Der 31. Oktober ist „Reformationstag“. Der Mönch, Theologieprofessor, Querdenker und Medienprofi Martin Luther soll an diesem Tag seine 95 Thesen zur Reformation des christlichen Glaubens an die Tür der Wittenberger Schlosskirche genagelt haben. Das war im Jahr 1517, am Vorabend des großen Feiertags „Allerheiligen“. Große Öffentlichkeit war damit garantiert.
Doch jenseits aller historischen Einzelheiten möchte ich es wagen, den reformatorischen Kerngedanken mit einem einzigen Satz in die Moderne zu übertragen:
„Ich darf in schmerzlicher Heiterkeit und Fehlerfreundlichkeit bruchstückhaft leben, weil liebevoll aufgehoben in Gott durch Jesus Christus“.
Allein schon unser Leib ist durch Krankheit, Behinderungen und Tod zur Bruchstückhaftigkeit verdammt; Luther, der Großmeister der deutschen Sprache, konnte seinen eigenen Leib als „stinkenden Madensack“ bezeichnen. Nicht um Körperlichkeit abzuwerten; Luther war ein sinnesfroher Mensch der Musik, des Essens und Trinkens, der Sexualität und der Lebensfreude. Aber er wusste bei alledem zu gut um die Bruchstückhaftigkeit seines Leibes und seiner Gefühle, die bei ihm viele depressive Phasen kannten.
Auch unser Wissen ist bruchstückhaft. Martin Luther hatte wunderbare Erkenntnisse; aber Luther hat nicht nur über die Bauern und die Juden abgrundtief Diabolisches geschrieben. Die gegenwärtige Cancel-Culture möchte Luther deshalb vom Sockel stoßen. Alles Bruchstückhafte will die Cancel-Culture ausradieren. Diese rücksichtslosen Säuberungen im Namen der Reinheit und des politisch korrekten Heiligen führen aber leider nicht nur zur Zerstörung von Straßenschildern und Denkmälern, sondern zur Zerstörung des Lebens an sich. Denn das Leben und die menschliche Geschichte sind nicht heilig, sondern bruchstückhaft.
Die gegenwärtige mediale und politische Impfpropaganda kennt keine Abwägung, keine Ambivalenzen, keine Dilemmata, sie kennt keine Bruchstückhaftigkeit. Da gibt es nur die eine, reine, heilige Meinung. Die Impfpropaganda ist damit der Versuch, der Bruchstückhaftigkeit des Lebens auszuweichen und Ganzheit und Vollkommenheit zu erzwingen, die es aber nur im Göttlichen gibt. Die gegenwärtige Impfideologie ist darum eine religiöse Kampagne.
Bruchstückhaft leben zu müssen, das ist etwas sehr Schmerzliches. Und darum ist die Versuchung groß, der Bruchstückhaftigkeit des Lebens durch vermeintliche Heiligkeitsideologien auszuweichen.
Die reformatorische DNA verwirft aber genau diese menschlichen Heiligkeitsbestrebungen. Statt dessen feiert sie das „Evangelium“ (= die frohe Botschaft): Gott hebt mich auf aus dem Schmerz meiner Bruchstückhaftigkeit und drückt mich an sein heiliges Herz. „Allein aus Gnaden“, so jubelt Luther. „Vergnügt, erlöst, befreit“, so jubelt Hanns-Dieter Hüsch, der im Glauben verwurzelt in schmerzlicher Heiterkeit bruchstückhaft gelebt hat.
Aufgehoben in Gottes Liebe kann ich getrost die Bruchstückhaftigkeit, die Gebrochenheit, die letzte Sinnlosigkeit des Lebens ertragen, ohne ihr ausweichen zu müssen in totalitäre Ganzheitssehnsüchte.
Aufgehoben in Gottes Liebe kann ich vergnügt, erlöst, befreit an der kleinen Verbesserung der Bruchstückhaftigkeit des Lebens arbeiten, ohne mit meinen Klimmzügen nach Heiligkeit und Vollkommenheit mehr Schaden als Nutzen anzurichten.
Das ist die „EVANGELISCHE“ = die tröstliche, die fröhliche, die aufbauende Seite der Reformation. Doch darin wurzelt gleichzeit auch die „PROTESTANTISCHE“, die offensive, die rebellische Seite der Reformation.
Im reformatorischen Kern steckt nämlich der Protest gegen alles, was die Bruchstückhaftigkeit des Lebens nicht wahrhaben möchte, und sich statt dessen selbst Absolutheit, Reinheit und Heiligkeit anmaßt, und damit mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Protest gegen den Ablasshandel, bei dem man meint, sich mit Geld in heilige Sphären hineinkaufen zu können. Protest gegen allen Moralismus, der die Bruchstückhaftigkeit aller Moral nicht wahrhaben möchte. Protest gegen Kirche und Kirchenfürsten, die sich mit Unfehlbarkeitsansprüchen und vermeintlicher Amtsautorität schmücken. Protest gegen politische Programme, die sich selber als alternativlos sakralisieren. Protest gegen „die Wissenschaft“, die den Zweifel und die Falsifikation aufgegeben hat und die damit zum unwissenschaftlichen Diktator der Wahrheit geworden ist. Protest gegen Bilder und Inszenierungen, sofern diese für sich göttliche Würde beanspruchen und einen offenen Diskurs abwürgen.
Das sind die zwei Seiten der Medaille Reformation: Die tröstliche, „evangelische“ Seite, dass unser bruchstückhaftes Leben nicht verloren ist, sondern „allein aus Gnade“ und „allein im Glauben“ und „allein durch Christus“ in Gott aufgehoben werden kann. Dann aber auch die „protestantische“ Seite, die gegen alles rebelliert, dass sich mit eigener Anmaßung aus der Bruchstückhaftigkeit in die Sphäre der Heiligkeit hineinlügt und damit die Selbsterlösung an die Stelle Gottes setzt.
In dem „Vorwort zum Sonntag“ bei Tichys Einblick versuche ich als Christ beide Seiten der Reformation zum Zuge kommen zu lassen: auf der einen Seite der Protest gegen zeitgeistliche Phänomene innerhalb und außerhalb der Kirche, die die Bruchstückhaftigkeit des Lebens mit unmenschlichen-allzumenschlichen Absolutismen zu überwinden versuchen. Das geht wunderbar zusammen mit allen Menschen aller Weltanschauungen bei Tichys Einblick, die aus ihrem jeweiligen Hintergrund ebenfalls Protestanten gegen die Verabsolutierung des Relativen sind.
Auf der anderen Seite möchte ich auch immer wieder den Trost und die Frohe Botschaft in meinen Texten ins Spiel bringen, die mich tragen und die mir die Kraft schenken, den Irrsinn dieser Welt zu ertragen. Das geht ebenfalls zusammen mit allen Menschen aller Weltanschauungen bei Tichys Einblick, die wissen, dass das heitere Ertragen der Bruchstückhaftigkeit des Lebens eine tiefe innere Kraftquelle braucht.