Der linke Antisemitismus gibt sich israelkritsch. Sicherlich ist Israelkritik wichtig und berechtigt. Israel als pluralistische Demokratie von orthodoxen Juden über die Regenbogen-Community bis hin zu arabischen Parteien in der Knesset lebt von der Streitkultur, lebt von Kritik, Gegenkritik und Weiterentwicklung. Und doch gibt es Alarmsignale, wenn sich berechtigte Israelkritik in destruktiven Antisemitismus verwandelt.
Erstens: Antisemitische Israelkritik misst mit zweierlei Maß.
Man kann nicht Israel einen „Apartheidsstaat“ nennen, wenn man nicht mindestens genauso Gaza oder andere muslimische Länder „Apartheidsregime“ nennt. In Israel gibt es 2,1 Millionen Araber mit israelischem Pass (ca. 21 Prozent der Gesamtbevölkerung). Sie haben das aktive und passive Wahlrecht. Abgesehen von den sicherheitsrelevanten Bereichen leben sie gleichberechtigt in Israel. Gaza und andere muslimische Staaten dagegen sind bewusst und staatsgewollt „judenrein“, was wohl weit mehr der Apartheid entspricht.
Zweitens: Antisemitische Israelkritik argumentiert nicht rational-reflektiert, sondern manipuliert mit antisemitischen Unterstellungen.
Die Tagesschau spricht von „Vergeltungsschlägen Israels“ (zum Beispiel am 10. Oktober 2023). Damit unterstellt man Israel, dass es dem Land bei seinen Militärschlägen nicht um die Zerstörung der Hamas-Infrastruktur oder um Abschreckung gegenüber weiteren Gräueltaten gehe. Der Begriff „Vergeltung“ suggeriert, dass Israel aus niederen Rachegefühlen handelt. Vielleicht spielen im Hintergrund antijudastische Vorurteile mit, nach denen das Alte Testament einen Gott der Rache und Vergeltung vertrete gegenüber dem neutestamentlichen Gott der Liebe und Barmherzigkeit. Aus diesem antisemitischen Ressentiment heraus wird verständlich, warum viele Medien in dieser Woche leichtfertig und ungeprüft die Hamas-Propaganda übernommen haben, dass Israel mit Raketen ein Krankenhaus in Gaza angegriffen habe.
Drittens: Antisemitische Israelkritik jongliert mit vorschnellen Verschwörungsspekulationen.
So schreibt Albrecht Müller in den „Nachdenkseiten“ (10.10.2023): „Man kann davon ausgehen, dass Israel die Vorbereitung auf die Angriffe aus dem Gazastreifen wahrgenommen hat. Israel hat diese Vorbereitungen und dann auch die palästinensische Militäraktion vermutlich hingenommen, um nach den Angriffen einen weltweit publizierten und akzeptieren Grund dafür zu haben, im Gazastreifen aufzuräumen.“ Erstaunlich ist, dass Albrecht Müller die bestialischen Terrorakte der Hamas vom 7. Oktober 2023 als „Militäraktion“ adelt. Erstaunlich ist ebenso, dass Albrecht Müller es überhaupt nicht für nötig hält, seine wilden Spekulationen mit auch nur einem einzigen Beweis zu unterfüttern. Wenn Albrecht Müller seine wilden Hypothesen mit Fakten und Geheimdienst-Zitaten belegen könnte, wenn er belegen könnte, dass die Israelis über den Angriff informiert waren und sich auch der Größe und Tragweite des Angriffs wirklich bewusst waren, und wenn Albrecht Müller dann belegen könnte, dass Netanjahu sehenden Auges aus polit-taktischen Gründen die 1300 toten Israelis in Kauf genommen hat, um seine Macht zu stärken, dann wäre sein Artikel wahrlich gute und berechtigte Israelkritik, dann wäre sein Kommentar eine weltbewegende Recherche.
Wenn es aber lediglich seine Phantasien sind, wie er sich die Sache vom linken Elfenbeinturm aus mit allerlei Vorurteilen zusammenreimt, dann erinnert mich das an die Denke der rechten Antisemiten, die nach 1945 behauptet haben, die Zionisten ständen selber hinter dem Holocaust-Narrativ, um damit die Gründung des Staates Israel voranzutreiben. Nichts gegen eine gewagte Arbeitshypothese, in der man seinen niederen Gefühlen gegen die vermeintlich rechtsradikale Regierung Israels mit ihren vermeintlichen „ethnischen Säuberungen“ (Albrecht Müller) einmal ungezügelt freien Lauf lassen kann. Aber das sollte man nicht unbedingt ungeprüft veröffentlichen. Und das sollte man erst recht nicht als Analyse oder als „Israelkritik“ verkaufen.
In ihrer Anfälligkeit für antisemitische Verschwörungsspekulationen scheinen die linken den rechten Antisemiten in nichts nachzustehen. Es scheint eine unwiderstehliche Versuchung für Antisemiten zu sein, alle Angriffe auf Juden reflexartig als selbstverschuldet herbeizuschwabulieren. Für Antisemiten steht von vornherein fest: Die Juden sind die heimtückischen Täter, selbst wenn sie als Opfer am Boden liegen.
Die Grenzen zwischen Israelkritik und Antisemitismus sind fließend. Der linke Antisemitismus spielt genau mit dieser Grauzone. Vordergründig gibt sich der linke Antisemitismus als Meinungsvielfalt im Namen des demokratischen Diskurses. Doch bei genauem Hinsehen wird seine subtile und manipulative antisemitische Agenda sichtbar.
Zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland gehörte seit 1949 die Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des Holocaust. Diese deutsche Leitkultur bricht zusammen in dem neuen multikulturellen „Wir-schaffen-das-Deutschland“ mit seinem größeren Anteil an Muslimen. Eine öffentlichkeitswirksame Phalanx aus linken, rechten und muslimischen Antisemiten formiert sich. In Zukunft wird es dann wohl auch in den Sonntagsreden heißen, was mittlerweile schon längst gängige politische Praxis ist: „Deutschland steht an der Seite Palästinas und Israels.“ Damit können unter dem Banner der Menschenrechte und des Völkerrechts muslimisch-faschistische Terrorgruppen hofiert werden, die Israel das Existenzrecht absprechen. Die Geschichte des deutschen Antisemitismus schreibt schon jetzt an einem neuen Kapitel.