Sexueller Missbrauch war und ist weiter verbreitet, als viele Menschen wahrhaben wollen. Untersuchungen weisen darauf hin, dass bis zu 10 Prozent der Bevölkerung schwere Missbrauchsübergriffe am eigenen Leib erleiden mussten.
Sexuelle Gewalt geschieht häufig im familiären Umkreis, in christlich, atheistisch, muslimisch oder sonstwie geprägten Familien und Verwandschaften. Darüber hinaus in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft:
- in Sportvereinen,
- am Arbeitsplatz,
- an Schule und Universität,
- in buddhistischen Gemeinschaften,
- im psychotherapeutischen Kontext,
- in stationären Einrichtungen aller Art,
- in Moscheen und Kirchen.
Es besteht die Versuchung, diese traumatischen Erlebnisse unter den Teppich zu kehren. Ein kleiner Anteil an Tätern oder Opfern kann sich bewusst überhaupt nicht mehr an die Ereignisse erinnern. Zumindest an der Oberfläche scheint dann Verdrängung und Verleugnung zu funktionieren. Doch das Unterbewusste lässt sich nicht täuschen.
Auch gesellschaftlich besteht eine mehr oder weniger verständliche Tendenz, sich lieber nicht mit diesem üblen Thema beschäftigen zu müssen. Gerade Kirche mit einer harmonieorientierten Kultur der Kritikunfähigkeit tut sich schwer mit der Aufklärung von Missständen. Die Verweigerung bei der Aufarbeitung ist allerdings ebenfalls verletzend, was zu einer erneuten Traumatisierung der Opfer beitragen kann.
Gegen alle Kräfte des Stillschweigens ist in den letzten Jahrzehnten die Sensibilität und Sprachbereitschaft beim Thema sexualisierter Gewalt gewachsen. Dazu haben maßgeblich die Selbsthilfeinitiativen von Betroffenen beigetragen. Mit oft jahrzehntelangem Kämpfergeist sind sie für ihre wichtigen Anliegen eingetreten. „Heilung durch Erinnerung“ ist ein langer persönlicher und gesellschaftlicher Prozess.
Die Betroffenen haben bisher einiges erreicht: Personalakten von Mitarbeitern, bei denen der Vorwurf eines sexuellen Missbrauchs im Raum steht, dürfen nicht nach den üblichen Aufbewahrungsfristen vernichtet werden; bereits im Kindergarten werden Mutmachkurse durchgeführt „Mein Körper gehört mir – ein Nein ist ein Nein“; einige Entschädigungszahlungen sind geflossen.
Es muss erwähnt werden, dass es auch Selbsthilfegruppen für Menschen gibt, die unberechtigter Weise des sexuellen Übergriffs beschuldigt werden. Falschverdächtigungen bringen ebenfalls schwerwiegende soziale und psychische Folgen mit sich. Machtmissbrauch als menschliche Konstante ist ein hochkomplexes und hochdiffuses Phänomen.
Viele katholische Bistümer hatten sich aufgrund bekanntgewordener Missbrauchsfälle in den eigenen Reihen dazu bereiterklärt, Untersuchungen ihrer Mitarbeiter durch externe neutrale Gutachter durchzuführen. Der Druck auf die katholischen Kirche ist enorm. Sie ist in unserer Gesellschaft wegen der Zölibatsforderung gegenüber ihren Priestern und wegen ihrer konservativen Sexualmoral ein beliebtes Ziel vermeintlich progressiver Kritik. Die katholische Kirche bietet sich als idealer gesellschaftlicher Sündenbock beim Missbrauchsthema an. Wenn man mit dem Zeigefinger auf die Verbrechen der anderen, der vermeintlich Sexuell-Rückständigen zeigen kann, dann braucht man sich nicht mit den eigenen dunklen Seiten zu beschäftigen.
Jetzt hat sich auch die Evangelische Kirche in Deutschland mit all ihren Landeskirchen freiwillig einer breit angelegten Untersuchung durch externe Gutachter unterzogen („ForuM-Studie“). Dabei ging es ab 1946 nicht nur um Pfarrpersonal, sondern auch um hauptamtliche und sogar ehrenamtliche Mitarbeiter.
Die evangelische Kirche hatte sich bisher tendenziell als die bessere Kirche gefeiert, die weniger Missbrauchsdreck am Stecken habe als die katholische Kirche. Das ist bereits im Ansatz eine tückische Haltung, die nicht zu einer offenen Wahrnehmung führt, sondern zu Vertuschungen, um das eigene abgehobene Selbstbild aufrechterhalten zu können. Geblendet von der Sonne der Selbstgerechtigkeit vermag man nicht mehr die Missstände bei sich selbst erkennen.
Die Ergebnisse der Studie für die evangelische Kirche sind niederschmetternd. Mindestens 2225 Kinder und Jugendliche waren betroffen. Zwei Drittel der Täter waren bei ihrer Ersttat verheiratet. Sexueller Missbrauch ist nicht nur in einer Kirche mit Zölibat ein Problem.
Doch diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs, denn der Koordinator der Studie, Prof. Martin Wazlawik, kritisierte die verzögerte und unvollständige Bereitstellung der Akten. Die neue EKD-Ratsvorsitzende, die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, stimmt dem zu: „Klar ist: Wir haben täterstützende Strukturen.“ Der Personaldezernent der rheinischen Landeskirche sieht das anders. Man hätte ihm nur sagen müssen, wo er die LKW-Ladungen an Personal-Aktenordnern hätte hinbringen sollen.
Für mich bleibt ein dreifaches Zwischenfazit:
Erstens: Es findet meine Achtung, dass die beiden großen Kirchen dieses Thema angehen und versuchen, auch weit rückwirkend für die Vergangenheit Licht in die Dunkelheit zu bringen. In meiner rheinischen Landeskirche werden mittlerweile alle hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter verpflichtend zum Thema geschult und sensibilisiert. Bei Verdachtsfällen gibt es eine differenzierte Handlungsanweisung als verbindlichen Leitfaden.
Zweitens: Es muss besser werden mit der Aufarbeitung. Alle Kirchenfunktionäre betonen immer wieder, wie wichtig ihnen das Thema sei. Doch die Kritikpunkte der Betroffenen und die neue Studie zeigen, dass die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs ein hochdiffiziler Prozess ist mit dem Teufel im Detail.
Drittens: Unsere Gesellschaft sollte es sich nicht zu leicht machen, indem sie nach diesen Kirchenuntersuchungen empört und pharisäisch mit dem Zeigefinger auf die Kirchen zeigt. So kann man es schon im Kindergarten lernen: „Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, der zeigt mit drei Fingern auf sich selber.“ Sexueller Missbrauch und seine Vertuschung ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.