes beteiligt war:
- Die Trennung von Staat und Religion passt nicht zum traditionellen Islam.
- Das Gewaltmonopol des Staates kann in Konflikt zum Islam geraten, weil Muslime das Recht haben, ihren Glauben zur Not mit Gewalt zu verteidigen und zu stärken.
- Die „körperliche Unversehrtheit“ als Grundrecht (GG Art. 2) passt nicht zur muslimischen Beschneidung, die ein körperlicher Eingriff ist, der nicht aus gesundheitlichen Gründen an den unmündigen Söhnen vollzogen wird.
- Die Betonung der irdisch-gleichrangigen Würde aller Menschen (GG Art. 1) passt nicht zur muslimisch-irdischen Hierarchisierung der Menschheit von der muslimischen Umma ganz oben über die „Schriftbesitzer“ (Christen und Juden) bis hin zu den Atheisten am Ende der Skala.
Je stärker und korantreuer Muslime in Deutschland ihren Glauben betonen, desto stärker erwacht damit eine Kraft, die potentiell in Spannung zu unserem Grundgesetz steht.
Damit unser Grundgesetz weiter die Spielregeln in unserem Land bestimmen kann, bleiben darum meines Erachtens folgende Optionen:
Erstens: Deutschland begrenzt die Zuwanderung von Muslimen, damit die Anzahl der traditionellen Muslime nicht eine Größenordnung erreicht, die die Kraft hat, die deutsche Gesamtgesellschaft weg vom Grundgesetz driften zu lassen.
Zweitens: Es gelingt den Liebhabern des Grundgesetzes, möglichst viele Muslime von der Weltsicht zu überzeugen, Staat und Religion zu trennen zugunsten eines gleichberechtigten und friedlichen Zusammenlebens unterschiedlichster Religionen und Weltanschauungen. Auf die Unterstützung von grünen Sozialisten, die selber ihre Ethik religiös überhöhen und mit dem Staat verschmelzen, können die Liebhaber des Grundgesetzes dabei nicht setzen.
Drittens: Die muslimische Welt ist imstande, theologisch aus sich heraus einen säkular-kompatiblen Islam zu entwickeln und auch in der breiten Masse der Muslime zu etablieren. Es ist die Frage, ob der Islam zu einer solchen Neuinterpretation der Scharia in seinen heiligen Schriften die überzeugenden Anknüpfungspunkte findet. Nur wenn es solche starken Anknüpfungspunkte im Koran und in den Hadithen gibt, könnte eine „Reformation des Islam“ als „Zurückformung des Islam“ in die alte bewährte Form gelingen. Bisher haben sich im Islam in seiner 1400-jährigen Geschichte solche Interpretationen nicht durchgesetzt.